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Harald Birgfeld, Webseite seit 1987/ Website since 1987 …da
liegt mein Herz,
Geschichten aus
Niemandsland 2022 -2024 (im Entstehen) z.B.: 100
Jahre „Kafka“, eine herrenlose Fundsache (neu) |
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zu Olympia – olympische Spiele! |
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online und im Buchhandel |
Lyrik, Prosa und Ingenieurarbeiten |
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Harald Birgfeld
schrieb seine Geschichten,
Warten auf die
Anderen/
Pina Bausch, Nachruf/ und
Vom Sterben nach
dem Tod überwiegend während
der Fahrten in der Hamburger S-Bahn zur und von der Arbeit. Der Autor begegnet dem
neuen Phänomen, Trennung erster, zweiter und dritter Art. |
Warten auf die
Anderen /
Pina
Bausch, Nachruf /
Trennung erster, zweiter und dritter Art. Harald Birgfeld Jetzt direkt online bestellen sowie im Buchhandel, 104 Seiten, Format A5. €
5,99 inkl. MwSt. Zum Buchshop ISBN 9783744855884 „Trennung von B.“ ist auch in den USA,
Großbritannien und Kanada unter obiger ISBN
und bei abweichenden Preisen bestell- und lieferbar. Auch als E-Book, € 3,99 Zum Buchshop ISBN 9783744879170 |
Copyright 2017 beim Autor, Harald Birgfeld. Alle Rechte vorbehalten.
Harald Birgfeld, geb. in
Rostock, lebt seit 2001 in 79423 Heitersheim. Von Hause aus Dipl.-Ingenieur, befasst er sich seit 1980 mit
Lyrik. In mindestens 27 Anthologien
ist er vertreten. Alle derzeitigen Veröffentlichungen im Anhang.
Aus dem Gutachten, 1986, der an der Universität Freiburg
tätigen Germanistin, Gabriele Blod:
"Es lohnt sich, einmal einen heutigen Dichter kennen
zu lernen, der mit der deutschen Sprache einen faszinierend fremden Weg betritt
und trotzdem dem Leser Freiraum lässt für eigene Gedankengänge, ohne dass die
Probleme in erhobener Zeigefingermanier zu zeitkritischen Trampelpfaden
werden."
Birgfeld schrieb
überwiegend Gedichte, inzwischen mehr als 12.000 Strophen.
Herausgeber, Autor, Redakteur: Harald Birgfeld. Über
e-mail: Harald.Birgfeld@t-online.de
Warten auf die Anderen
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Inhaltsverzeichnis |
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Trennung erster Art.
Er fuhr schon sieben oder acht Jahre zur See. Er
hatte immer dasselbe Schiff gehabt und die Mannschaft war seit drei Jahren
gleich geblieben. Mal ging einer in Urlaub oder wurde krank, aber abgeheuert
hatte keiner in der Zeit.
Das Leben an Bord
war, bis auf kleine Unterbrechungen, recht eintönig. Die Wachen wurden
geschoben, man schlief, sobald es Zeit war und fütterte die Bordkatze, die
immer weglief, wenn man sie streicheln wollte. Wäre nicht die elende
Gewohnheit, dachte Alan, könnte man von Erholung sprechen. Von Sydney nach
Santiago. Wie lange wird es dauern? Ach, ist auch gleichgültig, wenn das Wetter
so bleibt, können wir uns freuen. Es wehte tatsächlich kaum Wind, und tagsüber
liefen fast alle ohne Hemd an Deck herum.
Es war noch sehr früh heute, vielleicht halb
vier. Alan hatte Wache, und um vier würde er abgelöst werden. Danach würde er
sich bis acht in die Koje lagen und später Frühstück machen. Aber erst einmal
schlafen. Er band sich seine Armbanduhr wieder um, die er immer auf das Pult
legte, um sie nachher nicht zu vergessen. Noch eine halbe Stunde.
Von Sydney nach Santiago, dachte er wieder,
quer über den Großen Ozean oder den Stillen Ozean. Kann wirklich sehr still sein.
Er empfand eine große Stille. Sein Ohr hatte sich schon so lange an die
Geräusche der Maschine gewöhnt, dass er sie nicht mehr wahrnahm. Selbst, wenn
er darauf achtete, wusste er manchmal nicht, ob er sie hörte oder nicht. Wie
das Ticken einer Uhr. Man horcht auf, hört's und hört's doch nicht. Noch eine
Viertelstunde, dann leg ich mich hin. Alan bewohnte mit Charles dieselbe
Kajüte. Sie waren Freunde, und sie vertrugen sich gut miteinander.
Charles hatte ein Radio an Bord und Bücher
waren auch da. Er sollte Alan ablösen und musste gleich kommen. Welch herrliche
Ruhe hier oben ist, dachte Alan wieder und welch eine Einsamkeit. Sein Blick
glitt über die Wellen zum Horizont und in die beginnende Bläue des Himmels und
wieder zurück auf das Wasser. Er tastete die ganze Fläche ab, kein Schiff,
keine Insel, nur Wellen, Wellen, Wasser. Er verfolgte die weißen Kämme, die
vereinzelt entstanden, eine Weile getragen wurden, um langsam zu verlöschen. Er
suchte sich eine Welle heraus und verfolgte sie, indem er sich krampfhaft an
sie heftete. Aber es waren so viele, und eine sah wie die andere aus. Es war
unmöglich. Seine Augen tanzten einmal von ihr fort und schon hatte er sie
verloren. Er gab das Spiel bald wieder auf, kontrollierte den Kurs und dann
hörte er die langsamen Schritte Charles', die ihm sofort das gelangweilte
Gesicht seines Bettgenossen vorzauberten. Die Tür ging auf, sie grüßten sich.
"Alles klar?"
„Alles klar!“
Alan verließ den Raum, sah noch durch das
Türfenster zurück und musste leise, lachen, als er ihn drinnen mit der
Klarsichtscheibe spielen sah.
Er ging die Stufen hinunter, und als er auf
Deck stand, bemerkte er nur die kleine Katze. Er ging zu ihr, und sie wartete
ruhig, bis er auf einen Meter vielleicht heran war, dann, als er sich bückte
und den Arm ausstreckte, um sie zu streicheln, bog sie sich geschmeidig zur
Seite, lief mit schnellen Pfoten an die Reling und leckte sich dort das Fell.
"Kleines Biest,“ murmelte er und ging an den Luken vorbei nach hinten.
Er trat an die Reling, beugte sich vorsichtig
weit nach vorne über, bis er das Gewicht seines Körpers nach beiden Seiten
gleichmäßig verteilt hielt, löste langsam die Füße, dann die Hände und
balancierte so, nur mit dem Bauch auf dem Eisen liegend, indem er die fast
gleichmäßigen Schiffsbewegungen mitmachte. Seine Arme zuckten manchmal zurück,
als brauchten sie doch einen Griff, dann knickte er zögernd wieder ein und
suchte mit den Fußspitzen den bekannten Halt. Als er sich kraftvoll, ohne die
Hände zu benutzen, abdrücken wollte, rutschten seine Schuhe ab, und er stürzte
lautlos ins Meer. Er tauchte tief ein. Das Schiff fuhr volle Kraft und als er
auftauchte, nur für den Augenblick eines Atemzuges, war er schon mehr als
hundert oder zweihundert Meter hinter dem immer kleiner werdenden Schiff. Ihn
erfassten die Wirbel der Schraube, er schluckte Wasser, ruderte wie besessen
mit den Armen und war plötzlich wieder im Licht.
Er keuchte und versuchte, sich entsetzt im
Wasser herumwerfend, das Schiff zu entdecken. Es war in seinem Rücken. Bevor er
es zu sehen bekam, war es schon so weit fort, dass er nicht einmal mehr seinen
Namen hätte lesen können. Ihn ergriff panische Angst, und ein fürchterlicher
Schrei entrang sich seinem Mund. Er stand fast im Wasser, seine Arme versuchten
in der freien Luft zu winken und schlugen das Wasser. Eine überkommende Welle
ließ ihn beinahe ertrinken, und er kämpfte nur um die Luft des nächsten
Atemzuges. Als er hochkam, nahm ein
einziger Gedanke von ihm Besitz. Die Kleider, du musst die Kleider ausziehen,
die Hose, die Schuhe, die Strümpfe. Ausziehen, ausziehen, hämmerte sein Hirn.
Er atmete bis ihn ein Schwindel erfasste, ließ sich schnell untergehen, zog die
Schuhe aus und die Strümpfe und knöpfte die Hose auf. Seine Arme begannen nach
oben zu rudern, und die Rose rutschte ihm bis zu den Füssen, wo sie wie eine
Fessel liegen blieb. Sein Herz jagte erneut von Furcht getrieben: Luft, Luft.
Die Füße konnten nur gemeinsame Stoßbewegungen ausführen, und er erkannte schon
beim zweiten Mal, dass das Heraufholen der Beine ebenso viel Schwung raubte wie
er durch den Stoß gewonnen hatte. So ließ er sie schlaff hängen, und nur mit
Hilfe der Arme erreichte er die Wasseroberfläche.
Gierig sog er, trank
er die Luft, und nun machten seine Beine doch irgendwelche Bewegungen, die ihn
an der Oberfläche hielten. Er dachte nur noch daran, seine Beine zu befreien,
aber er befahl sich selbst zuvor so viel Luft zu atmen, bis ihm erneut
schwindlig werden würde. Er wusste noch von früher aus den Tauchversuchen mit
seinen Schulkameraden, dass man es gleich nach dem Schwindelgefühl am längsten
unter Wasser aushielt. Sein Atem ging gezwungen gleichmäßig, bis er etwas
ruhiger wurde und seine Beine zu erschlaffen drohten, dann erst füllte er die
Lungen schnell hintereinander und ließ sich fallen. Es war ganz leicht, und er
kam, nur mit der Unterhose bekleidet nach oben zurück. Ihn packte neues
Entsetzen, als er die Hose etwa einen Meter unter sich treiben sah. Das Schiff.
Keiner war auf Deck gewesen und Charles? Doch Charles, bitte, bitte, Charles! Er
muss mich gesehen haben, sicher hat er mir zugesehen. Ganz sicher. Sie können
nur die Maschinen nicht so schnell stoppen. Charles. Charles muss mich gesehen
haben. Ich werde winken. Rufen! Nein, nicht rufen. Rufen nützt nichts. Dazu
sind sie schon viel zu weit. Aber winken. Ich muss winken. Womit? Die Hand!
Nein, ich muss doch schwimmen. Du musst mit einer Hand schwimmen! Aber mit der
Hand... Mit einer Hand.. Das sehen sie ja nicht. Mit der Hose! Wo ist die Hose.
Ich muss mit der Hose winken. Ich hab' sie doch eben noch gesehen. Unter mir.
Unter mir war sie. Er drehte sich, sah in das Wasser und konnte sie, jetzt noch
tiefer unter sich erkennen. Die Hose, nein. Die Unterhose und gleich danach:
das Taschentuch! Sein gejagter Geist klammerte sich an den Gedanken wie an die
Rettung. Mein Taschentuch ist in der Hose. Er war schon untergetaucht, hatte
sie erfasst und zog sie mit nach oben. Eine kurze Strecke schwamm er auf dem
Rücken, suchte die Taschen, griff in die Seide, die sich saugend um seine
Finger legte, holte das Tuch hervor, ließ die Hose achtlos fallen, drehte sich
um und blickte nach dem Schiff. Er drehte den Kopf, um es zu sehen, und es war
in seinem Rücken. Ihn trug der Kamm einer Welle, und er warf sich herum, indem
er ruckartig das Tuch schwang, welches sich vor Nässe immer wieder um seine
Hand legte.
Dann musste er die Hand zum Schwimmen
benutzen. Der Wellenberg glitt unter ihm dahin, nach vorne zu, und ließ ihn
langsam auf seinem Rücken abwärts gleiten. Das Schiff entschwand seinem Blick
und er schrie: Charles! Charles! Hört mich doch Hilfe! Hilfe! Hört mich doch,
ihr verfluchten Hunde! Oh. Gott! Bei allen Teufeln! Ihr müsst mich doch hören!”
Er spürte sein verzerrtes Gesicht, nachdem er das letzte hinausgeschrien hatte,
erkannte seine namenlose Angst und machte sich neuen Mut. Sie werden die
Maschinen gestoppt haben. Sie werden ein Boot aussetzen und mich holen. Hier
kann man doch alles auf dem Wasser erkennen. Sie sind ja noch so nah. Du
brauchst nur ab und zu zu winken. Ja, du musst nur winken, dann kommen sie. Sie
können mich doch nicht allein lassen. Das können sie nicht. Das ist doch
undenkbar, das gibt es einfach nicht. Stell dir doch vor, mitten im Ozean bei
schönstem Wetter und einfach weiter fahren. Das gibt es doch nicht. Du musst
nur winken, dass sie dich auch sehen, sonst hast du selber schuld. Wenn du
nicht winkst finden sie dich nie! Nie gibt es nicht! Nur winken. Immer, wenn du
oben bist, musst du winken.
Er spürte den sanften Aufschwung, der von
hinten kam, und sein Herz schlug ihm vor Aufregung im Hals. Sowie ich das
Schiff sehe, werde ich winken. Er stieg höher und höher und das Schiff lag
genau vor ihm. Sein Arm schlug aus dem Wasser, und er sah gar nicht hin, so
sehr war er überzeugt. Er schwamm auf der Seite, das eine Ohr in Wasser, und er
achtete weniger auf sein Winken als auf das drängende Rauschen in seinem Ohr.
Er konnte ohne große Mühe schwimmen, wie mit zwei Armen, und es beruhigte ihn
sehr, dass es so unerwartet leicht ging. Ihn trug bereits der dritte Berg, ohne
dass er sich nach dem Schiff umgesehen hätte. Die Wellen kommen immer von
hinten, dachte er. Ich schwimme direkt auf das Schiff zu. Ich mache ihnen die
Arbeit leicht. Sie werden nicht lange zu suchen brauchen. Ich brauche heute
auch nicht mehr zu arbeiten. Ich werde mich in die Koje legen dürfen und
schlafen, schlafen.
In dem nächsten Tal schwamm er wieder mit
beiden Armen. Die linke Hand hielt das Taschentuch umschlossen. Er erwartete
den kommenden Aufschwung, und das Schiff war klein und weit weg. Mein Gott! Die
linke Hand blieb im Wasser. Das Schiff fährt, es fährt weiter! Großer Gott!
Eine ohnmächtige Leere kam über ihn und schuf dort, wo er eben noch
die Hoffnung trug, die Überzeugung, ein unendliches Nichts. Von jeden Buckel,
der ihn langsam in die Höhe hob, ließ er seine Blicke nach dem davoneilenden
Schiff gleiten. Seine Augen waren so mit Traurigkeit, mit Mutlosigkeit gefüllt,
so willenlos waren seine Schwimmbewegungen, dass sich sein Ich von ihm
entfernte und ihn in Zeitlosigkeit zurückließ. Er trieb im Wasser, hielt die
Augen geradeaus, sah eine Wand, sah einen Punkt, sah eine grüne Ewigkeit, sah
hoffnungslose Vergangenheit. Das Unentrinnbare umklammerte sein Herz, ließ es
Stein werden, kalt, eiskalt, und er schmeckte nicht mehr das Salz des Meeres.
Sein Körper war eine ausgespülte Höhle, in
welche die Brandung schlug und nur den hohlen Klang erzeugte, nur das Nichts
wie einen Gong berührte. Dort lebte sein Feind. Das Allein, die Einsamkeit, saß
ihm in Nacken, hielt seinen Hals umklammert, schlug ihm schwer auf den Kopf,
drückte ihn nach unten, wollte ihn töten, vernichten, seines Ich berauben.
Seines Ich, das ihn liebte, lieben musste, schützte, schützen musste. Sein
Gegner war die Leere des Meeres, die allzu große Weite, die flüsternde Stimme,
der schmeichelnde Klang.
Du kannst ja deinen Schlaf bekommen, du
kannst ja alles bekommen, alles was du dir wünschst! Kannst du jetzt eine Frau
begehren? Kannst du Schönheit, Liebe begehren? Kannst du etwas anderes
verlangen außer Ruhe, sanftem Getragen sein, dem ewigen Schweigen? Der Tod ist
doch süß. Das ganze Leben war bitter und nun bietet es dir den Lohn an. Das ist
süßer Lohn! Nimm ihn dir, berühr mich, leg dich in meine Arme. Du wirst dich
vergessen, alles lieben und nichts begehren. Kannst du dir Schöneres wünschen?
Gibt es Besseres? Nur deine Arme. Gib mir deine Hand. Es geht leicht, und du
kennst alles genau. Du wirst keine Furcht haben, keine Angst. Bin ich nicht
das, was du suchst? Bist du nicht ich? Hindert dich nicht nur dein armseliger
Körper, diese lächerliche leere Höhle? Mach dich doch frei. Sei groß, sei ewig.
Nimm, nimm das Angebot. Greif zu. Jedem Leben wird nur eine Chance gegeben,
alles andere ist Zwang. Dies ist deine Chance. Nur einen Satz brauchst du zu
denken: nicht mehr sein! Sieh, wieg' ich dich nicht schon in meinen
Versprechen? Die Wellen sind meine Boten, meine Diener, deine Träger, dein
Verlangen. Sie schaukeln dich, damit du mir glaubst, damit du siehst, dass ich
dich wirklich liebe. Ich bin doch dein Ich! Ich spreche wahr! Komm, komm. Zweifelst
du noch? Du traust mir noch nicht? Hängst du etwa an der Verzweiflung, an dem,
der dir die Kehle schnürt? Komm zu mir, und er lässt dich frei. Wozu glaubst du
denn, bin ich geschaffen. Für euch! Für dich! Nur für dich. Zu deinem Guten.
Alles ist zu eurem Leiden bestimmt, nur ich bin das wahrhaftig Gute. Ich bringe
das Licht! Ich biete mich dir an und du zweifelst, zweifelst wirklich.
Sieh, wenn du mich rufst, komm’ ich nicht.
Wenn ich komme, rufst du mich nicht. Nur einmal komme ich, wenn du mich nicht
gerufen hast, aber mich brauchst. Ich komme freiwillig, weil du mich vergessen
hast, weil du nicht weißt um die Wärme, die von mir ausgeht, weil du nicht
weißt um die Geborgenheit, die du in mir findest. Vertrau dich den Boten an.
Lass einen Augenblick nur dir befehlen, ach, lass sie einen Augenblick dich
lenken.
Komm, komm...
Seine Beine wurden schwerer, seine Arme
langsamer, und er stand auf der Schwelle. Er taumelte nach vorn, fing sich nach
hinten, schwankte, schwankte und ging zurück, fort von dem Schmeichelnden.
Das Schiff war kaum noch sichtbar. Er spürte
den stärker werdenden Griff am Hals wie er ihn als Kind empfunden hatte, wenn
er weinen wollte, aber sich zwang, die Tränen zurückzuhalten. Mein Feind, mein
Tod. Es ist nicht das Wasser, vor dem ich mich fürchte. Das Wasser ist nicht
mein Tod, sondern unser beider Diener. Es trägt mich, ist friedlich und wartet
auf meine Schwäche, um mich fallen zu lassen. Mein Feind sitzt mir im Nacken
und wenn ich auf dem Rücken schwimm, hockt er sich auf meine Brust. Nein,
lieber im Nacken als auf der Brust, und er tauchte tiefer unter Wasser nur weil
er die Umspülung wie einen Schutz fühlen wollte.
Wieder weitete sich der Horizont. Das Schiff,
ein Punkt nur noch, an den er sich klammerte. Verlass mich nicht, bat er.
Bleibe dort, wo du jetzt bist. Mehr verlang ich ja nicht. Warte dort, ich
schaffe es zu dir. Ganz leicht schaffe ich es, du musst nur warten. Solange ich
dich sehe, gebe ich nicht auf.
Wenn ich nur immer vor den Wellen schwimme,
bist du gar nicht zu verfehlen. Ich schwimm direkt auf dich zu!
Ich darf mich nicht
umdrehen dachte er plötzlich, Hinter mir ist alles leer. Hinter mir ist das
Nichts. Ich darf nicht auf dem Rücken schwimmen, sonst seh ich das Nichts. Nur
zum Schiff darf ich blicken, nicht nach hinten. Aber er lockt mich so sehr.
Vielleicht ist ein anderes Schiff in deinem Rücken.
Nein hinter mir sitzt
Er!
Hinter dir ist ein
Schiff.
Ist es ein Schiff
oder das Nichts.
Soll ich mich
umdrehen? Vielleicht ein Schiff? Sein Herz begann zu jagen, und eine gewaltige
Kraft zerrte an seinem Kopf, der von dem Punkt am Horizont nach vorn' gerichtet
war. Es ist etwas in meinem Rücken! Wer ist es, was ist es!
Für den Bruchteil
einer Sekunde durchlebte er den Gang des Odysseus durch die Unterwelt, und er
hörte eine leise Stimme. Dann von vorne: mach dich nicht verrückt, verschon
dich doch vor diesem wahnsinnigen Spiel. Alles ist Einbildung. Dort ist das
Schiff, das siehst du, und hinter dir ist nichts. Nichts als Wellen und Himmel.
Und er hörte die leise Stimme hinter sich. Er konnte nicht mehr und sein Kopf
flog herum und ihm war als eile ein Schatten davon. Er sah wie der nächste Berg
auf ihn zu kam, hoch und erdrückend.
Er schien ihn töten,
überrollen zu wollen, wie ein aufsässiger Diener und hob ihn dennoch auf den
Kamm, wo er durch die weite Öde nicht einmal mehr erschreckt wurde.
Was hast du denn
erwartet? Ein Rettungsboot vielleicht? Ein Schiff? Dummkopf! Lässt du dich von
ihm narren? Merkst du nicht, wie er auf deiner Brust sitzt, wie er dir an der
Kehle sitzt, wie er von vorne ruft? Vom Schiff her? Er ruft! Er ruft von unten,
von vorne. Er ruft von dort, wo du ihn nicht sehen kannst. Er will, dass du ihm
nachhetzt, dass du ihn suchst. Er will, dass du dich umdrehst, ihn hier findest
und dort und dort und dort, bis du ihn unter dir suchst, und das ist deine
Schwäche. Die Wellen lassen dich fallen, deine Diener verraten dich.
Verschließe deine Ohren! Denke nichts mehr. Sieh nur das Schiff da vorn auf
dich warten und schwimm hin. Immer vor den Wellen. Nur schwimmen, nichts
denken, nur schwimmen. Und das Taschentuch? Meine Hand ist schon ganz
verkrampft. Jeden Muskel musst du lockern und lösen. Du muss so entspannt wie
möglich schwimmen, ganz leicht, wie vorhin, als du auf der Seite lagst. Nur das
Wasser hörtest du brausen oder war es mein Blut? Steck das Tuch in die Hose,
aber achte, dass du es nicht verlieren kannst.
Er lag auf dem Rücken. Halb unter das
Gummiband seiner Unterhose steckte er das Tuch, dass es festgeklemmt war.
Dann blickte er auf die Uhr. Ohne
festzustellen wie spät es war, folgte er nur dem Sekundenzeiger, der sich wie
zu jeder anderen Stunde drehte und drehte. Der Mensch ist nie verlassen, und
wenn es nur das Leben einer Uhr ist, das mit uns ist. Er liebte das kleine
Wunderwerk, das sorglos wie ein Kind zu spielen schien. Er dachte, der
Sekundenzeiger ist das Kind. Ein Kind voll Vertrauen, Es hat nichts weiter als
seine Spiele, und die sind seine Zeit. Die großen Zeiger werden wohl die Eltern
sein. Sie sind auch zufrieden und viel ruhiger. Sie achten nur auf ihr Kind.
Das ist ihre Welt. Eine gefahrlose, eine angstlose Welt. Ach, ich liebe euch
alle drei. Und mir habt ihr euch anvertraut. Das war dumm. Ich kann für nichts
mehr gerade stehen. Aber es freut mich, wenn ihr euch sicher fühlt bei mir. Ihr
seht mich nicht einmal an, so sehr seid ihr von mir überzeugt. Das ist gut. Ich
werde euch nicht enttäuschen. Euer Vertrauen verpflichtet doch. Sein Körper
entspannte sich so gut es ging.
Er schwamm mit beiden Armen und stellte dann
erst fest wie spät es war. Nach seiner Rechnung schwamm er etwa eine halbe
Stunde. Mein Gott. Wir lange soll ich das aushalten. Es ist wirklich sinnlos.
Wie soll hier je ein anderes Schiff herkommen. Innerhalb fünf Wochen oder
Monaten fährt vielleicht eines vorbei. Wahrscheinlich war unseres das erste,
das diese Stelle passiert hat. Es ist so sinnlos noch zu schwimmen. Warum lässt
du dich nicht fallen. Hab ich überhaupt noch eine Chance? Ich werde einmal alle
günstigen Möglichkeiten durchdenken. Die günstigste wäre, dass man mein Fehlen
an Bord bemerkt hat, nach mir sucht und umkehrt. Vielleicht ginge es auch noch,
wenn sie mich um fünf vermissten oder sagen wir halb sechs, denn später als in
einer Stunde kehren dien nicht mehr um, weil sie mich bestimmt verfehlen. Ach
was, ich rede schon wieder irre. Wer sollte wohl darauf kommen, mich vor acht
Uhr zu suchen. Kein Mensch. Wenn ich nicht beim Frühstück erscheine, kümmert
sich auch niemand darum. Wäscht sich wahrscheinlich oder etwas ähnliches werden
sie denken und es nicht laut erwähnen. Ich sage dir, die fahren weiter. Und
sollten sie es schließlich merken, ach, unter Umständen erfährt Charles es erst
heute Abend, und bis dahin…
Wenn das die günstigste Möglichkeit ist, habe
ich so gut wie keine Chance. Aber vielleicht kommt ein anderer Kahn vorbei.
Vielleicht! Ja. Ich hoffe, dass ein anderer Kahn vorbei kommt. Zufällig. Es
gibt die größten Zufälle! Nichts spricht gegen einen Zufall. Meine Chancen steigen
wieder. Ersten kann mein Kahn zurückkommen, und zweitens ein anderer
vorbeikommen. Was gibt es noch? Ich muss überlegen. Ob einer an Bord etwas von
mir wollte? Der Käpt'n oder irgendeiner? Nein, die wissen alle, dass ich Wache
hatte, und wer nach der Wache schläft, wird nicht gestört. Wenn ich wenigstens
auf etwas Schwimmendes stoßen würde, einen Balken, eine Bohle. Ich könnte die
Arme ausruhen. Auf jedem Berg muss ich Ausschau halten nach einen Stück Holz,
einer Kiste oder einem Fass.
Manchmal wirft man so etwas über Bord. Dann
werde ich meine Arme ausruhen. Als er daran dachte, die Arme nicht zu bewegen,
fiel ihm ein, dass er einen Krampf bekommen könnte. Ein Krampf im Arm ist nicht
schlimm, aber einer im Bein lässt dich untergehen. Hol dich der Satan! Meinst
du etwa, ich schufte mich hier ab, um mit einem Krampf zu ersaufen? Ich brauche
das Bein nur gerade zu machen und die Zehen nach der Nase zu biegen, wenn er
kommt. Ganz stark, und das Knie ausgestreckt halten. Ich muss mit einem Bein
schwimmen können. Er schwamm auf dem Bauch und hielt einfach ein Bein steif.
Also, das geht nicht. Ich muss mich umdrehen. Jetzt war das Linke steif, und es
ging nicht so schnell unter wie vorher, als er anders herum geschwommen war.
Ich muss oben bleiben. Wieder wollte er nur
mit einem Bein paddeln, aber das andere machte, steif wie es war, einfach
Schwungbewegungen noch außen und nach innen. Er sah beide Beine in gleicher
Haltung und die gleichen Bewegungen machen. Es hält mich über Wasser, obwohl es
sehr anstrengt. Oberhalb der Schenkel entstand ein Schmerz, der beide Beine
gleichermaßen ergriff. Als er zu stark wurde, drehte er sich herum und schwamm
normal weiter. Zwar halt ich's nur kurze Zeit aus, aber ein Krampf dauert ja
auch nicht ewig. Der Schmerz klang langsam ab und kam nur zurück, wenn er die
Beine zu sehr anstrengte, manchmal, wenn er sie zu weit ausschwang.
Bei jedem der Berge versuchte er, soviel Wasser wie nur möglich abzusuchen,
aber nichts Schwimmendes war zu entdecken. Du bist ein Feigling, sagte er
plötzlich laut zu sich. Ein großer Feigling. Du versteckst deine Gedanken vor
dir selber. Warum schimpfst du dich nicht aus. Warum schreist du dich nicht.
Warum sagst du dir nicht selber, das du alles treu und brav verdient hast! Treu
und brav mit deiner Dummheit verdient hast. Warum verfluchst du dich nicht!
Warum bist du noch nicht ersoffen, Feigling? Ersauf doch, lass dich doch unter
Wasser ziehen. Meinst du eine Dummheit, wie du sie auf der Reling vollbracht
hast, ist es wert, dass du auch nur eine Minute über Wasser bleibst? Er spürte
sein Gesicht heiß werden. Ja, werde nur rot. Schlag dich nur mit dem Wasser!
Arme und Beine wurden langsamer. Nur das
erste hatte er laut gesagt, das andere schrie ihm sein Innerstes zu, und er
schämte sich um so mehr. Seine Wangen glühten, es brannten ihm die Augen, und
das kam nicht vom Salzwasser. Dann gewahrte er sein langsames Untersinken und
mit jeher Heftigkeit bewegten sich Arme und Beine von Neuem. Im selben
Augenblick schrie er heraus, und seine Arme trommelten es auf das Wasser: Ich
will! Ich will leben! Leben! Ich will leben! Ich will! Wasser schlug ihm in den
Mund und in die Lunge. Er hustete, schluckte und keuchte. Seine Augen traten
hervor, und nur mühsam, bei den wildesten Bewegungen seiner Hände, die mehr in
die Luft griffen als in das Wasser, kam er wieder zu sich.
Das darfst du nicht wieder tun, darauf wartet
er nur. Bleibe ruhig, ganz ruhig. Denk an andere Dinge, an Bäume, an Frauen,
denk an Sydney. Er dachte an die große Dummheit. Dann wieder, ich bin dir nicht
mehr böse, nur, wenn ich mir vorstelle, wo ich jetzt bin und wie lange ich noch
hier bin, während ich in der Koje schlafen könnte, wird mir elend. Nein, nicht
daran denken. Ein tausendfacher Feigling will ich sein, wenn ich nur wieder
herauskomme. Ich will hier wieder raus! Tränen drängten sich in die Augen. Ich
will aber nicht weinen. Und ich bin kein Feigling, auch wenn ich weine. Ich
kann nicht mehr! Ich kann nicht mehr! Unaufhaltsam flossen die Tränen. Er rief
seine Mutter und nur ihr Name war da. Ihren Namen zu sprechen und dabei weinen
zu dürfen, war ihm ein unendlicher Trost. Noch einmal flüsterte er das
geheimnisvolle Wort, dann versiegten die Tränen, und er war so sehr
erleichtert. Die Gedanken an die Dummheit waren fort und auch daran, dass er,
er der kleine Mensch, in diesem Meer, in diesen All der Verlorenheit sein
bisschen Leben zu retten suchte.
Der Gedanke an seine Mutter zauberte die
Erinnerung, und er glaubte ihr Streicheln zu fühlen. Ihre Hand glitt über sein Haar
und über die Wange und wieder und wieder, und sein Kopf lag in ihrem Schoß.
Einmal sah er ihr Gesicht, gütig, jung und lächelnd, sonst waren nur ihre
Liebkosungen. Sie tröstete ihr Kind mit so viel Liebe wie es ihr wohl nie in
Leben gelungen war. Ihre Ruhe ging auf ihn über, und er schwamm und schwamm und
schwamm. Gleichmäßig waren seine Züge und sein Atem, und er schämte sich nicht
geweint zu haben.
Das Schiff war am
Horizont verschwunden. Als er das bemerkte, dachte er, ich schere mich herzlich
wenig um meine Chancen. Ich schwimme immer vor den Wellen her. Genau vor den
Wellen, damit ich hinter unserem Schiff bleib. Ich will ruhig bleiben und
abwarten was geschieht. Schwimmen werde ich und mich nicht um den kümmern, der
mir im Nacken hockt. Mag er quälen, so viel er will. Er wandte den Kopf etwas
seitlich und sah eine leere aber verkorkte Flasche. Sie trug kein Schild mehr,
und auch ihr Inneres war ohne Zettel. Sie schlug im Wasser hin und her, und er
hatte kein Interesse an ihr. An ihrem langen Bleiben stellte er nur fest, das
ihn seine Schwimmbemühungen so gut wie gar nicht vorwärts brachten. Umso
besser. Desto weniger kann ich mich von meinem Platz entfernen.
Es verwunderte ihn
dass er die Flasche nun erst zu Gesicht bekommen hatte, da sie kaum zwei Meter
von ihm entfernt war. Wir beide haben ein Geheimnis, und sie wurde ihm doch ein
wenig lieb. Du hast mich getroffen und ich dich. Du bist so allein wie ich.
Nein, du bist ja viel einsamer als ich. Sieh mal, ich kann mich mit mir
unterhalten und du nicht. Ich habe meine Uhr, und dann liegt mir noch etwas
daran wieder herauszukommen und dir nicht. Ihr weißbrauner Korken hüpfte im
Wasser, als er mit der Hand kleine Wellen machte, so als zucke sie bedauernd
die Schultern. Du glaubst doch nicht, dass du es besser hast als ich, redete er
sie wieder an. Ich habe zwar so gut wie keine Chance, aber immerhin die
Gewissheit noch zu leben, während du eine Chance hast nicht unterzugehen aber
keine Hoffnung je zu leben. Sage selbst, was mehr wert ist: eine Chance ohne
Gewissheit zu leben, oder eine Gewissheit ohne Chance zu leben. Du kannst das
natürlich nicht erkennen. Schwimm weiter meine liebe, gute Flasche, vielleicht
verbirgt sich in dir ein Geist, der über ungeahnte Kräfte verfügt. Wer weiß?
Mir fehlen nur die Mittel dich zu öffnen.
Langsam trennten sie sich voneinander. Sie
blieb zurück und er sah sich nicht mehr nach ihr um. Es ist schwer, keine
Flasche zu sein. Bin ich doch selbst eine. Ich schaukle auf den Wellen und
wackle mit dem Kopf wie sie, rede dummes Zeug während sie schweigt. Ja sie hat
es besser, weil sie keine Angst hat. Ihr hockt keiner im Nacken, um sie
hinunter zu drücken. Ihr Korken ist dicht. Und wenn sie untergeht, was macht es
ihr schon aus! Was macht ihr schon aus, ob ein Schiff vorbeifährt oder
fortfährt. Sie wackelt nur mit dem Kopf. Sie wackelt nur, wackelt, wackelt..
Zum Teufel mit der Flasche! Hoffentlich säuft sie ab! Ich wünsche ihr, dass sie
absäuft und nie wieder hochkommt. Alle sollen absaufen, alle, alle, alle!
…Charles auch? Und Gerd und der Zimmermann
und deine Mutter? Deine Mutter auch? Soll deine Mutter auch ersaufen, nur weil
eine Flasche mit dem Kopf wackelt? Nur weil ein Flaschenkopf so bedenklich
wackelt? Nur weil du genau weißt, dass du lieber ein Leben ohne Chance aber in
Gewissheit lebst? Nur weil du wütend bist, dass dich das Schicksal vorher nicht
gefragt hat? Nur deshalb willst du die Welt zerschmettern? Oh du Ärmster!
Warum lebst du denn dann noch! Warum hast du
dich nicht getötet als es noch Zeit war? He? Warum willst du weiterleben,
Rechte fordern, wenn du die einzige Verpflichtung nicht wahr haben willst? Die
einzige Bedingung, dich vom Schicksal führen zu lassen, he? Sprich doch!
Antworte doch! Sogar deine Mutter willst du töten! Nein! Das habe ich nicht
gesagt! Meine Mutter nicht! Nein, meine Mutter nicht! Charles auch nicht und
die anderen? Nein, keinen will ich töten! Ach, was soll ich denn tun! Ich kann
nicht weiter. Ich kann doch nicht immerzu geradeaus schwimmen. Immerzu und
immerzu. Nur geradeaus!
Ich werde wahnsinnig, wenn ich immerzu die
Berge vor mir sehe. Immerzu die gleichen Berge. Einer wie der andere, alle sind
gleich. Warum kommen die Wellen nicht von der Seite, ganz einfach von der
Seite. Sie sollen von der Seite kommen. Ich will, dass sie von der Seite
kommen! Dreh' dich doch um! Schwimm doch ein Stück zur Seite. Nur ein paar
Minuten. Du hast doch eine Uhr. Schwimm vier Minuten 'rauf und vier Minuten
runter. Oder schwimm zurück. Zurück?! Zurück soll ich schwimmen? Nie! Zurück
darf ich nicht. Das Schiff! Wenn das Schiff kommt, und ich schwimme zurück,
fährt es vorbei, findet mich nicht. Ich darf nicht zurück schwimmen und auch
nicht zur Seite! Nur geradeaus, nur geradeaus darf ich schwimmen. Immer weiter,
immer weiter. Und er hörte wieder die Stimme rufen: Komm’, komm’. Hier bin ich.
Seitwärts! Komm doch. Schwimm seitwärts. Hier bin ich, hinter dir. Schwimm
zurück, und die Wellen werden von vorne kommen. Du siehst sie kommen und nicht
mehr enteilen! Sie kommen näher und näher, heben dich, tragen dich. Es ist viel
leichter. Schwimm zurück! Es flüsterte ihm ganz nah am Ohr, und es drückte ihn
hinab. Nein! Er warf sich herum und schwamm genau gegen die Wellen. Es war ein
befreiendes Gefühl.
Das Wasser stand in seinen Diensten, hob ihn,
schien ihm unter die Arme zu greifen. Er beobachtete die Berge, und als er
fünfzehn gezählt hatte, drehte er sich wieder um und hörte keinen Rufer mehr.
Ohne es zu wollen zählte er weiter. Er zählte die Wellen, die von hinten kamen,
und bei neunzehn sagte er immer wieder dreizehn als nächste Zahl, bis er den
Fehler bemerkte und sich das Zählen verbot. Hör auf, das macht dich wild. Und
er zählte. Hör auf, sagte er, als er schon wieder bei fünf war. Und er musste
weiter zählen. Bei neunzehn blieb er stecken und dann schwamm er auf dem Rücken
und dachte an etwas anderes. Über ihm war der schweigende Himmel, und nichts
weiter war zu sehen als die unendliche Tiefe des Raumes. Haltlos, nicht eine
Wolkenfahne. Wer in den Himmel fällt, fällt in einen tiefen Schacht, in einen
tiefen See, nein, der fällt ins Meer. Alles ist Meer, sogar der Himmel. Nicht
einmal an eine Wolke können sich meine Augen klammern. Früher, als ich noch
klein war, konnte ich mich mit den Wolken unterhalten. Sie waren meine Freunde,
meine Verbündeten. Ihnen erzählte ich, was niemand hören sollte. Später habe
ich sie vergessen, völlig vergessen. Und nun lassen sie mich im Stich, nun, wo
ich sie wirklich brauche.
Das Schwimmen strengte nicht sehr an. Er
achtete einzig darauf, direkt vor den Wellen zu sein. Dann blickte er auf die
Uhr, um zu sehen wie lange er schon schwamm. Es war halb sechs. Ich muss mir
überlegen, wie lange ich das noch aushalten kann. Noch mindestens drei Stunden.
Das ist ja doppelt so viel wie bisher! Das ist zu viel! Zu viel heißt aufgeben!
Diese eineinhalb Stunden waren ein Beginn. Wenn du nicht mehr schwimmen kannst,
wenn du dich nur noch über Wasser hältst, nur so viel, dass du Luft holen
kannst, dann darfst du daran denken, es nicht mehr zu schaffen, dann beginnt
die Anstrengung.
Er lag auf den Rücken und es arbeiteten nur
seine Beine. Einmal schwang er sie zu weit aus und spürte beim Zusammendrücken
den Schmerz oberhalb der Schenkel. Du musst dich vorsehen. Es dauerte eine
Weile bis sich die Klammer lockerte und den Beinen ihre Freiheit wiedergab. Er
träumte von einer Möwe wie sie über ihm segeln würde, und in Gedanken war er
die Möwe, von den Wellen, dem Wind auf und ab geschwungen, getragen. Weit
streifte sein Blick in den Horizont und hinauf in die Bläue des Himmels. Er
zuckte zurück auf die einzelnen Wellenkämme wie vorhin von der Brücke aus,
blieb an einem weißen Kamm haften, versuchte den Ausgewählten zu verfolgen,
sprang auf den nächsten und zurück, und wieder war allen verloren. Woher sollte
auch eine Möwe kommen? Wenn Land in der Nähe wäre, aber so? Wo sollte eine
Wolke herkommen? Eine Wolke, eine Möwe als Henkersmahlzeit. Henkersmahlzeit?
Bist du denn verloren? Gibst du dich denn verloren? Ich bin verurteilt, aber
wann muss ich sterben? Ein Todeskandidat. Welcher Todeskandidat lässt sich die
Hoffnung rauben? Wenn ich meine Hoffnung nur begründen könnte. Ich hoffe auf
den Zufall! Ja, ich hoffe ganz einfach auf einen glücklichen Zufall! Da darfst
nur die Ruhe nicht verlieren. Ich finde es auch ganz in Ordnung, dass ich
weiterschwimme, obwohl es aussichtslos ist. Solange ich nicht sterben will,
habe ich eine Möglichkeit. Wenn ich sage, ich will nicht sterben, enthält es
doch viel mehr Widerstand, als wenn ich sage, ich will leben, und ich habe eben
gesagt, dass ich nicht sterben will. Wenn ich sterbe, liegt das einzig an
meiner Schwäche, daran, dass ich nicht mehr will. Noch befiehlt mein Wille der
Zeit.
Eins, zwei, drei, vier... Er hatte sich
herumgedreht und zählte die Wellen. Du wolltest doch nicht mehr zählen, und
während er mit sich schalt, zählte er weiter. Fünf, sechs, sieben. Ihn machte
das lange Warten auf die Nächste so wild. Hör jetzt auf zu zählen. Acht, neun.
War Neun schon vorbei oder nicht. Ich weiß es nicht. Da kommt sie. Also, neun.
Ich bitte dich hör' auf. Lass sie laufen. Denke nur daran, wie sie dich
schaukeln. Zehn. Ich werde verrückt. Bitte, du brauchst nur an etwas anderes zu
denken Es gibt tausend andere Dinge. Elf! Also, gut, wenn du unbedingt zählen
willst. Meinetwegen. Zähl. Zähl immer weiter, immer weiter. Zähle, bis du
wahnsinnig bist. Nach zwölf kommt dreizehn, vierzehn, fünfzehn, sechzehn,
siebzehn, achtzehn, neunzehn. Ihn hob die nächste Welle. Zähl doch! Warum
zählst du nicht! Ich lass dir ja deine Freiheit. Zähl doch immer fort. Ach,
dich stört wohl das Warten? Das Warten auf die Nächste? Ja, warte nur und
verzähl dich recht oft. Nach neunzehn kommt dreizehn, nach neunzehn kommt
dreizehn. Armer Kerl! Du musst bis fünfzig zählen, das befehl ich dir! Du bist
verloren, wenn du es nicht schaffst. Bis fünfzig! Aber du kannst nur bis
neunzehn. Habe ich neunzehn gehabt oder war es dreizehn? Teufel, hör doch auf
zu zählen! Er schrie den Satz übers Wasser und seine Stimme war so verloren.
Obwohl seine Gedanken rasten, wagte er doch keinen weiteren Ton, aus Furcht vor
dem einsamen Klang seiner Worte. Nicht einmal zu flüstern wagte er, so sehr
umschlang ihn die Verlorenheit. Ihn würgte das Verlangen zu weinen, aber er
dachte daran, dass er bis fünfzig zählen musste und erst bei neunzehn, war.
Er dachte an früher, als er noch in der Lehre
war. Morgens und abends hatte er genau sechsundsechzig Stufen 'rauf und runter
zu laufen, zum Umkleideraum, wo sein Schrank stand. Und er musste immer zählen.
Die erste Treppe hatte sechs Stufen, die zweite elf, die dritte auch elf, dann
dreizehn, zwölf und wieder dreizehn. Und immer verzählte er sich, immer kam
nach neunzehn dreizehn. Richtig zählte er nur, wenn er ganz langsam hinauf
ging, und dazu hatte man selten Gelegenheit. Und wenn er auf der Straße ging,
einer gepflasterten Straße, zählte er die Steine bis zur nächsten
Unterbrechung, einer Auffahrt oder dem Straßenende oder einer zerbrochenen
Platte. Danach fing er wieder von vorne an. Auch durfte er nie auf die Spalte
treten, die zwischen den Steinen waren. Warum er wohl zählen musste. Und nach
neunzehn kam dreizehn. Ihm fiel vieles wieder ein, und während er sich darauf
besann, brauchte er nicht zu zählen.
Er schwamm mit dem Gesicht zur Seite gewandt,
das eine Ohr im Wasser. Er überhörte das dumpfe Brausen, welches von unten zu
kommen schien und achtete nur auf die längst vergessenen Menschengesichter, die
ihm seine Erinnerung vorführte, mit denen ihn gemeinsame Erlebnisse und
jahrelanges Beisammensein verbanden. Über ein Jahrzehnt hatte er nicht ein
einziges Mal an sie gedacht Sie kamen und gingen. Seine Freunde und andere, mit
denen er sich nie gut verstanden hatte. Gesichter tauchten auf, die er
beizeiten, als sie noch täglich um ihn waren, nicht beachtet hatte. Bilder aus
seinen Kindertagen. Schulkameraden, Lehrer und die Mädchengesichter aus der
Zeit, in der er langsam zu erwachen begonnen hatte. Mädchengesichter in denen
sich eine ganze Welt verborgen hatte, eine Welt, deren Zugang er so lange Jahre
vergeblich suchte.
Sie kamen und gingen, und alle hatten etwas
Gemeinsames. Er ahnte es und durchforschte die Gesichter, das Bestimmte zu
erkennen. Warum kommt ihr alle? Warum gerade jetzt? Eine Weile war er
überzeugt, dass sie erschienen wären, um ihn zu trösten, wie vorhin seine
Mutter, als er seinen Kopf in ihrem Schoß bergen durfte. Sie wollen mir Trost
sprechen, dass ich mich nicht von ihm da unterkriegen lasse, und er meinte den
im Rücken, der ihn hinunter drücken wollte, der ihn umflüsterte und rief. Ihr
wollt mir die Einsamkeit vertreiben. Es kamen neue Gesichter hinzu, und er kannte
sie alle. Sie kamen wieder und wieder, und alle trugen das Zeichen, welches er
nun zu kennen glaubte. Wenn ihr mich trösten wollt, dann sagt mir doch ein
liebes Wort, und er sah in die schönen Mädchengesichter. Aber wie kann ich das
von euch erwarten, die ihr ja nie erfahren habt, wie sehr ich euch liebte, und
von euch, er sah andere, um deren Freundschaft er sich nie bemüht hatte, ja,
denen er ausgewichen war, und die ihn nun gleichermaßen besuchten. Er zweifelte
an ihrem Auftrag. Nein, sie sollten etwas anderes. Irgendwie ahnte er auch, was
es war. Diese Blicke, die ihn trafen, in denen er ein entschuldigendes, ja
zurückziehendes Lächeln, ein gewisses Achselzucken las, trugen die ganze
Wahrheit seiner Situation. Als er wieder die langsam davon rollenden Wellen
beobachtete, verließen ihn die Bilder.
Er blickte in das grüne Wasser, das weiter
weg dunkler zu werden schien, und auf seine Arme, wie sie gleich Maschinen
einem ununterbrochenen Rhythmus gehorchten. Seine Arme waren weiß, und er
musste an die Möwe denken, in die er sich vorhin gewünscht hatte. Aber ich will
nicht solchem Spuk nachhängen, ich muss an etwas anderes denken. Was wohl die
Gesichter wollten? Ach, du hast zu sehr an die alte Zeit gedacht, wegen deiner
Mutter und der Treppen vielleicht. Seine weißen Arme bewegten sich wirklich wie
die Flügel einer Möwe. Ich habe nicht verstanden, was sie von mir wollten. Es
ist alles verrückt! Weiße Flügel und Gesichter und neunzehn und dreizehn, mit
den Wellen und gegen die Wellen. Du machst dich irre! Und die Flasche. Hat es
die Flasche gegeben? Vielleicht habe ich sie mir nur eingebildet wie den im
Rücken. Nein! Der im Rücken ist wahr. Er ist die einzige Wahrheit, die es für
mich gibt! Flügel. Weiße Armflügel. Weiße Flügelarme. Er hat ja gesagt, ich brauche
nur nichts zu tun! Loslassen, fallen lassen. Nichts weiter.
Sein Kopf lag auf der Seite, er hörte das Brausen in dem Ohr, er sah
Gesichter, und er sah einen seiner Flügel. Möwe, Gesichter, Schwingen, Schwung.
Er kam etwas aus dem Wasser und glitt ganz leicht wieder hinein. Er flog über
sich. Vielleicht drei Meter über sich, vielleicht tausend Meter über sich. Nur
fallen lassen! Einfach loslassen. Seine Schwingen bewegten sich ohne
Anstrengung. Schweben lassen! Lautlos trug ihn der Wind. Schwunglos sank er
tiefer. Ein roter Schnabel. Wellen waren Wind und Wasser. Der rote Schnabel
schlitzte das Meer. Er segelte, trieb im Wasser, über dem Wasser. Tausend Meter
unter sich? Die Schwingen hingen leicht herab, und tief unten trug es ihn noch.
War es nicht ganz leicht zu sterben? Er schwebte doch immer noch, eine Möwe
tief unter sich. Sie hat dir die Schwingen gegeben, damit du leichter gleitest,
weiße Schwingen, die dich tragen. Du bist doch schon oft gestorben, früher. Wie
oft bist du in einen endlosen See gefallen, von einem endlos hohen Turm in
einen endlos tiefen Schacht. Oder war es Traum? Es ist so leicht. Du sinkst,
aber er wiegt dich, dein Tod. Dich wiegt die Möwe. Du gleitest auf Schwingen,
auf den weißen Flügeln, auf den weißen Flügelarmen, auf den Armen!
Er riss die Augen auf. Seine Arme bewegte ein
rhythmischer Atem. Meine Arme! Meine guten Hände! Verlasst mich nicht! Lasst
mich nicht im Stich!
Oh! Nun erst erschrak er heftig. Deshalb seid
ihr zu mir gekommen! Ihr alle, alle! Ihr wollt Abschied machen. Ja, ihr wollt
von mir Abschied machen. Ihr gebt mich wohl auf? Ihr denkt ich bin verloren?
Denkt ihr das? Er sah keine Gesichter mehr. Dann lasst euch von mir sagen, dass
ich noch lange nicht verloren bin. Noch lange nicht! Er hatte blaue Lippen, das
wusste er, weil seine Hände blauweiß waren. Auch war ihre Haut faltig, was er
manchmal fühlen konnte. Und wenn ich am ganzen Körper blau bin, fertig bin ich
noch lange nicht! Jetzt fange ich an! Jetzt erst. Er hatte kein lautes Wort
gesagt, aber seine Bewegungen wurden energischer, wenn er auch gleich einsah,
dass das nicht viel zu seiner Rettung beitragen konnte. Er war keiner
besonderen Anstrengung mehr gewachsen.
Die Angst hielt ihn über Wasser und zog ihn
nach unten. Die Verzweiflung zwang ihn zur Bewegung seiner Arme und Beine,
wenngleich er damit kämpfte, sie bewegungslos hängen zu lassen und sich dem
Tode zu ergeben. Er wollte wieder auf dem Rücken schwimmen, wagte es aber
nicht, aus Furcht sein Rücken habe nicht die Kraft sich zu strecken, denn er schwamm
nicht parallel zur Oberfläche, wie man schwimmt, um ein Ziel zu erreichen,
sondern die Bewegungen seiner Beine waren so kraftlos, auch wegen der Gefahr,
dass er sie zu sehr anstrengen und dann den Schmerz im Oberschenkel haben
würde, dass er mehr im Wasser stand als lag. Es galt ja nur sich zu halten und
die Wellen genau von hinten nach vorne laufen zu lassen.
Mein Gott, schick mir Rettung, dachte er, und
wie ein Kind, ich will auch immer an dich glauben. Immer, immer, solange ich lebe.
Rette mich, nur diesen eine Mal. Erbarme dich!
Ja, er dachte
wirklich an Erbarmen, obwohl er keine rechte Vorstellung davon hatte, aber es
schien ihm als einziges Wort seiner Begriffswelt in der Lage zu sein, seine
Ohnmacht, sein Ausgeliefertsein, seine völlige Hilflosigkeit zu umfassen und
sein ganzes verkümmertes Ich, die Verantwortung, die er für sich empfand,
seinen Willen und seine Hoffnung zum Leben in die Hände eines Allmächtigen zu
legen. Für Sekunden flößte ihm das Wort die absolute Gewissheit seiner Rettung
ein. Er trank sie gierig und wäre vielleicht zu gewissem, höherem Dank bereit
gewesen, wenn nicht sein Widersacher höhnende Worte dazwischen gerufen hätte.
Heuchler, hörte er, Feigling! Das Wort kannte er. Du bestehst nur aus
Selbstbetrug, aus Unwahrheiten. Hast du dir früher nicht hundertmal selbst
gesagt, dass du an keinen Gott glaubst? Und hast du nicht jedes Mal dazu
gesagt, dass du ganz genau weißt, dass du zu schwach bist, ihn auch in deinen
schwersten Stunden zu verleugnen? Warst du nicht immer überzeugt, dass du ihn
in Stunden der Not anrufen würdest? Und hast du dir nicht ebenfalls fest
vorgenommen, ja, einem nicht vorhandenen Gott gedroht, dass du ihn nach
gelungener Rettung mit der gleichen Überzeugung verleugnen würdest? Schon im
Voraus hast du ihm jeden Dank für eine Hilfe abgesprochen. Jede Hilfe hast du
ihm wie eine Erpressung vorgeworfen, denn du bist in Not, du willst leben, jede
Hilfe ist dir willkommen! Und dennoch tröstet mich der Gedanke an das Erbarmen,
gab er zurück. Ich schenke ihm mehr Glauben als dir, denn nicht das Früher ist
die Wahrheit, sondern das Jetzt. Nur das „Jetzt“!
Als er sich umdrehte, um auf dem Rücken zu
schwimmen überkam ihn ein heftiger Schwindel, und die Arme mussten ihre
rhythmischen Zuckungen mit Gewalt unterbrechen. Sein Kreuz lag wie eine Mulde
im Wasser. Er streckte es, bis sein Bauch dicht an die Oberfläche kam. Der
wirbelnde Tanz des Himmels und der Wellen wurde schwächer, um dann ganz
aufzuhören. Er drückte sein Kinn auf die Brust und sah dem Spiel der schwarzen
Haare zu. Wie Seegras bewegten sie sich hin und her, hin und her in schneller
Folge. Lautlos und gleichmäßig. Zeitlos. Er betrachtet sie, ohne sich mit ihnen
verbunden zu fühlen. Fremder Körper. Nur die Arme. Meine Arme sind es. Aber das
Seegras und die Beine. Die Beine gehören mir sicher nicht. Ich kann ihnen
befehlen still zu stehen, aber sie bewegen sich weiter. Ach, ich habe nur
darauf zu achten, dass mein Kreuz gerade bleibt.
Wenn die nun an Bord immer noch nichts
bemerkt haben. Mein Gott, wenn die wirklich noch nichts gemerkt haben und
weiter fahren, als wäre nichts. Als wäre nichts geschehen. Ich kann es nicht
begreifen, und wie sollen die mich wiederfinden, wenn sie tatsächlich umdrehen.
Nein, nein, nicht daran denken.
Ich werde Ausschau
halten nach einem Stück Holz. Die Arme beginnen mir zu schmerzen. Vielleicht
finde ich einen Balken oder eine Kiste, nur zum Festhalten.
Sein Blick glitt
suchend zur Seite, und dann fühlte er wie sein Herz für Augenblicke zu Schlagen
aufhörte. Er war so über jedes Maß erschrocken, dass ihm sein ganzes Entsetzen
mit keinem Gedanken ins Bewusstsein drang. Sein Blick war starr. Etwa zehn
Meter von sich entfernt sah er eine schwarze, glänzende Flosse aus dem Wasser
ragen. Er lag in einem Wellental, und seine Augen hingen an den undeutlichen
Umrissen des dunklen Körpers unter der Flosse. Die nächste Welle ließ sie etwas
tiefer eintauchen, dass nur noch die Spitze heraus sah. Der Körper war
verschwommen, und bei der zweiten Welle tauchte er mit einer einzigen Bewegung
weg. Nichts war mehr zu sehen. Ein Hai schoss ihm das Signal in den Kopf. Er
wird gleich wieder auftauchen, näher als zuvor. Und ich habe kein Messer,
nichts. In seinem Kopf jagten sich Angst und Mut wie das sprunghafte Pochen in
seiner Brust. Aber, wenn er kommt, zeigt er den Bauch nach oben. Dann sehe ich
das Weiße. Er wird wieder auftauchen. Ich darf keine Angst haben. Angst sollen
sie spüren. Nur den, der Angst hat, greift er an. Wo wird er auftauchen? Ich
darf mich nicht überraschen lassen. Er wandte den Kopf zur anderen Seite und
bei der dritte Welle versuchte er rundherum alles abzusuchen. Immer noch lag er
auf dem Rücken und als er den Kopf verdrehte, um nach vorne zu sehen,
durchstach ein stechender Schmerz seinen Hals. Das also ist mein Tod! Dann aber
konnte er den Hals noch wie vorher beugen, und er wusste, dass er nur irgend
einen Halsmuskel unglücklich bewegt hatte.
Er drehte sich um,
dass er auf dem Bauch schwamm, sah ins Wasser nach vorne, nach hinten und
suchte die Wellentäler ab. Ich kann mich nicht wehren. Ich bin ihm
ausgeliefert. 0h, hätte ich mich vorhin nur absaufen lassen, statt mit der
Flasche zu reden und dem im Genick. Jetzt ist ein Hai da, und ich kann mich
nicht wehren. Da, ist er... Nein. Oder doch? Ach, es war ein Wellenspritzer.
Und da? Nein, nein, das ist nichts. Er wird gleich kommen. Aber lass ich mich
fallen, so kann ich vor Angst nicht ertrinken. Meine Güte, warum muss das sein.
Bin ich nicht schon genug für meine Dummheit gestraft? Von hinten! Nein. Er
schwamm im Kreis, und der Hai kam noch immer nicht. Durch die Kreise treibe ich
ab, aber die zehn Meter machen nichts aus.
Du hoffst also noch auf dein Schiff? Hoffen!
Ja, vielleicht hoff ich noch. Es ist doch eine Chance.
Ich schwimme zehn Kreise und, wenn er nicht
auftaucht, wieder geradeaus. Er schwamm und seine Augen suchten die Wellentäler
und -rücken nach einer schwarzen Flosse und einem dunklen Körper ab. Zehnmal
herum. Dann sagte er sich, dass der Hai viel mehr Zeit habe als er und irgendwo
lauere, und er schwamm noch einmal zehn Kreise. Die lauernde Gefahr trieb ihn
herum und herum. Im Dunklen glaubte er den nahenden Schatten zu sehen und im
hellen den nach oben gekehrten Bauch. Für fünfzehn Hügel, die er genau
abzählte, hielt er inne, dann schwamm er ein letztes Mal zehn Kreise, die
doppelt so groß waren wie die ersten. Seine Angst hatte sich etwas gelegt, aber
dem großen Schrecken folgte eine weit größere Schwäche. Er konnte die Finger
nicht mehr gegeneinander legen. Die Hände waren halb geschlossen, als hielten
sie einen unsichtbaren Stock umklammert und harkten kraftlos durch das Wasser.
Der ganze Körper zitterte, und das Herz pochte in wilder Anstrengung. Glaubte
er die Beine bei den einzelnen Zügen fest gegeneinander gelegt zu haben, so
waren die Füße noch vier Handbreit auseinander. Knickten seine Arme ein, dann
blieben sie auch bei der größten Mühe, sie wieder auszustrecken, angewinkelt.
Ihm wurde übel, und mit dem Schwindel stieg die Willenlosigkeit in seinen Kopf.
Nur dem automatischen Zucken seiner Arme und Beine war es zu verdanken, dass er
über Wasser blieb. Sie gehorchten keinem Gedanken mehr. Ihr Aussetzen wäre sein
Tod gewesen, und er hätte sich nicht dagegen gewehrt. Er war nun ohne jede
Furcht, und als ihn der Taumel verließ, dachte er nur: ich will nicht, ich will
nicht mehr. Ich habe keine Chance. Soll er kommen. Ich will nicht mehr ins
Wasser sehen, und ich will nicht wissen von wo und wann er kommt. Soll er
kommen oder nicht. Ich habe mein Möglichstes getan, alles was ich konnte. Nun
bin ich am Ende. Ich kann nicht mehr, mir fehlt die Kraft zu wollen. Bis die
Arme und Beine stehen bleiben, dann lasse ich mich fallen.
Mir schmerzen die Oberschenkel und die
Schultern und das Genick. Ich warte auf den Hai und auf das Ertrinken.
Ihn würgte die Übelkeit im Halse. Zweimal
krampfte sich sein Magen zusammen, dass er mit dem Gesicht ins Wasser schlug.
Er schloss jedes Mal den Mund, damit das Salzwasser nicht von ihm geschluckt
werden würde. Über ihm war blauer Himmel und eine ganz klare Sonne. Die Wellen
kamen in ihrem Gleichmaß und waren seine Diener und Todesboten in einem. Als
sich sein Magen entspannte, atmete er gerade bei einer überkommenden Welle. Das
Wasser drang in seine Lungen und er schluckte und schnappte nach Luft, bis ein
zerreißender Husten seinen Körper hin und her warf. Sein Kopf war wieder an der
Oberfläche, und die Arme schlugen aus dem Meer. Aus Mund und Nase hustete und
keuchte er das eingedrungene Wasser, und ihm brannten die Augen. An seinem Hals
schlug ein harter Puls, Sterne und rote Kreise wirbelten vor dem Gesicht.
Er erzwang den Rhythmus der Arme und Beine wieder und den seines
Atems, aber um seine Augen blieb der Kranz aus Funken und glühenden Splittern,
die ihm seine Schwäche zeigten. Er flehte sich selbst um Ruhe an, und als sein
Blick auf die Uhr fiel, zweifelte er daran, vorhin Gedanken gefunden zu haben,
in den Zeigern lebende Wesen und aus der monotonen Gleichförmigkeit ihrer
Bewegungen eine Verpflichtung für sich hatte erblicken können. Wie lange noch,
stöhnte er in sich hinein, und er sah, dass der größte Schmerz der ist, den man
sich selber auferlegen muss, so wie er sich zum Weiterschwimmen zwang. Mein
Gott, mein Gott, ich kann doch nicht mehr! Und dennoch trieb es ihn. Wer wen
zum Leben zwang, konnte er nicht sagen, ob er seinen Körper oder sein Körper
ihn.
Es war halb sieben Uhr, und er rechnete nach,
wie lange er schon von Bord war. Zweieinhalb Stunden, stellte er fest. Drei
Stunden waren das Mindeste. Drei Stunden hatte er sich vorgenommen, aber auch
von Anfang an gewusst, dass er nur wenig darüber schaffen würde. An Bord dachte
sicher keiner ans Umkehren. Könnte ich doch eine kleine Pause einlegen, aber
das wäre sicher wie beim Wandern, wenn man wunde Füße hat. Sie schmerzen und
man sehnt sich nach kurzer Ruhe. Scheinbar erholen sie sich auch sofort, wenn
es aber weitergehen soll, glaubt man nicht mit den zerschmetterten Füßen je
einen Schritt gegangen zu sein. Leichter geht man noch auf einem Nagelbrett.
Besser ist es ohne Rast. Vielleicht würden Arme und Beine einfach streiken?
Ihm fiel eine Atemtechnik ein, wie sie ihn
als Schüler gelehrt worden war. Beim Vorstoßen der Arme atmest du aus, beim
Heranziehen ein. Ganz regelmäßig: aus, ein, aus, ein….
Mit Gewalt zwang er sich zu diesem neuen
Schritt, zumal sein Atem noch flog. Fast nach jedem ruhigen Atemzug musste er
ein paar Mal schnell Luft schöpfen. Aber es gelang ihm immer öfter und er
wusste, dass er seine Kräfte zu schonen hatte. Der flimmernde Kranz seiner
Augen hatte zwar an Stärke nicht zugenommen, war aber auch nicht abgeklungen,
so dass er seine Schwäche noch fürchtete. Zu seinem Erstaunen ordneten sich die
Stöße der Beine in die der Arme in den Rhythmus des Atems ein. Es war ein
harmonischer Dreiklang und in unerklärlicher Weise brachte es ihm Ruhe und ein
leises Gefühl von Sicherheit. Sobald es ihm gelang, alle Drei in Einklang zu
vereinigen, durchströmte ihn Leichtigkeit und Vertrauen zu sich selbst. Er
hoffte dann nicht nur auf seinen Willen zu Leben, den er trotz seiner Zweifel
für den größten Kraftspeicher hielt, sondern in ebenso großem Maße auf diese
beruhigende Gleichmäßigkeit.
Er ahnte die Schwelle zu einer großen
Kraftquelle in sich, die unangetastet ruhte, die nicht in seinen Diensten
stand. Es war ihm, als sei er etwas gestorben, als sei er teilweise tot, denn
sein Körper schien ihm nicht mehr zu gehören. Ihm wurde heiter ums Herz. Er war
in seinem Körper und spottete doch, dass er immer geglaubt hatte, sein Körper
sei die Wohnung seines Ichs. Eigenartig und berauschend in seiner Einfachheit.
Vielleicht werde ich verrückt, dachte er. Ich bilde mir etwas ein, was weder
wahr und vorhanden ist, noch sein kann. Aber ich kann so viel leichter
schwimmen. Vielleicht würde ich erschrecken, wenn es nicht diese Leichtigkeit
mit sich brächte. Und dennoch ist es mir nicht neu. Dieses Gefühl habe ich
früher schon kennengelernt. Es kann nicht lange her sein, weil ich es noch so
deutlich in mir habe. Aber, wann und wo? Ich möchte lachen, nicht laut lachen,
nein, heiter sein. Nicht mit dem Mund lachen, sondern, ach, es ist schwer zu
sagen. Es gibt Menschen, die stecken alle an mit ihrem Lachen und andere, die
so traurig lachen, dass Tränen in die eigenen Augen steigen. Aber es gibt auch
Menschen bei denen ist das Lachen eben leicht, beflügelt, heiter. Schaut man
denen ins Gesicht, gibt es keine Schwierigkeiten mehr. Man möchte lachen und
weinen, alles ist grenzenlos. So fühl ich mich, grenzenlos. Oder ich glaube
dieses Gefühl nur zu kennen, weil ich mich danach gesehnt habe. Nein, ich bin
weder verrückt noch sonst etwas. Jetzt weiß ich es genau.
Heute ist es das dritte Mal, dass ich es
erfahre. Das erste Mal war es, als ich noch nicht an Mädchen dachte. Acht oder
zehn Jahre war ich alt und war verreist. Aufs Land. An einem Nachmittag ging
ich auf eine Wiese und legte mich dorthin. Der Kopf lag etwas erhöht und das
Gras wuchs wie eine schwankende Wand um mich herum. Ich sah nur in den blauen
Himmel und konnte mal eine weiße Wolke verfolgen, wie sie langsam dahinsegelte,
oder die Halme an meiner Seite betrachten. Ich lag dort und träumte und
wanderte mit den Wolken fort von mir. Die Himmelswanderer waren meine
Vertrauten denen ich alles erzählte. Wir zogen weit fort und ich sah mich nicht
ein einziges Mal nach dem um, dort im Gras, und dachte nicht mehr daran, dass
ich am Tage zuvor das erste Mal in meinem Leben einen toten Menschen gesehen
hatte, mit einem zerschmetterten Kopf, ehe jemand kam, der ein Tuch darüber
legte und mir sagte, dass ich nach Hause gehen sollte.
Das zweite Mal war vor weniger als zehn
Jahren. Wie verrückt war ich nach einem Mädchen. Sah ich sie nur, so war mein
ganzer Körper ein Wunsch, ein Zwang. Ich wollte viel von ihr und bekam nichts,
verfolgte sie und war blind, bis ich mich in eine andere flüchtete, bei der
sich mir nichts in den Weg stellte. Erst danach ernüchterte ich von dem Taumel.
In der Nacht entfloh mein Ich, und dem Zurückbleibenden galt nur ein
mitleidiges Lächeln. Es war eine unendliche Befreiung. Genau wie jetzt.
Vielleicht habe ich den Schritt ja schon getan, eben, als ich suchte und nicht
wusste, was mich Neues ankam.
Ich will meine
Grenzenlosigkeit durch nichts einschränken, durch den Gedanken daran oder wie
lange es dauern wird.
Er schwamm ohne Mühe und
wusste lange Zeit nicht, ob er etwas dachte und wann er etwas dachte. Er
überließ sich seiner Zeitlosigkeit wie ein Kind, dass sich selbst noch nicht
entdeckt, seinem Spiel oder Leben. Er durchlebte und durcheilte seine Gedanken
nach Räumen, die ineinander griffen, sich überschnitten, durcheinander wirkten.
Sie waren ein Chaos und bildeten eine geschlossene Einheit, ein Ganzes. Er
spürte das Nichts und war von Räumen so umdrängt, dass ihm der Atem fehlte. Auf
dem Kopf schwebte er, und seine Beine schienen sich mit seinen Armen zu
vereinigen. Sein Mund war der rote Schnabel einer Möwe, und er lag zu gleicher
Zeit an der Brust einer Frau. Ein Tisch stand im Zimmer, und die Alpen waren
darauf aufgebaut. Er hielt einen Spiegel darüber. Alles stand verkehrt und
richtig. Er badete in dem Fenstersee, der die Alpen spiegelte. Sein Körper war
eine wellende Bewegung, traumlos und zugleich die ganze Welt, jeden Gedanken,
jede Wahrheit, jede Zwittergeburt aus Gaukel und Wahrheit in sich vereinigend.
Er wurde Bestandteil eines phantastischen Kaleidoskops. Einmalige Bilder
zerstörte er mit einer einzigen Handbewegung. Aus ihrem Tode die
Unwiderruflichkeit des Alten erkennend, schuf er Neues und wusste gleichzeitig,
dass das Neue ja nur aus dem Alten bestehen konnte. Er durchzuckte Räume, wo er
nicht unterscheiden konnte, war es Farbe oder Musik. Beides schien gleichzeitig
ohne Grenzen zu wirken. Ein Wirken ohne Ende. Aufsteigend, abfallend, sich
ordnend und voneinander lösend, zerstörend und schaffend, alles war Eines, alles
war Nichts. Er durchbrach neue Wände, schuf neue Räume, Dufträume, die
festgehalten waren und schwebten. Sie wären greifbar gewesen, wenn nicht
absolute Willenlosigkeit seine Hände ihre eigenen Wege zu gehen gehindert
hätte. Er spürte den Duft, war selber Duft, Farbe, Musik und Raum, war selber
wundervolle Wandlung. Alles atmete, alles regte sich. Alles warb, alles
drängte. Jeder Atemzug tötete und gebar neues Leben. Blütenkelche waren groß
wie Schluchten, Blätter segelten in unbestimmtem, wiegenden Wind. Zwischen
allem war er. Allein. Sein Körper löste sich auf, fügte sich zufällig zusammen,
tanzte wieder fort, ohne Sehnsucht nach Vereinigung. Zu Größtem fühlte er sich
fähig und maß ihm die Bedeutung des Geringsten bei. Jedes Erlebnis zerstörte
ein anderes, und er wuchs und wuchs und war zu allem fähig. Er hätte alle
geschriebenen und ungeschriebenen Dramen, Jahrtausendealte Lieder, alles je
Gedichtete, Erzählte und Gedachte aufsagen können, und er sagte alles. Er
sprach alles und sagte keinen Ton. Die Gewissheit, es in sich zu bergen, ließ
ihn schon alles aufgesagt haben. Er betrat eine nie versiegende Kraftquelle.
Der Tod konnte ihr nichts anhaben, denn die Zerstörung war ihr Leben. Und was
fürchtete er mehr als den Tod? Jetzt war er doch unsterblich! Er verstand
Bilder, die er irgendwo, irgendwann gesehen hatte, gleich, ob sie die
Wirklichkeit trugen oder die herausgerissenen Fetzen seiner jüngsten Welt. Es
gab keine Schwierigkeiten mehr, kein Bedauern, kein Zögern, kein Hoffen.
Ihm kam eine Idee,
und er wusste dass dieses wirklich eine Idee aus dem Ursprung des absolut Guten
sein konnte, wenn nun Gott das ist, was ich hier sehe? Vielleicht ist Gott nur
der Glaube an das ewige Sterben und Leben? Oder gar Tod und Leben selber?
War es Hoffnung oder
Zweifel was ihn befiel. Seine Visionen waren fort. Nur manchmal noch, wenn ihm
der Dreiklang seiner Bewegungen gelang, vernahm er den Hauch jenes ersten
Gefühls. Alles war wie zuvor. Um seine Augen tanzte der Flimmer, der Körper
schien zu erwachen. Irgendwo wusste er um die Flucht seines Geistes, dass sein
Ich geflohen war, für Sekunden vielleicht nur, und nun dem Verbündeten wieder
zu dienen hatte. Geist und Körper, Illusion und Wahrheit, Hoffnung und
Verzweiflung fanden erneut zueinander.
In seinem Rücken machte Er sich zu schaffen
und bleierne Gewichte zogen ihn von unten. Mit jedem Beginnen wurde der Kampf
gefährlicher und drohender. Fürchtete er im Anfang einen Krampf, so zweifelte
er jetzt, ob er seinen Armen und Beinen noch trauen durfte.
Wenn er bis dahin die Sprünge seiner
gehetzten Phantasie als entlastend empfunden hatte, so war er nun daran, sie
als ein Zeichen beginnenden Wahnsinns hinzunehmen. Seine eben noch erlebte
Gleichgültigkeit gegen den Tod hatte sich in grausame Angst verwandelt.
Es gab noch eine Hoffnung. Eine Hoffnung auf
die Möglichkeit, den Weiterlebenden wenigstens seinen Namen zu hinterlassen,
die Hoffnung nicht völlig spurlos zu verschwinden! Die Hoffnung, ein letztes
Lebenszeichen zu übersenden. Ihn überfiel der Gedanke mit einer alles
verdrängenden Mächtigkeit. Der unendliche Zauber, eine Aufgabe in sinnloser Öde
erhalten zu haben, erfüllte ihn mit der Freude eines großartigen, unerwarteten
Sieges. Sie brachte ihm Gewissheit.
Rettung war doch nur die Flucht seiner
gequälten Gedanken gewesen und nichtig im Vergleich zu diesem neuen direkten
Ziel. Er musste die Flasche wiederfinden. Ganz gleich wie. Ihm war eingefallen,
dass sein Taschentuch an dem Ende einer Kante seinen vollen Namen trug. Seinen
Vornamen und seinen Nachnamen. Er brauchte das Tuch nur um den Flaschenhals zu
knoten, und es dem Schicksal zu überlassen, es auch unter Menschen zu treiben.
Hieran zweifelte er nicht. Er befand sich plötzlich in einer ganz anderen
Situation. Die spärliche Zukunft war scharf umrissen, sie hatte einen Sinn
erhalten. Er gab nichts mehr auf Rettung. Nur noch die Flasche wollte er
wiederhaben, musste er wiederhaben, und er würde sie wiederfinden!
Ich schwimme nicht mehr nach Zeit, sondern um
ein Ziel zu erreichen. Wenn ich es schaffe, ihr das Tuch umzuknoten, bin ich
bereit zu sterben, dann kannst du mich holen, dann darf ich mich getrost
abschreiben lassen. Eigentlich ist sie gar nicht zu verfehlen. Ich werde ruhig
schwimmen, vielleicht ein wenig kräftiger als zuletzt und zielbewusster. Ach,
es ist schön!
Er sah in den Himmel und war sehr zufrieden.
In seinem Kopf herrschte Klarheit, Überlegenheit. Die Wellen waren keine Boten
mehr und keine Diener, sondern seine nächste Aufgabe. Er betrachtete sie
nüchtern als weghemmendes Element, das überwunden werden musste. Die strahlende
Sonne in der kristallenen Klarheit des Himmels und den blendenden Reflexen des
Wassers begrüßte er wie den frühen Sonntagmorgen, der alles zu erfüllen
verspricht, was man sich wünscht.
Er bemühte sich die Beine zu schonen, damit
der Schmerz in seinen Schenkeln wieder abklingen würde. Er hatte ein Ziel, und
das war mehr wert als alle Aussicht auf Rettung. Seine Züge waren ohne Hast.
Die verkrampften Finger störten ihn nicht mehr. Welch eine Gewissheit war über
ihn gekommen, welche Sicherheit in seinem Schwimmen. Immer wieder glitt sein
Blick in den Himmel, und er freute sich an der so lange missachteten
Lichtfülle. Es reizte ihn im Wasser zu plantschen, vor närrischer, kindischer
Lust. Auch das war Rettung! Fast konnte er sich ein wenig ärgern, nicht gleich
den Gedanken gehabt zu haben, als er in der Nähe der Flasche gewesen war. Das
berauschende Glücksgefühl überflügelte diesen leichten Schatten jedoch, um das
eigene Licht noch heller strahlen zu lassen.
Seinen Geist überkam eine abwartende Ruhe. Er vertrieb sich die
Zeit mit Erinnerungen und dem einfachen Betrachten der gleichmäßigen, schönen
Wellenbewegungen. Manchmal, wenn ihn ein Kamm trug, hielt er Ausschau, obwohl
die Flasche so bald nicht zu erwarten war, und erholte sich, denn diese
Reinheit und Durchsichtigkeit der Gedanken war ihm wie ein Ausruhen. Nicht
anders konnte Jonas im Leib des großen Fisches empfunden haben, als er Gott
seinen Psalm sprach und der Aufgabe in Ninive wieder bewusst wurde. Welch ein
Geschick, ohne Aufgabe zu leben!
Er hatte die merkwürdigsten Visionen. Auf
einer Allee ging er spazieren und besah sich die vorübergehenden Leute. Vornehm
gekleidet, mit ihren Hunden an der Leine, die Kinder vor den Schaufenstern
stehend, die Mädchen geschmackvoll und frühlingshaft bunt gekleidet. Für
Augenblicke lebte er ein Leben, das er nie kennen gelernt hatte. Selbst elegant
angezogen, er, allen überlegen. Trotz ihrer äußeren Gleichheit besaß er etwas
vor den anderen, was ihn isolierte und dieser Welt entzog, dieser Welt der
puppenhaften Schönheit, der leeren, toten Schönheit. Nur selten glaubte er auch
an anderen dieses Unbestimmte, Absondernde zu bemerken. Statt der Fahrbahn
floss ein breiter Strom, in welchem er jetzt schwamm. Neben ihm gingen die
Leute spazieren und Gesichter, die eben unter den Gehenden waren, tauchten im
Wasser wieder auf, blieben oder wanderten zurück, schnell und langsam. Hin und
her glitten sie, waren mal im Wasser, mal im Trockenen. Manche bewegten sich
ruhig, ausgeglichen, manche sprunghaft, verzagt.
Solange sie im Trockenen waren, hatten sie
freundliche, gleichgültige und maskierte Mienen, die nichts verrieten über das
Vorgehen im Strom. Waren sie aber im Wasser, und das geschah ohne ihr Dazutun, so
öffneten sich Ihre Augen schreckensweit und sie ihren Mund wie in
Verzweiflungsschreien. Sie klammerten sich aneinander, gingen unter, tauchten
auf und kein einziger kannte die Wirklichkeit, die Gegenwart.
Selten nur tanzte ein eiliger Blick vom Ufer
auf das Wasser, der schnell genug, wie gefährdet, zurück flog.
Er allein schwamm in Ruhe. Ihn reizte kein
Ufer. Er wusste um das Leben auf dem Trockenen und den flüchtigen Blick vom
Wasser fort. Nichts störte seine Bahn. Seltsam und doch am natürlichsten war
seine Angstlosigkeit. Mitleid erfasste ihn zuweilen, wenn er die verzerrten
Gesichter der Nachbarn sah. Ihnen schien er unsichtbar zu sein. Sein Weg führte
an allen vorbei. Weiter, weiter....
Er fühlte sich unsagbar müde. Seine Müdigkeit
war echt und stark, aber dem Willen, das Ziel zu erreichen, untertan. Das süße
Versprechen, nach dieser letzten Anstrengung den Wunsch eines endlosen Schlafes
erfüllt zu bekommen, ließ sein Bedürfnis zurücktreten.
Ihm schienen die Schwimmbewegungen von einer
vollendeten Gleichförmigkeit zu sein, wenn er auch den Dreiklang kaum mehr
erreichte. Immer öfter huschten seine Augen, sobald er auf der Höhe eines
Kammes war, in die Täler und auf die benachbarten Berge. Mit einer leichten
Drehung des Kopfes konnte er weite Flächen überblicken. Der flimmernde Kranz
hatte die Augen verlassen und nur die Schärfe des Meerwassers ließ die Lider
schmerzhaft brennen.
Ihn leitete das unbestimmte Gefühl, dass die
Flasche zu seiner linken auftauchen würde. Hier und dort glaubte er schon ihren
wackelnden Hals zu bemerken, entdeckte dann aber bald die Täuschung, ohne
darüber zu erzürnen, denn er konnte ihr noch nicht begegnen, wenn er auch nicht
allzu weit von ihr entfernt sein dürfte. Sein Blick tauchte in das immer tiefer
werdende Grün des Wassers hinab, und ihn durchlief keine Angst mehr vor der
Grundlosigkeit. Den oberflächlichen Farbenschimmer empfand er als wärmend und
die Tiefe als beruhigend. Die gleichmäßig sich hebende und senkende Brust, auf
der er ruhte, wiegte ihn ein, und für Sekunden träumte er von einer Frau. Um
seine Hand floss das Wasser so mild, als wäre es duftendes Haar. Seine
Bewegungen waren gleichsam die Liebkosungen eines unendlich sanften, weichen
Körpers, ja, in wunderbarer Weise fühlte er sich nicht nur eng an den Körper
geschmiegt, sondern war in ihm. Erfüllte ewige Sehnsucht wogte um ihn. Er war
im Licht und gleichzeitig einer endlosen Dunkelheit, Verlorenheit so nahe wie
ein selbstvergessener Mensch nur sein konnte. Nie in seinem Leben hatte er die
Erfüllung so deutlich geahnt. Ach, flüchtig strich der Gedanke an Rettung durch
sein Hirn und schien ihm lächerlich. Nichts war mehr wichtig. Er hatte ein
Ziel, dem er, wenn überhaupt, die einzige Bedeutung schenkte. Doch, erreichen
wollte er es unbedingt, aber war es für diesen Augenblick nicht wirklich
bedeutungslos? Nur für diesen einen Augenblick?
Als er sein Gesicht
erneut nach vorne wandte, schlugen ihm Schaum und Wasser zweier Wellen, die
sich vereinten, in Mund und Nase zugleich. Das Schicksal entriss ihn einem der
schönsten Augenblicke seines Lebens. In den Lungen war Wasser, und sein Körper
bog sich unter dem unterdrückten Zwang zu atmen. Eine Zeitlang war er ganz
unter Wasser, weil seine Arme keine lohnenden Bewegungen mehr vollbringen
konnten. Sie schlugen zuckend umher. Trotzdem gelang es ihm wieder hochzukommen
und mit jämmerlichem Schnaufen und Zittern schöpfte er etwas Luft. Seine Kräfte
hatten wohl ausgereicht, einem ununterbrochenen Rhythmus zu dienen, aber diese
Aufwallung des Fleisches unter der drohenden Erstickung kostete mehr, als er
glaubte noch übrig behalten zu haben. Selbst in einer halbwegs schwimmenden
Lage vermochte er das Beben und Schütteln des ganzen Leibes nicht zu
unterdrücken. Jede Fiber war in wildem Aufruhr. Er zwang mit einem Willen, der
alles Leben in ihm umfasste, seine Beine und Arme wieder zu ihren Bewegungen.
Fast blieb das Gefühl, gegen die Wellen zu schwimmen, als einziger
Orientierungssinn, denn die geöffneten wie geschlossenen Augen nahm eine
flimmernde, tanzende, blitzende, rote Kulisse mit tausend Mustern und
Filigranen gefangen.
Erst nach Minuten begann sich der Schleier
allmählich zu teilen um dem Sonnenlicht als neuem Peiniger Platz zu machen. Ihn
blendeten die Reflexe, und niemals zuvor hatte er so sehr nach Aufgabe und
Selbstvernichtung verlangt, wie jetzt. Gleichzeitig war er wie hypnotisiert von
der Pflicht, die er zu erfüllen hatte. War sie erst erledigt, mochte mit ihm
geschehen was wollte, solange aber durfte sein Wunsch nicht siegen. Unbeugsam
war der Zwang gegen die Versuchung. Seine despotische Macht zerschlug jeden
Gedanken, der ihn zu verführen trachtete, beim ersten Aufflammen. Sein Körper
war bereit, das Letzte zu tun, aber bald und schnell und nicht mehr als das.
Voll Vertrauen sehnte er die Flasche herbei.
Ihn schreckte das Ende nicht. Wie viel Angst
hatte er schon ausgestanden, wie oft war ihm der Tod lieber gewesen als das
Leben. War er nicht ein Gezeichneter? Ein vor allen Menschen Gezeichneter, ja
ein Verfluchter? Klebte nicht Blut an seinen Händen? Hätte er nicht bedenkenlos
gemordet, wenn er die Möglichkeit besessen hätte, vorhin als er der Flasche
wünschte abzusaufen? Da sie als Symbol seines Mordes an der ganzen Menschheit
absaufen sollte? Wo waren Schranken gewesen! Oh, die Verzweiflung ist die Hure
der Hoffnung. Schmutz gebärt sie, ein Stiefkind des Unglücks. Ihn hatte sie
geboren. Er war Schmutz, er war Abschaum. Und er liebte und hasste zugleich
den, der ihn dazu stempelte, denn er glaubte an das Gute in sich, welches das
Böse verachtete, wenn er auch beides in seinem Innern vorhanden wusste,
Gut und Böse, dachte er, Gut und Böse. Er
besann sich des Liederabends einer japanischen Gastsängerin. Wunderschön zart
sah sie aus in ihrem landschaftsbetupften Kimono, den schwarzen Haaren, die das
bleiche Gesicht und das Dunkel der Augen betonten und der Zierlichkeit ihres
Schreitens. Am Anfang sang sie Lieder des Gastlandes, die trotz Ihrer
allgemeinen Beliebtheit, unschön und farblos wirkten. Der überaus zerbrechliche
Klang Ihrer vibrierenden Stimme, die ungewohnte Aussprache der sonst so
wohlklingenden Worte übte einen nervösen Reiz auf die Zuhörer aus, die dauernd
der Exotik der Stimme verfielen, aber vor dem Ablehnen des Verzerrten,
Hässlichen zurück schreckten.
Als sie später jedoch ihre heimatlichen
Lieder sang, wandelte sich die Stimme in das wunderbare Schluchzen versteckter
Nachtigallen. Die Fremdheit und der seltsame Zauber der Lieder hielten alle
gefangen, weil sie in ihrer Echtheit, Natürlichkeit und Schönheit das Gute
schufen, das unwandelbar Gute.
Das war der Unterschied zwischen Gut und
Böse. Das Böse, unbekannt und uns für Augenblicke beherrschend, verführend,
gewinnend und verlierend in stetem Wechsel, weicht dem Guten, das trotz seiner
scheinbaren Fremdheit und dem scheinbar undurchsichtigen, neuen Gewand, sich
uns so selbstverständlich offenbart. Sein Sieg ist immer da, und doch ist der
verflucht, der mit dem Bösen rang. So war auch er verflucht und konnte sich
dennoch lieben, mehr lieben als hassen. Er war verflucht, weil er die Menschen
gehasst hatte, und er lebte noch, weil er ein Mensch war, weil er das Gute in
sich trug.
Noch immer schmerzten die Lider. Wenn ein
zufälliger Spritzer ihm sekundenlange Linderung verschaffte, trank er die
Erleichterung in gierigen Zügen, obwohl er sich der Täuschung bewusst war, denn
wenig später nur, begann sich die Qual ins Unerträgliche zu steigern, und ein
neues Befeuchten verhieß noch stärkeres Brennen. Trotzdem ertrug er die Pein
mit Gleichmut, denn seit er die Flasche wiedersuchte, hatte ihn das tötende
Gefühl der Einsamkeit und Verlorenheit ganz verlassen. Sein Kopf lag schräg im
Wasser, und seine Blicke glitten nur über die Berge und Täler zu seiner Linken.
Er zwang sich, nicht dem verlockenden Schließen der Augen zu unterliegen, denn
auch das stillte den Schmerz. Der Feind, der ihm im Rücken gehockt hatte, hatte
einem einfachen Gegner mit offenen Waffen Platz gemacht, dem einzigen Gegner,
dem Wasser, stark aber nicht unbezwingbar. Einem sichtbaren Gegner, viel
leichter zu bekämpfen als einer, der mit den eigenen Waffen schlägt, viel
leichter zu bekämpfen als sich selbst. Er dankte dem Schicksal für diese Gunst.
Nie würde er es jemandem erzählen können, selbst wenn seine Füße
wieder festen Boden berühren sollten, würde es ihm unmöglich bleiben. Den Kampf
gegen sich selber zu beschreiben und die Flucht davor ohne Wendung des
Ausganges willkommen zu heißen, das alles je lebendig werden zu lassen,
lebendig vor die Augen anderer treten zu lassen, um ihnen ein Stück gelebtes
Leben zu zeigen, würde immer seine Kräfte übersteigen.
Wenn er je wieder an Land käme... Nein, ich
will zufrieden sein. Dieses eine noch, das Tuch und dann sterben. Erlösendes
Sterben.
Man wird die Flasche finden! Wer? Wieso:
"Wer". Ein Mann natürlich. Er wird den Fund melden. Man wird erfahren
auf welchen Schiff ich gefahren bin. Man wird erzählen, dass ich über Bord
gefallen sei. Ja, über Bord! Aber es war doch den ganzen Monat kein Sturm. Nein
es war kein Sturm, und er hat sich sicher sehr lange über Wasser halten können.
Das sieht man an dem Tuch, denn er ist bestimmt nicht neben der Flasche über
Bord gefallen. Gefallen! Über Bord gefallen! Bei bestem Wetter über Bord
gefallen! Hast du das gehört? Und niemand war dabei! Merkwürdig, niemand war
dabei gewesen. Sehr merkwürdig. Ob vielleicht..? Mein Gott, die kommen auf
Gedanken? Ob man das tatsächlich annimmt, dass ich nicht von allein über Bord
gefallen bin? Meinst du, die glauben, mich hätte jemand über Bord geworfen?
Einfach über Bord? Aber nein, wer sollte wohl. Wer wohl und warum wohl. Ich hatte
keine Feinde. Freunde waren an Bord. Zwei gute Freunde, Gerd und Charles.
Charles vielleicht noch mehr als Gerd. Charles! Er war allein auf der Brücke,
und ich war allein auf Deck! Nur noch die Katze. Charles werden sie fragen. Sie
werden ihn immerzu fragen. Er wird antworten. Er wird auf alles antworten, aber
sie werden ihm nicht glauben, sie werden ihm einfach nicht glauben. Wenn er gut
antwortet, werden sie sagen, ein ganz schlimmer, antwortet viel zu sauber und
zu glatt. Antwortet er stockend, erschrocken darüber, dass man ihn derartig
verdächtigt, werden sie ihm erst recht misstrauen.
Wer kann ihm glauben?
Vielleicht hat doch einer meinen Schrei gehört, aber nicht weiter darauf
geachtet. Er wird es dann erzählen. Gestern glaubte ihm jeder, aber heute, wo
ich nicht mehr an Bord bin, und er allein auf der Brücke war, heute glaubt ihm
keiner. Er wird Angst bekommen und ihnen erzählen wollen wie es war. Dann sieht
er, dass es gar nichts zu erzählen gibt. Er hatte ja nur oben gestanden und
nach vorn geschaut.
"Nein, nach hinten habe ich mich nicht
umgesehen. Überhaupt nicht. Warum sollte ich wohl nach hinten schauen.“ Dann
werden sie ihn wieder fragen, zweifelnd, überzeugt von seiner Schuld, und jede Frage
wird wie eine Falle sein. Charles wird merken, dass sie seine Worte nur hören
wollen, um ihn zum stolpern zu bringen. Er wird merken, dass alle seine Schuld
wollen, nicht seine Unschuld.
Er wird, oh Großer Gott! Charles ist ein
einfacher Mensch. Er ist gut und einfach. Er wird wütend werden, wenn sie
solange fragen und zweifeln. Er wird sich auf sie stürzen und sinnlos schlagen.
Er wird sich mit ihnen schlagen, gerade, wenn sie ihm eine Falle gestellt
haben, und er darauf hereingefallen ist. Aber sie sind ihm überlegen an der
Zahl und werden ihn verprügeln, bis er nur noch weint und wimmert. Stöhnen wird
er: "Ich bin unschuldig, ich habe doch keine Schuld. Ich war doch nur auf
der Brücke. Ich bin unschuldig, glaubt mir doch, ich bin unschuldig."
Dann werden sie von ihm ablassen. Es sieht
jetzt etwas anders aus, wo sie sich abgekühlt haben. Alle werden überlegen, ob
man nicht am besten zurückfahren sollte. Zurückfahren und suchen. Wie viele
Stunden fehlt er etwa schon? Wird es noch Sinn haben? Nein, sie fahren nicht
zurück. Einer wird sagen: Was geschieht mit Charles? Vielleicht antwortet der
Kapitän: Das ist Sache der Polizei. Charles ist zwar verdächtig, aber niemand
kann ihm etwas beweisen. Fortlaufen kann er auch nicht und wenn er über Bord
springt, beweist das nur seine Schuld. Er soll weiter frei herumlaufen.
Die anderen werden zufrieden sein mit dieser
Lösung. Jeder könnte im Wasser schwimmen. Aber zurückfahren lohnt sich wirklich
nicht, es ist zu spät.
Charles wird allein stehen bleiben, die anderen
weiter weg. Er wird Angst haben. Sie stehen auf einem Haufen und flüstern
miteinander. Was reden sie? Sogar Gerd meidet seinen Blick. Glaubt ihm denn
keiner? Ich muss etwas tun, wird er denken. Soll ich die Rettungsringe über
Bord werfen? Quatsch, die denken, ich will fliehen. Wohin wohl? Aber ich muss
etwas tun!
Er sieht alle scharf an und überlegt. Ich
muss ganz ruhig bleiben, ganz ruhig. Er denkt und denkt und nicht mehr an den,
der vielleicht noch im Wasser schwimmt, weit hinter ihm, sondern nur an sich,
so wie ich nur an mich dachte und nicht an Charles. Er entschließt sich zu den
anderen zu sprechen, weil sie ihm wie eine Mauer gegenüberstehen und auf sein
Wort zu warten scheinen. Er macht zwei Schritte auf sie zu und mit einem Ruck
blicken ihn die Gesichter an. Verkniffene Gesichter mit boshaften Augen. Wieder
wird er Angst haben. Nicht vor denen, sondern vor der Schuld, vor der
unbewiesenen Unschuld.
„Ihr.. Ihr wisst doch genau… Ihr könnt doch
nicht.“
Sie starren ihn schweigend an. Er hebt die Hände,
die Schultern. Seine ganze Unschuld, Verzweiflung, Bitte um Verstehen liegen in
dieser Geste. Eine Sekunde hat er alle überzeugt, aber Hände und Schultern
fallen wieder herab, die Augen heften sich an den Boden. Er tritt beiseite. In
ihm werden wieder Wut und Ohnmacht ringen. Für und Wider.
Es ist wirklich ernst. Einer behauptet mit
Gewissheit sich an den Schrei erinnern zu können. Er möchte es beschwören. Er
hatte sich zuerst nichts dabei gedacht, aber später, als ihm die anderen
erzählten, dass einer über Bord sei, war es ihm sofort wieder eingefallen und
er hatte es auch gleich gesagt. Die anderen bestätigten das. Es war doch
unmöglich, bei dem Wetter über Bord zu fallen. Als erfahrener Seemann bei
geradezu lächerlichem Seegang. Alles spricht gegen Charles. Armer Charles.
Nicht einmal die Gewissheit wird er haben, für den im Wasser etwas getan zu
haben. Man wird dir ein fürchterliches Wort auf die Stirn brennen. Man wird es
in alles brennen, was du tust.
Sie haben geschlagen, und jeder könnte im Wasser
schwimmen, und jeder könnte Charles heißen. Schuldig, schuldig! Später wird es
heißen, beweisen konnten sie ihm ja nichts, aber wenn man ihn sich genau
ansieht, er blickt immer auf den Boden, immer auf den Boden. Er soll getötet
haben!
Er hört sie schon reden, die anderen, die
anderen. Als er sich mit der Hand über den Mund fährt, ist ihr Rücken mit einer
roten Flamme gezeichnet. Sein eigenes Blut schreit ihm zu, sein eigenes Blut:
Schuldig, schuldig! So rot ist es. Mein Gott, ich bin doch unschuldig, denkt
er, aber die anderen. Und die anderen sehen ihn an: So sieht einer aus, der
getötet hat.
Er schwimmt und sucht die Flasche. Sie müsste
zur Linken auftauchen, und seine Gedanken sind wieder bei Charles. Wenn es noch
einen Weg gäbe, ihm das zu ersparen. Er selbst wollte nicht mit dieser Schuld
sterben. Und die anderen? Ach immer die anderen. Sie waren so schuldig und so
unschuldig wie Charles, wie er, wie der Kapitän, wie alle. Wie konnten sie
Charles anklagen. Wie konnten sie ihn schlagen. Sie hätten ihn nur festzuhalten
brauchen, als er den Kopf verlor. Aber sie wollten schlagen, wollten sein Blut.
Wenn es noch einen Weg gäbe. Könnte ich doch eine Nachricht in die Flasche
stecken, oder auf das Tuch schreiben, Aber wie und womit. Die Flasche allein mit
meinen Namen ist kein Hinweis. Ich schaffe es nicht, nein es gelingt mir nicht.
Er dachte auch, warum zerbreche ich mir den Kopf über andere. Habe ich nicht
genug mit mir zu tun? Habe ich nicht genug mit mir zu kämpfen? Jeder muss
zusehen, wie er zurechtkommt. Wer kümmert sich um mich? Mein Schiff fährt
weiter. Sollen sie Charles doch schlagen. Er braucht noch nicht zu sterben. Wer
weiß, ob es ihm überhaupt etwas ausmacht, was die anderen reden und denken.
Vielleicht genügt es ihm, unschuldig zu sein. Vielleicht denkt er wirklich nur
an sich und nicht daran, die Rettungsringe über Bord zu werfen. Vielleicht
beschuldigt ihn niemand. Vielleicht!
Aber dann glaubte er wieder dem anderen mehr.
Er war niedergeschlagen, verzweifelt und an Ende seiner Kräfte. Jetzt hatte er
zwei Aufgaben, die eine klein und egoistisch, die andere groß und
undurchführbar. Die Flasche würde er bald erreichen, aber Charles. Ach, wollte
er auch hier nur sich selbst von Schuld befreien?
Zu seiner Linken sah er auf dem vierten oder fünften Berg voraus den
Flaschenhals wackeln. Nur einmal sah er ihn hin- und her schlagen, dann
verschwand er auf dem Rücken. So sicher war er seiner Sache gewesen, dass ihn
ihre tatsächliche Wiederfindung nicht verwunderte, sondern nur den freudigen
Schreck auslöste, den man empfindet beim Anblick des erwarteten, lange nicht
gesehenen, lieben Freundes. Wunderbarer Zauber. War sie nicht eine schöne
Flasche, eine stolze Flasche? Hatte sie den Undankbaren nicht laufen lassen,
ohne ihn zurückzurufen? Wartete sie nicht auf seine Botschaft?
Vier Wellen noch, dann bin ich bei dir. Ich
liebe dich, wie ein hübsches, stolzes Mädchen, das mich nicht einmal ansieht.
Wirst du mir den Gefallen tun? Ich glaube, im Stillen fürchtete ich doch, dich
zu verfehlen, aber jetzt ist das gleichgültig. Und dein Kopf ist schön dick.
Das Tuch wird nicht abrutschen, mein kleiner Bote komm' mir entgegen. Bitte,
komm' mir entgegen. Ich bin nämlich sehr geschwächt und weiß nicht, ob ich noch
fähig sein werde, dir das Tuch umzubinden. Ich werde es aber versuchen. Ich
kann ruhig alle Kräfte verbrauchen, denn den Hinweis muss ich Charles schuldig
bleiben. Aber ich werde dir sagen, ganz laut werde ich dir sagen: „Charles ist
unschuldig“, ganz laut, verstehst du, damit es einer weiß. Ein einziger wenigstens.
Du kannst nicht sprechen, nein und hören auch nicht, aber mich erleichtert es.
Sie kamen sich ganz langsam näher, und er
fürchtete schon den Augenblick, in dem er seine Armbewegungen unterbrechen
würde, um nach dem Tuch zu fischen. Ja, er dachte, ich muss fischen, denn meine
Finger werden sich nur schlecht bewegen lassen, wenn sie überhaupt noch etwas
fühlen. Vielleicht ertrinke ich ja noch, bevor das Tuch an deinem Hals hängt.
Ich werde so schnell machen wie es irgend geht und mich dann gegen nichts mehr
wehren. Es ist lähmend daran zu denken, dass man selbst, das ganze fühlende
Ich, mit dem Körper stirbt. Ich meine, dass ich die erlösende Entspannung, die
absolute Befreiung, miterleben möchte. „Endlich“, möchte ich sagen können, eine
Eischale zerbrechen und daraus hervor schweben, unendlich frei sein. Man müsste
es miterleben, wenn man stirbt, sich noch eine kurze Zeit nach seinem Tode über
alles das unterrichten dürfen, was durch den Tod geändert worden ist. Natürlich
ohne den Willen zu Handeln. Ich würde mich sofort an Bord begeben und sehen, ob
es mit Charles stimmte, ob sie wirklich glauben, dass er mich über Bord
geworfen hat. Auf alles andere könnte ich verzichten. Ja, ich glaube, wenn ich
jetzt die Wahl hätte zwischen so viel Kraft, dass ich noch den ganzen Tag
schwimmen könnte und dem sofortigen Tod, aber einem Bordbesuch, so würde ich
auf das Leben pfeifen. Vielleicht nur, weil ich so kraftlos bin. Aber ich würde
das letztere wählen.
Merkwürdig, dass ich gar nicht mehr auf
Rettung sinne. Ich habe mich mit dem Ende abgefunden und nur noch eine kleine
Aufgabe und einen Wunsch, von dem ich weiß, dass er nicht erfüllt werden kann.
Fast alle meine Wünsche blieben unerfüllt. Vielleicht, weil ich sie mir nie
stark genug gewünscht habe, mit jeder Faser meines Körpers?
Wünsche dir ganz stark, ihr das Tuch um den
Hals zu knoten, vielleicht, dass es dann gelingt. Man muss es wünschen, nur
wünschen, verlangen. Ach, „man", wie ist das allgemein. "Ich"
muss wünschen, alles in mir muss es von mir verlangen. Ich will, dachte er in
spürbarem Zusammenraffen aller Kräfte. Er begann sich zu konzentrieren. Ich
will! Ich will!
Die Flasche schwamm
einen Meter von ihm entfernt. Ihr teilnahmsloses Wackeln mit dem Kopf rief ihn zurück,
und er begann von neuem. Ich will! Ich will!
Seine Hand glitt unter Wasser. Mit der
anderen schwamm er, ganz schräg im Wasser liegend, wie zu Anfang, als er noch
hinter dem Schiff hergewinkt hatte. Eine Hand, einen Arm hatte sein Wille
bezwungen. Mochte es das letzte sein, was er schaffen würde. Ihm fiel ein, dass
die Flasche erfahren sollte, hören sollte, dass Charles kein Mörder sei. Und
während seine Hand unter Wasser war, an seinem Körper tastete, um Fleisch von
Stoff zu unterscheiden, sprach er, beflügelt durch die Gewalt seines Willens,
laut und langsam, indem er die Flasche scharf ins Auge fasste: "Charles
ist unschuldig!“
Einen Augenblick benebelten ihn der Klang
seiner Stimme und die Sinnlosigkeit seines Tuns, aber er hatte es sich vorgenommen
und nun war es geschehen.
Seine tastende Hand schob sich zwischen das
straffe Gummiband seiner kurzen Unterhose und den kalten Körper, der sich wie
ein glattgespülter Stein anfühlte, nur von einer tiefen Kerbe gezeichnet. Die
Hand glitt rechts hinauf und links und schob sich tiefer und etwas auf den
Rücken und fand nichts.
Kein Tuch! Kein Tuch!
Er konnte keinen Gedanken fassen. Ein Spalt
tat sich vor ihm auf. Er trat hinein und fiel und fiel und fiel. Endlos lange
währte sein Fall.
Beide Arme schwammen wieder, und die Flasche
sah er nicht mehr. In seinem Rücken, endlos weit zurück...
Er schwamm wieder mit den Wellen. Sie
erreichten ihn von hinten, hoben und senkten ihn wie Diener, denen das Fragen
verboten war……. Und der Spalt war endlos tief. Er erwartete keinen Aufschlag
mehr. Das Taschentuch hatte er verloren, und eine Flasche hatte es nie gegeben!
Ich war nie zurückgeschwommen, nur geradeaus. Ich werde doch nicht
zurückschwimmen, wenn ich weiß, dass die einzige Rettung nur von vorne kommen
kann!
Hatte er noch
Gefährten? Die kleine Aufgabe oder die große Aufgabe, die Bereitschaft zu
sterben, der Wille zu Schlafen? In seinem Kreuz saß sein Gefährte und lachte
endlos, als sei er von einem kleinen Ausflug zurückgekehrt und amüsiere sich
über den missglückten Fluchtversuch. Die Wellen schwiegen vor überladener List.
Sah er nicht eben die schwarze Flosse aufragen? Wer rief ihn von unten? Wer
hatte sein Herz geraubt? Wer stahl ihm die Tränen? Oh, verflucht, verflucht.
Weinen möchte ich wie vorhin. Weinen! Schreien! Wann darf ich endlich, endlich
sterben?
Nichts wird von mir bleiben! Nichts! Nein,
schlimmer noch: Charles wird bleiben, meine Schuld wird bleiben. Er wird mich
hassen! Ich hasse mich. Er spürte den würgenden Griff am Hals und schluckte
verzweifelt. Die Lider brannten höllisch und die Wangen biss ein Fieber. In ihn
grub sich das zersetzende Gefühl, der letzten Hoffnung, in die er unbedingtes
Vertrauen gelegt hatte, der Hoffnung auf den Tod, den erflehten Tod beraubt zu
sein. Er schwamm in einer giftigen Flüssigkeit, deren Geschmack ihn mit Abscheu
erfüllte, sobald ein Spritzer in seinen Mund traf oder die über sein Gesicht
laufenden Perlen sich auf den Lippen verteilten. Mit dem Trocknen der Lippen
begann ein peinigendes Brennen. Seine Zunge schnellte heraus, sie zu befeuchten
und brachte den widerlichen Geschmack mit zurück. Bitterkeit breitete sich ihm
aus. Erst jetzt bemerkte er den Ekel.
Er beobachtete seine weißen Finger mit den blauroten
Nägeln und ihre metallische Starre. Sein Blick blieb an der Armbanduhr hängen,
und es dauerte einige Zeit, bevor er darauf kam nachzusehen wie spät es war.
Etwas über vier Stunden schwamm schon, das war eine Stunde länger als er sich
selbst gesetzt hatte. Dann glaubte er, sich verrechnet zu haben, aber es war richtig.
Vier Stunden trieb er schon in dieser Öde, in dieser Wildnis der Einsamkeit.
Er wusste nicht, was für Gefühle ihn noch
beherrschten. Es waren Gegen- und Miteinanderwirken von Enttäuschung,
Erstaunen, Verzweiflung und einer Art düsterer Freude, die aufzuckten und
verschwanden wie die Schatten eines vom nächtlichen Wetterleuchten
hervorgerufenen Baumes, wenn er daran dachte, sich fallen zu lassen. Wie im
Anfang. Wie im Anfang, nur unsagbar schwächer, lag er im Meer. Fort waren die
Gaukeleien seiner Gedanken. „Er“ saß ihm wieder im Nacken, spottend, höhnend,
lockend, bereit zu verführen. Ich darf mich nicht untergehen lassen, ich muss
weiter schwimmen.
Ich habe Angst.
Nasse, kalte Angst, die mir weh tut. Sie schmerzt mich in der Brust. Mich
schmerzt meine Angst. Sie brennt mir im Hals und im Herzen. Sie brennt sich ein
in mein Herz, in mein Ascheherz. Sie verschlingt mein Schattenherz. Ich möchte
mich aus dem Wasser heben und die Hände zum Himmel ringen oder zur Hölle, aber
ich möchte dabei schreien, so laut schreien, dass mich die Angst verlässt. Oh,
ich möchte wimmern, erbärmlich um Gnade wimmern, zittern möchte ich wie ein
Hund. Wie ein geschlagener Hund möchte ich wimmern und zittern und die Hände
ringen und schreien und schreien: Ich nicht! Warum ich!
Ach, es ist erbärmlich, dass ich mich so
gehen lasse. Aber mich hört ja keiner. Ich spreche ja nur mit mir. Ich spreche
ja nicht einmal laut. Ich halte den Mund geschlossen. Ich rede ja nur mit mir.
Mir hört doch keiner zu. Mir kann doch keiner zuhören! Wer hört mir denn zu!
Wer denn! Wer denn! Sag doch, wer! Ich! Ich hör' deiner Dummheit zu. Ich selbst
höre dir zu. Ich, dein Ich. Aber du darfst ruhig weiter sprechen, ich kenne
dich und dein kleines Hasenherz. Nein! Nein, ich habe kein Hasenherz! Ich habe
ein großes, offenes Herz. Ich habe ein weites Herz, aber du schnürst es zu, du
engst mich ein. Du machst es zu einem Hasenherzen. Du, mein verfluchtes Ich, du
engst es ein. Du hast mir die Angst in mein großes, weites Herz gepflanzt. Du
allein. Du selbst. Selbst!
Ich muss ruhig
bleiben. Ich darf mich nicht wieder verschlucken. Das wäre mein Ende, mein Tod.
Aber ich kann die Angst nicht vertreiben. Sie sitzt so tief und fest in mir.
Nur schwimmen, nur ruhig schwimmen. Nur ganz ruhig weiter schwimmen. Solange
Arme und Beine sich bewegen, bleibe ich auch über Wasser. Aber die Angst. Sie
raubt mir so viel Kraft. Und ich kann nichts mehr tun. Alles, was zu tun war,
habe ich versucht. Ich darf nur noch warten, warten und hoffen. Und ich weiß
nicht, wie lange ich noch warten kann und auf was ich hoffen soll. Auf mein
Schiff oder auf ein anderes oder ... Vielleicht habe ich die Angst nur vor den
letzten Kampf.
Wenn dieses wirklich schon mein Ende ist, die
letzten Stunden meines Lebens sind, nein, ich kann das nicht glauben, nein, das
kann ich nicht. Ich habe doch eben noch so sehr gelebt. Eben an Bord. Und jetzt
soll alles vorbei sein? Bin ich so ohnmächtig? Ich darf nicht daran denken!
Denk’ an irgendetwas anderes. An die an Bord oder….. Ich bin zu schwach. Und doch
nicht schwach genug, dich untergehen zu lassen. Und die Angst quält mich, und
mein Körper quält mich, und die Gedanken an Charles quälen mich. Ich habe nicht
einmal mehr tröstende Gedanken. Ich bin ärmer als der ärmste Mensch auf der
Erde. Ohne eine Aufgabe.
Ach, ich pfeif auf alles. Ich will Rettung!
Ich will gerettet werden. Ich will, dass ihr mich hier herausholt. Ich will…
Und was geschieht, wenn sie dich herausholen? He? Was geschieht denn dann?
Vielleicht trinkst du dann eine Brühe, schläfst ein wenig, freust dich, bist
wieder der Alte, hast dein altes Leben wieder. Hast du dich je um dein altes
Leben gekümmert, als du noch darin warst? So sehr darum gekümmert wie jetzt?
Und wenn du gerettet wirst, trinkst du eine Brühe und gehst schlafen. Von der Brühe
zu reden war natürlich unsinnig, aber ich dachte, das andere wäre
selbstverständlich, dass ich mich freuen würde, dass ich jeden neuen Tag wie
ein Kind begrüßen würde. Ach, ich bin ein Idiot. Ich denk an Brühe und weiß
endgültig, dass mich niemand, hörst du, niemand herausholen kann. Sie können es
nicht, selbst wenn sie wollten. Finde dich damit ab. Es gibt nur noch mich und
das Meer. In kurzer Zeit nur noch das Meer. Das ist bitter und wahr. Glaube
daran und lass deine verrückten Hoffnungen fahren. Es gibt keine Rettung.
Er war überzeugt davon, und ihn überkam eine
innere Ruhe, abwartende Ruhe. Seine Arme bewegten sich mechanisch. Jedes Mal,
wenn der Gedanke an Rettung auftauchte, beschwor er sich, die Wahrheit doch
endlich fest anzunehmen. Es war ihm als spräche er zu einem Kind, und er war
geduldig mit sich selbst.
Um seine Augen flimmerte immer noch der
Kranz, und er hielt nach nichts mehr Ausschau. Den Horizont sah er nicht einmal
mehr als Farbgrenze. Immer öfter überkam ihn eine Schwäche, die für Sekunden
alle Kraft raubte, ohne jedoch den Rhythmus der Bewegungen zu unterbrechen. War
sie vorüber, blieben Gleichgültigkeit zurück, Ergebenheit und leises Staunen,
noch einmal davongekommen zu sein.
Er schwamm, bis die Sonne ihren
höchsten Stand überschritt. Alan stellte weder die Zeit fest noch nahm er das
Wandern der Sonne wahr. Und doch waren es neun Stunden, seit ihn das Meer in
seinen Armen trug. Neun endlose Stunden, ein einziges Leben, ein unendliches
Dasein. Die Phantasie war tot, nur selten zuckte noch ein Fieberbild über sein
geistiges Gesicht, als ihn jähe Unruhe erfasste. Sein Herz schlug schneller,
und der Tanz seiner Augen glitt erneut über die Kämme, suchte in neuen
Erwachen. Irre Hoffnungen blendeten ihn, und er konnte des Taumels kaum Herr
werden. Es war, als löse er sich von einem Traum, einem bösen, bösen Traum, von
dem Durchstandenen, von dem, was ihn noch so gierig festhielt. Fast empfand er
es wie Spott, dass er noch schwamm, und seine Angst war ihm lächerlich. Er
zwang sich zur Ruhe. Keine Bewegung des Kopfes, kein hastiges Atmen konnte er
riskieren. Nur seine Augen erkämpften sich Wege. Er war überzeugt, dass sich
ein Schiff in der Nähe befände. Er brauchte nur auszuhalten, um gesehen zu
werden. Und dann hörte er tatsächlich das leise Stampfen ferner Motoren. War es
Gaukel, hatte ihn die Beherrschung vollends verlassen? Narrte ihn ein
unerhörter Schwindel? Er horchte wieder angestrengt und alles schwieg. Nichts
war zu erkennen. Dann glaubte er es lauter zu hören als zuvor. Aber es brach
ab, noch bevor er sich darauf zu konzentrieren vermocht hätte. Seine Erregung
wuchs, sein Kopf drängte nach einer seitlichen Wendung, Arme und Beine wollten
schneller rudern. Geduld, Geduld! Dann dachte er, und es schüttelte ihn vor
Enttäuschung, dein Herz, es war dein Herz, was so pochte. Wieder tat sich ein
Spalt vor ihm auf, tiefer, tödlicher als je zuvor. Es war die Sekunde, in der
er sich aufgab. Er befahl Armen und Beinen einzuhalten, schrie es ihnen in
einem schweigenden Krampf zu, will nicht mehr, lasst mich endlich fallen. Er
war eine Maschine, der man keine Befehle mehr erteilen konnte. Sein Körper
würde erst schweigen, wenn der Kopf tot wäre.
Und da pochte es wieder und schwieg nicht und
wurde lauter und blieb und blieb und blieb.
Von der Seite her, nach der sein Hinterkopf
wies, kam ein kleines Motorboot gefahren. Es fuhr um ihn herum, so dass er Gerd
und zwei andere von Bord erkennen konnte. Sie stoppten den Motor zwei, drei
Meter von ihm entfernt. Sie hielten ihm die Pinne hin und er sah das Holz
zwischen seinen Händen. Obwohl er das Gesicht nicht verziehen konnte, spürte er
von innen her ein schmerzliches Lächeln, wie sollte er wohl...
Arme und Beine bewegten sich ohne
Unterbrechung. Die im Boot riefen ihn, aber sein Mund war tot, sein Blick war
leer.
Einer sprang ins Wasser, drängte Alan ans
Boot und schob ihn mit Hilfe der anderen ins Innere. Er selbst kletterte
hinterher. Einer warf den Motor wieder an, und sie legten Alan auf den Rücken.
Er spürte nichts. Dann sah er den gewaltigen Rumpf seines Schiffes an der Seite
aufragen. Nach ein paar Rufen und Handgriffen wurde das ganze Boot an Bord
gehievt. Man schleppte ihn auf eine Matratze, die an Bord lag. Vier, fünf
Männer umstanden ihn und einer sprach auf ihn ein. Alan wollte antworten, aber
der Mund war verschlossen. Jemand aus der Küche kam mit einer Kanne gelaufen
und einer Tasse. Man zwang den Mund sich zu öffnen und flößte ein wenig Brühe
hinein. Alan begann zu husten und man legte ihn auf die Seite, dass er sich beruhigen
konnte. Dort sah er eine kleine eingetrocknete Blutlache auf dem Deck und ein
paar Tropfen weiter fort. Zehn Schritte von ihm entfernt hockte eine
blutverschmierte Gestalt. Es war Charles. Sie drehten Alan wieder zurück. Alle
hatten seinen Blick gesehen. Sie fragten: „War er es“? Alan wusste nicht zu
antworten, aber es gelang ihm den Kopf zu schütten. Es fühlte sich an, als
machten seine Arme immer noch Schwimmbewegungen.
Trennung
zweiter Art.
…was Pina Bausch‘s Tod betrifft, hat es mich schwer
erschüttert. Ich hatte zwei Begegnungen mit ihrer Truppe und jedes Mal auch mit
ihr. Schon das erste Mal hatte ich eine meiner Vorahnungen, die ich dir jetzt
etwas komprimiert erzählen möchte.
Damals, das war tatsächlich etwa um 1985 war sie in
Hamburg in der Kampnagel mit ihrem Stück "Cafe Müller". Die Karten
waren schon lange ausverkauft und ich hatte ca. zwei Stunden vor Beginn eine
meiner Eingebungen "...nun kannst du hingehen, es liegt eine Karte für dich
bereit." Das hat mich nicht überrascht und ich bin hin zur
Kampnagel-Fabrik. Dort war alles an der Kasse leer, nur ein Student oder so,
saß da noch herum. Ich bin zu ihm rein und brauchte nicht zu fragen sondern er
bot mir sofort eine Karte an: "Die ist eben zurückgegeben worden. Die
können Sie haben."
So bin ich also da
rein gekommen und war total fasziniert von einer für mich neuen künstlerischen
Welt. Sie tanzte mit und auf Stühlen. Ich dachte immer, dass Neumeier Neues
brachte, aber sie setzte allem die Krone auf. Noch in der Nacht habe ich ihr
ein seitenlanges Gedicht meiner neuesten Fassung zugesandt und natürlich nie
wieder etwas von ihr dazu gehört.
(Cafe Müller,
gewidmet Pina Bausch,
09.1984) Deine
Brüste waren schlaff Und
ausgetrunken hatten sie dein Herz, Es
schwoll trotzdem und schickte heiße Boten
aus mit freundlichen Geschenken, Und
ich nahm, was du mir gabst, und gab mich Auf
den flachen Boden, Und
die Tänzerin, die aus dir stieg, lief über mich, Und
ihre Füße traten nicht auf mich, Du
warst mir lieb, Ich
stemmte dich mit meinen Händen
hoch zu mir und räumte in dem Saal voll Leerer
Stühle deinen freien Weg, Und
ich verwarf die Sitze und die Tische, Und du
solltest dich hier nicht verletzen, Und du
liefst an eine harte Wand, Die konnte
ich nicht schnell genug Versetzen. |
Ich
griff ganz fest um deinen Leib, Du
hättest schreien müssen, Denn
ich schlug die Pflöcke Tief
in dich, Und du
warst fest entschlossen, Und
den Preis, den du vergeben wolltest, Kannten
wir, er war bereits vergeben, Und
ich hob dich hoch, Und du
hobst mich, Ich
warf dich an eine Mauer
neben uns, so wie du mich, Die
nahm nichts an Und
lehnte auch nichts ab, Und
lange schöpfte ich an dir. |
Wir
suchten in dem großen Saal Nach
uns vertrauten Spuren, Und die
Füße hielten wir ganz nah am Boden,
der war schmutzig, Und er
färbte unsre Sohlen schwarz im Kuss, Und
deine Augen waren dir verschlossen in der Hoffnung, Und es
räumte keiner auch nur eines dieser Hindernisse
an die Seite, Und
sie mussten dich ja in die Irre
leiten. |
Im Jahr 1991, das war im März, musste ich in die Nähe von
Wuppertal, um meine mündliche Prüfung für meinen Sicherheitsingenieur zu
machen. Aus ganz Deutschland waren etwa 65 Personen eingeladen, und ich dachte sofort
an P.B. Die Prüfung konnte mich nicht schrecken, weil ich einfach alles wusste,
und eine Wissensprüfung sowieso nicht erfolgen sollte. Schon als ich in dem
kleinen Ort, noch vor Elberfeld, ankam, hatte ich nur noch sie im Kopf. Am
nächsten Tag bin ich also zu einem Reisebüro und der gleichzeitig einzigen
Vorverkaufsstelle gegangen, um mich nach einer Möglichkeit zu erkundigen. Dass
sie etwa nicht spielen würde, kam mir nicht in den Sinn. Das Geschäft hatte
noch auf, und es hing eine Vorankündigung im Fenster. Darauf stand sie als
Ankündigung für eine der nächsten Tage mit dem Stück: "Nelken", Ende
offen, wegen der freien Inszenierung, Dauer mindestens zweieinhalb bis
dreieinhalb Stunden, und, zu meinem Schrecken, handelte es sich um eine geschlossene
Gesellschaft, alles Banker. Der Verkäufer machte mir keine Hoffnung: "Das
können Sie wirklich vergessen, die sind alle unter sich." Punktum. Die
Vorstellung sollte am nächsten oder übernächsten Tag um 20.00 Uhr beginnen. An
dem Abend so gegen 18.00 hatte ich wieder eine meiner Eingebungen: "Du
kannst jetzt ganz ruhig losfahren, es ist alles in Ordnung und sehr schön
vorbereitet." Von nun an lief alles wie von Geisterhand. Ich erkundigte
mich, wie ich nach Wuppertal käme und wo so etwas stattfindet. "Die tanzt
immer in der Oper. Erst nehmen Sie den Bus nach Elberfeld und dann die
Schwebebahn bis Sie die Oper sehen, die kann man nicht übersehen." Als ich
beim Bushalteplatz ankam, traf gerade der Bus ein und fuhr gleich los. Die Zeit
rann mir unter den Fingern davon. In Wuppertal-Elberfeld bin ich in die
Schwebebahn, die nur auf mich zu warten schien. Trotzdem war ich erst so um
20.20 Uhr an der Oper. Ich hatte zwar oft gefragt, nach der Station usw. aber
man hat mich immer beruhigt: "...die ist nicht zu übersehen." Ok. An
der Oper stieg ich aus und ging über einen menschenleeren, wirklich
menschenleeren Platz und schaute in eine große Eingangstür. Es war niemand zu
sehen. Dann ging ich weiter zu einer anderen Tür und sah ziemlich weit hinten,
im Dunklen, so eine Art Bedienung stehen. Es waren drei oder vier
Garderobenfrauen, die mich gebannt anschauten. Ich bin auf die zu, und eine
sagte zu mir: "Sie haben Glück, da drinnen ist noch eine Demo. Sie haben
nichts versäumt." Eine andere nahm mir meinen Mantel ab, gab mir eine
Marke, und eine dritte öffnete vorsichtig eine Besuchertür, wies auf einen
Platz am Rand in der vierten oder fünften Reihe und wünschte mir viel Spaß. Da
habe ich mich hingesetzt und der Pinguin neben mir sagte: "Es soll jetzt
gleich losgehen. Bisher gab es gar nichts besonderes."
Ich habe dann P.B. und ihre Tanzgruppe ein zweites Mal
gesehen und war wieder total aufgeregt. Nach etwa eineinhalb Stunden wurde
alles unterbrochen und die Banker überreichten ihr einen Preis, den sie an die
Folkwang-Tanzschule weitergab. Das dauerte sehr lange und danach ging es bis zu
einem vorzeitigen Ende weiter. Dann rief man auf zu einem kleinen Bankett mit
Sekt usw. Ich habe mich aber abgesetzt, um den letzten Bus noch zu bekommen.
Das hat alles sehr gut geklappt. Zuvor, in der Schwebebahn fragte mich ein
Herr, der ebenfalls vorzeitig gegangen war: "Berichten Sie auch für eine
Zeitung oder so?" Ich habe ehrlich geantwortet, dass ich nur durch Zufall
dabei gewesen sei. Das hat ihn aber nicht weiter berührt.
Ja, lieber Leser, das waren meine beiden Begegnungen mit
P.B.
Trennung dritter Art.
Sie fordern mich also auf, die ganze Geschichte, nein,
eigentlich den Schluss der Geschichte zu erzählen.
Dabei muss ich
zugeben, dass ich gerne sagen würde, dass ich dafür gar keine Zeit hätte oder
so etwas ähnliches. Ja, Sie haben recht,
es geht oder ging schließlich um meinen Bruder, einen meiner Brüder. Wir sind ja fünf Geschwister. Waren es.
Wie alt mein Bruder war, als es passierte? Warten Sie.
Das war vor eineinhalb Jahren. Da
war er 52. Sehen Sie, wir stammen aus
einem Hause, wo jeder seiner eigenen Wege gehen konnte. Ich meine nicht nur im Alltag, sondern auch
in seinen Gedanken. Das mag an der Zeit
gelegen haben, aber mit Sicherheit auch an der oder nicht vorhandenen
Erziehung, oder, heute würde ich sagen, es lag an der Seelenlosigkeit des
Umganges, den wir Kinder miteinander hatten und, während des Krieges und der
ersten fünf Nachkriegsjahre, als mein Vater noch in der russischen
Gefangenschaft war, an der Seelenlosigkeit des Umganges der Mutter mit den
Kindern und noch später an der von beiden, nämlich Vater und Mutter. Nein, Sie
dürfen nicht denken, dass ich Vorwürfe erheben möchte. Lassen Sie mich Ihnen
drei Beispiele geben:
Mein ältester Bruder,
also der, um den es hier geht, goss sich als Jugendlicher Spiritus über die
Hand und auf die Oberschenkel und zündete sich an. Wir kannten ihn und erschraken nicht. Die
kleinen bläulichen Flammen auf seiner Haut konnte er immer wieder löschen.
Mit der Hand machte
er zwei, drei schnelle Bewegungen und schüttelte die Flamme aus. Es roch etwas nach verbrannten Haaren. Mein Bruder war wortkarg. Auf Fragen antwortete er nur, wenn er
wollte. Nein, er sagte immer, dass er keine
Schmerzen empfände. Er stach sich auch eine feine Nadel senkrecht in den
Oberschenkel.
Eine andere
Geschichte erfuhr ich vor noch gar nicht langer Zeit aus dem Munde meiner
Mutter, als sie mit etwas Stolz in der Stimme erzählte: "Meine eignen
Kinder habe ich nie auf dem Schoß gehabt. Das müsst ihr doch noch wissen. Dafür hatten wir immer eine Kinderfrau."
Meine Kindheit zeigt mir noch meinen andren Bruder. Der saß oben im zweiten Stock unseres Hauses
dauernd vor dem Küchenfenster und malte die gegenüber liegende Kirche. Wir
Geschwister unterhielten uns wenig miteinander.
Sehen Sie, darin, und in vielen anderen Begebenheiten, erkenne ich
heute, im Nachhinein, eine gewisse Seelenlosigkeit. Ich selbst neige dazu. Meinen Sie nicht? Na, Sie können das nicht beurteilen, aber ich
bin auch ein Einzelgänger oder besser ein Eigenbrötler. Bin zum Beispiel gern' allein. Sehr gerne.
Na ja, wir werden das Gespräch schon zu Ende führen. Bestimmt.
Wenn ich auch der Meinung bin, dass ich erstens kaum etwas dazu sagen
kann, und es Sie ja eigentlich auch wenig angeht. Nein, ich möchte Ihr Interesse daran wirklich
nicht erfahren.
Damals rief mich
meine Schwester an und lud mich zu einem Konzert ein. Ihre Tochter war auch dabei. Sie hat zwei bildschöne Töchter. Für meine Begriffe bildschön. Sie sind zart mit feinen Gesichtszügen. Das muss ich deswegen sagen, weil ich an
interessanten Gesichtern "kleben" bleibe und viel zu lange
hinschaue. Ich bin aber oft so
fasziniert, auch von den Bewegungen, dass ich mich leicht verliere. Das hat mit Begehren oder so etwas überhaupt
nichts zu tun. Es ist eine Art Studium
am Objekt. Ich würde zu gerne malen,
Natürlich. Entschuldigen Sie, das gehört
nicht hierher. Nach dem Konzert gingen
wir drei in ein sehr schönes Restaurant in einer großen Hotelhalle in der
Innenstadt, und ich musste meiner Schwester noch vor dem Eingang einfach sagen:
"Dafür hab' ich kein Geld." Die beiden Frauen lachten. Ich mag mich nicht gerne aushalten
lassen. Meine Schwester, ihre Tochter
und ich bestellten einen kleinen Nachtteller, mit Salat und wenig Fleisch. Ich meine, es gab auch Wein dazu. Meine Schwester ist in meiner Erinnerung
nicht die "liebe Schwester", sondern die herum erziehende Schwester
gewesen. Deshalb sind wir uns viele Jahre
etwas aus dem Weg gegangen. Mir fiel nun
auf, dass sie sehr viel redete und sich in einem Gespräch mit ihrer Tochter
verfangen hatte. Zu mir gewandt sagte
sie plötzlich: "Sag' doch auch 'mal 'was dazu. Es ist doch auch dein Bruder." Ich nahm
mich zusammen, auch weil ich mich in der Umgebung nicht wohl fühlte. Meine Schwester redete schon wieder. Es ging um meinen ältesten Bruder. Verstehen Sie, sie sprach mich an, aber gab
auch die Antworten selbst. Mein ältester
Bruder war ihr in seinem Verhalten aufgefallen.
Er war ihr zu still geworden und zu zurückgezogen vorgekommen, als wir
alle, also Geschwister mit Anhang, kürzlich bei ihr zu Besuch gewesen
waren. Sie sagte nun: "Man muss
doch irgendetwas für ihn tun können." Ich platzte dazwischen. Ja, so bin ich, und daran sehen Sie meine
eigene Kälte, Gefühllosigkeit: "Was willst du machen, was könnten wir
tun. Er lässt doch niemanden an sich
heran. Er erzählt nichts von sich. Wir wissen nichts von ihm. Viel zu wenig jedenfalls. Kaum, dass ich ihn noch besuche. Und ganz ehrlich, ich habe auch gar kein
Verlangen danach." Meine Schwester gab nicht auf: "Er ist doch unser
Bruder." Ich wieder: "Er lässt sich einfach gehen. Dem ist doch wirklich alles egal. Wenn ich mich so verhalten würde, könnte ich
gleich einen Strick nehmen." Meine Schwester: "Meinst du, er könnte
sich etwas antun?..oder würde?" Hören Sie gut zu. Ich sagte: "Das weiß ich doch nicht, und
wenn er sich aufhängt, kannst du auch nichts machen und ich auch nicht. Oder willst du zu ihm hinfahren. Dann müssen wir jetzt sofort aufstehen, ins
Auto steigen, ihn aus dem Bett holen und Händchen halten." Die Tochter kam
dazwischen: "Man kann euch gar nicht zuhören. Mir wird richtig schlecht von eurem
Gerede." Meine Schwester sagte, und glauben Sie mir, es ist die reine
Wahrheit: "Meinst du, dass er sich aufhängen wird?" Und ich Idiot
sagte: "Das weiß ich doch wirklich nicht.
Vielleicht. Vielleicht nimmt er
Tabletten. Vielleicht ist er auch
glücklich so. Ich weiß es nicht. Ich kann es nicht wissen! Ich habe keinen Zugang zu ihm." Der
Abend war schlimm. Sehen Sie, meine
Phantasie ist mein Nachteil. Vielleicht
bin ich meinem Bruder aber auch zu ähnlich, oder er mir. Von nun an dachte ich den ganzen Abend
immerzu ans Aufhängen. Wie das funktioniert,
meine ich. Ich dachte an Einzelheiten,
die zur Hand oder vorbereitet sein müssen.
An den Entschluss, es zu tun, dachte ich dabei nicht eine Sekunde,
obwohl es eigentlich das Wichtigste sein müsste.
Wir trennten uns vor
der Haustür meiner Schwester. Ich machte
von dem Abend noch ein paar Notizen und eine kleine Zeichnung, was ich wirklich
nur gelegentlich mache. Hier, sehen Sie. Ja, die Skizze zeigt uns am Tisch. Zuhause
trank ich noch ein Glas Wein und ging dann schlafen. In meinem Kopf arbeitete es weiter. Gegen 23.40 Uhr habe ich mich hingelegt und
gegen 0.30, also nicht einmal eine Stunde später, bin ich wieder aufgestanden,
weil ich mich nicht ertragen konnte. Im Halbschlaf hatte ich fortwährend den
Gedanken, mich aufzuhängen. Ich konnte
ihn nicht loswerden, Im Traum suchte ich zunächst nach einem Seil, nach einem
geeigneten Seil. Ich verfiel auf das
Autoabschleppseil, weil sich daran so eine gebogene Stahlschlaufe befand, durch
welche das Seil gut rutschen konnte. Ich
suchte dann nach einem Haken, um das Seil zu befestigen. Nirgends fand ich
etwas Geeignetes, so dass ich die Bohrmaschine holen wollte, um einen Haken
anzubringen. Mein Blick fiel auf eine
Wasserleitung. Die verlief über einem kleinen Schacht im Keller. Alles war plötzlich wie vorbereitet. Von nun an erinnerte ich mich nicht mehr an
Einzelheiten sondern an den Satz: "Ich erhänge mich." Nichts weiter. Dieser Traum wiederholte sich ein zweites und
wenigstens noch ein drittes Mal. Ich
wurde schließlich wach, hellwach, stand auf und spottete innerlich über mich,
dass ich mich durch das "Gefasel der Weiber" in eine derartige Unruhe
hatte versetzen lassen. Meine Frau war verreist, ich war ganz allein in dem
Haus. Ich schaltete den Fernseher
ein. Daher weiß ich auch die genaue
Uhrzeit. Der Apparat lenkte mich ein wenig ab, und ich konnte schließlich einen
neuen Anlauf nehmen. Morgens stand ich
früh auf. Ich hatte diese Tage frei oder
Urlaub und hielt mich im Hause auf. Spätestens gegen 10.00 Uhr rief mich mein
jüngster Bruder an. Er war in der Firma.
Er sagte gleich: "Du, es ist etwas ganz Entsetzliches passiert. Unser ältester Bruder hat sich
aufgehängt." Er sagte nicht den Namen unseres Bruders, sondern er
umschrieb ihn, indem er sagte: unser ältester Bruder. Ich sagte: "Nein," aber in meinem
Kopf sagte es: Ja. Er sagte dann: "Jemand muss zu B. Es muss sofort etwas gemacht werden."
Ich sagte. "Das ist ja furchtbar, was sollen wir denn machen?" Hören
Sie zu, wie kopflos man sein kann. Mein
Bruder sagte: "B hat mich eben angerufen, sie weiß nicht, was sie machen
soll. Er hängt vor ihrem
Wohnzimmerfenster an der Kinderschaukel.
Im Nachthemd.." Ich wieder: "Hat denn die Polizei oder ein
Arzt.... " Er: "Du kennst sie doch.
Sie ist eben erst aufgestanden und hat das gesehen." Ich sagte
also: "Gut. Ich kümmere mich darum." Er wieder: "Würdest du zu ihr fahren? Du bist doch der einzige, der Zeit hat."
Ich war auch durcheinander, denn ich fragte ihn nach der Anschrift meines
Bruders. Die hatte er parat. Dann legten wir auf, und ich rief die Polizei
an. Eine ruhige Stimme war in der Leitung.
Ich erklärte, was ich wusste und dass ich hinüberfahren würde.
Es waren knapp sieben
Kilometer, also keine Entfernung mit dem Auto.
Ich verstehe Sie. Ich weiß genau,
was Sie sagen wollen und weswegen Sie möchten, dass ich Ihnen alles
erzähle. Alles jedenfalls, was ich
weiß. Ich komme noch auf den Punkt. Ich glaube, wir sind schon nahe dran. Sie müssen auch ... Nein, Sie müssen gar
nichts. Also, ich stieg ins Auto und
fuhr hinüber. Ich konnte mich nicht in
die Lage der Frau versetzen. Ich weiß
nicht, wie es ist, wenn der Ehemann vor dem Wohnzimmerfenster erhängt ... Ich
meine, das Gefühl habe ich doch nicht nachempfinden können, oder? Meine eignen Gefühle? Darüber sprechen wir ja gerade. Das Bild von dem und die Unsicherheit über
das, was mich wohlmöglich erwartete, setzten mir arg zu. Ich hatte wenig Mut zu dem Besuch, das gebe
ich zu. Als ich schließlich ankam, wurde
mir von einem der Kinder geöffnet. Es
war der älteste Junge. Er hatte keine
Tränen in den Augen. Auf der Straße, etwas abseits, hatte ich ein
Polizeifahrzeug erblickt. Es fiel nicht
weiter auf, stand wie zufällig da, so dass ich es fast übersehen hätte. Ich wusste nicht, was ich dem Jungen sagen
sollte und fragte nach seiner Mutter.
"Die sitzt im Zimmer." Also im Wohnzimmer, dachte ich. Ich ging hinein. Unerwarteter weise saß mein jüngerer Bruder,
also der, der mich angerufen hatte, schon bei ihr. Er war also doch gefahren. Wenig später traf
meine Schwester ein. Beim Eintreten
hatte ich sofort verstohlen aus dem Fenster geschaut. Die Schaukel war leer. Ich wagte nicht
nachzufragen. Als ich dann auf meine
Schwägerin sah, die mit verquollenen Augen einerseits abwesend zu sein schien
und andrerseits hilflos nach einem festen Punkt Ausschau hielt, überkamen mich
auch die Tränen. Ich beugte mich zu ihr
hinab und nahm sie, so gut es ging, in den Arm.
Wir stellten uns beide sehr ungeschickt an. Ich glaube, es war das erste Mal überhaupt,
wenn man von einer "Umarmung" bei irgendeinem Tanz einmal
absieht. Immerhin kannten wir uns schon
über zwei Jahrzehnte. Es ist doch kaum
zu glauben, nicht wahr? Sie fasste sich
angenehm an. Mir fiel dabei eine
Kuriosität aus meinem Elternhaus ein: Zwischen den Eltern und den Kindern,
sowie den Kindern untereinander hat es nie körperlichen Kontakt gegeben, wie
zum Beispiel einen Händedruck, einen Kuss, Wangen streicheln, auf den Rücken
klopfen, gegenseitiges Waschen. Die
Ausnahmen waren die eigentliche Kuriosität.
Die erste: mein Vater schlug uns Kinder, natürlich nur die Jungen, mit
dem Stock, und zwar häufig. Die zweite waren mein jüngster und mein ältester
Bruder, die sich des Öfteren gegenseitig, wegen eines genüsslichen
Wohlbefindens, den Rücken "kraulten". Über meine Schwägerin gebeugt,
sagte ich in ihr Ohr: "Es reicht doch, wenn einer von uns beiden
weint." Ich schämte mich einfach.
Sie lächelte schwach und hatte mich sicher nicht verstanden. Ich dachte, es ist nicht wahr, dass du
weinst. Gib es wieder auf. Achte auf alles, was du siehst und sag' nicht
diesen blöden Satz zu der Frau: 'Wenn ich dir helfen kann, dann lass es mich
bitte wissen.' Etwas Einfallsloseres kann man, finde ich, wirklich nicht sagen.
Ich hörte meine Schwägerin "Lass bitte nicht den Hund raus. Er läuft sonst
wieder gleich dahin."
Jetzt erst nahm ich
bewusst den Polizisten auf dem Sofa wahr.
Er hatte bis dahin geschrieben, sah nun auf zu mir und sagte erklärend:
"Der Verstorbene liegt im Garten noch unter einer Plane. Wir müssen auf die Kollegen von der
Spurensicherung warten. Dann wird er
abgeholt. Das wird noch etwas
dauern." Mein Bruder lag also draußen im Garten im Nachthemd tot unter
einer Plane. Der Polizist fragte, ob es irgendwelche Gründe oder einen
Abschiedsbrief... Also, wissen Sie, innerlich musste ich lachen. Da gab es doch keine Gründe, außer eben den
Gründen. Einen Brief hatte es doch nicht
geben können. Warum wohl auch. Der
Polizist war jung und er sprach sehr gedämpft. Ich bewunderte ihn. Ich dachte mir, er macht seine Sache
gut. Er muss ja diese Sache
abwickeln. Dabei hat er Ziele zu
erreichen. Für ihn muss es doch heißen:
erstens die Leidtragenden richtig einschätzen.
Er kann nicht wissen, ob die trauern, wirklich trauern oder heucheln, ob
sie vielleicht die allerschlimmsten Gründe zur Trauer haben. Er muss neutral, gefühlsbetont, aber sachlich
und ruhig seine Fragen stellen und zwar so, dass er auch eine Antwort erhalten
kann und ihm nicht die Angesprochenen vor Rührung und Tränen zerfließen, oder
ihn wegen einer Unterstellung oder einer ganz direkten Frage, wie: 'Können Sie
sich erklären, warum Ihr Mann sich selbst das Leben genommen hat,'
missverstehen und wütend werden. Er muss
natürlich darum bemüht sein, alles schnell und richtig zu tun, was polizeilich
oder ermittlungstechnisch, ich weiß nicht, wie es richtig heißt, gemacht werden
muss. Es dürfen ihm später nicht
Antworten fehlen. Man darf nicht
vergessen, dass dieser Polizist, wenn er in sein Auto steigt, möglicherweise
zum nächsten Unglücksfall fahren muss. Wahrscheinlich hat er so eine Art
Strategie. Schon beim Betreten des
Hauses muss er sich seinen Rückzug sichern.
Bedenken Sie doch, dass es leicht vorkommen könnte, dass ihn jemand am
Fortgehen zu hindern versuchen wird.
Schließlich zeigt er doch beim Verlassen des Hauses, durch sein Abschied
nehmen die Unumgänglichkeit der Situation, deren Endgültigkeit auf. Er zieht, durch sein Weggehen, einen
sichtbaren Schlussstrich. Das ist doch
sicher bitter für viele, oder? Ich sah
wieder auf die weinende Frau. Ich nahm
sie in Schutz und dachte mir, dass nicht nur Selbstmitleid und Trauer sondern
das Gefühl des Verlustes und zwar des Verlustes an eigener Substanz, an eigenem
Leben, sie erschüttern musste. Ihrem
Leben musste doch etwas genommen worden sein.
Sie selbst musste ein Stück gestorben sein. Natürlich wusste ich nicht, ob es stimmen
konnte und was vielleicht in ihr gestorbenen, in ihr getötet worden war. Viel
später erst würde sie die Größe der Wunde erkennen können. Die Wunde wird dann zum eigentlichen
Schmerz. Ich neigte dazu, ihn in diesem
Augenblick mit dem Schmerz einer unerfüllten, aber sonst maßlosen Liebe zu
vergleichen. Eine solche Wunde heilt
nie, schmerzt immer und erhält im besten Fall einen dünne Haut. Jetzt, im Augenblick des Entstehens, war
dieser Schmerz noch ein ferner Schmerz, ein unpersönlicher sich aufdrängender
Besitz. Irgendwann wird er dann zum
Begleiter, zur Tatsache, und man wird selbst Wunde und Schmerz und beginnt zu
begreifen. Schmerz dieser Art ist ein, wenn Sie diesen Ausdruck bitte
gestatten, ohne ihn missverstehen zu wollen, ist im wahrsten Sinne
'ehebrecherisch', ein Betrug, der nicht passieren darf und der so alt ist, wie
Schmerzen bewusst sind.
Meine Schwägerin
erzählte dem Polizisten: "Letzte Nacht ist er wieder aufgestanden. Unser Ältester war so laut in seinem
Zimmer. Er ist zu ihm hinüber gegangen
und hat gesagt: 'Du bist genauso rücksichtslos wie mein Vater'. Der Junge hat doch seinen Großvater nie
gekannt." Wissen Sie, mit dieser Bemerkung traf sie mich. Über meinen
Vater sprach ich nie gerne. Ein für mich
dunkles Kapitel, ein freudloses. Ein
Vater, der nur feststellen konnte: 'Ihr habt ein Dach über dem Kopf.. Solange
ihr in meinem Hause lebt, wird gemacht, was ich sage ... wem es hier nicht
passt, der kann gehen. Ein Vater, der immer recht hatte, immer alles besser
wusste und ein Besserwisser in jeder Beziehung war.. Ich will es nicht
vertiefen, weil ich mir denke, dass es nicht gut ist, so an sein Zuhause denken
zu müssen. Nein, Erfreuliches weiß ich
nicht zu berichten, also ich sage es ungern, aber meine Eltern sind für mich in
jeder Beziehung fremde Menschen gewesen und geblieben.
Mutterliebe,
Vaterliebe sind für mich inhaltslose Worte.
Natürlich kenne ich auch keine Heimatgefühle, Vertrauen in die
Geborgenheit einer angenehmen Wohnung, in deren Behaglichkeit zum Beispiel,
Noch heute kann ich auf alles völlig verzichten. Ich hänge an gar nichts. Wenn jemand von seinem Zuhause schwärmt, sind
das für mich fast lächerliche Gefühlsäußerungen.
Sie glauben
natürlich, dass ich im Nachhinein alles verfärbt sehe. Aber über diese
Geschichte aus meiner Jugend, damals war ich gerade dreizehn Jahre alt, können
Sie ja selbst urteilen: Es war so, dass ich schon in diesem Alter abends gerne
lange ausblieb. Am liebsten wäre ich für
immer fort geblieben. In der Praxis sah
das nun so aus: Mein Vater hatte verkündet, wer achtzehn ist, darf rauchen und
bekommt einen Haustürschlüssel. Davon
profitierte zunächst nur meine Schwester.
Die war aber ohnehin immer rechtzeitig zu Hause, das heißt vor 22
Uhr. Das erwartete man einfach. Um 22
Uhr wurde die Haustür dann von innen abgeschlossen. Der Schlüssel blieb stecken. Mein Vater sagte: 'Wer um zehn nicht zu Hause
ist, muss sehen, wo er bleibt.' Für mich
war es normal, mindestens zweimal in der Woche erst gegen 24 Uhr von Freunden
nach Hause zu kommen. Manchmal wurde es
auch ein Uhr. Im Hause gab es keine Kontrollen.
Mein Vater meinte das, was er sagte.
Es war also gleichgültig, ob die Familie vollzählig war oder nicht. Ich kam nun aber verspätet heim. Das lief dann so ab: Von der Längsseite des
Hauses entnahm ich eine lange Holzleiter und stellte die an das Haus. Sie reichte gerade bis zum Fenstersims des
Zimmers, das ich mir mit meinem jüngsten Bruder teilte. Es lag im ersten Stock. Mein Bruder hatte die Fensterklappe, eine
kleine Luke, offenzuhalten. Hatte er das
vergessen, weckte ich ihn durch Klopfen.
So stand ich also auf der obersten Sprosse, langte durch die kleine
Öffnung und machte das Fenster von innen her auf. Die Fensterflügel klappten in das
Zimmer. Ich stieg ein, schloss hinter
mir alles wieder zu und ging durchs Haus in den Keller, also an die Kellertür. Dabei brauchte ich nicht etwa leise zu
sein. Ich schloss dann die Kellertür
auf, ging hinaus, schleppte die lange Leiter fort, sie war etwa sieben Meter
lang, ging dann auch ins Haus, schloss endgültig ab und ging ins Bett. Ich fand alles ganz normal.
Als meine Schwägerin
mich, über die letzten Worte meines Bruders, an meinen Vater erinnerte,
schossen mir natürlich diese Geschehnisse durch den Kopf. Ich dachte auch so: Erinnerungen zwingen sich
einem auf. Merkwürdig, dass man sich
Erinnerungen nicht aussuchen kann.
Wissen Sie, mein Leben ist, um es auf einen Nenner zu bringen, ohne jede
Liebe verlaufen. Ich verglich das Leben
meines Bruders mit meinem ... Und wo waren nun die Unterschiede? Verstehen Sie, dass mir sein Tod 'normal'
vorkommt? Nein, was Sie da sagen, stimmt
nicht. Es war ja kein Freitod oder
freier Tod. Dieser Selbstmord war ein
ganz normaler, zwangsläufiger Tod, ein Zwangstod, der mit nichts zu vermeiden
war. Nein, ich bin noch nicht bei der
Frage nach einer Schuld.
Später, ich greife
jetzt ein wenig vor, als die Beerdigung war, wurde ich auch nach möglichen
Gründen gefragt. Was hätte ich sagen
sollen. Ich antwortete: 'Ja, ja, Es ist für alle unfassbar, aber er litt an
Depressionen. Das wurde sofort
verstanden. Es wurde dann noch gefragt,
ob er in Behandlung gewesen sei. Darauf
antwortete ich, dass mein Bruder an 'tiefen Depressionen' gelitten habe. Damit erschlug ich jede Rückfrage. Es wurde höchstens noch zustimmend
genickt. Nun kannte man sich offenbar
aus. Es ist klar, dass ich gelogen hatte.
Bei dem Leben das hinter uns lag, konnte man doch nur von Deformationen,
verstehen Sie, ganz simplen Verformungen reden, von Verkrüppelungen und einer
ungeheuren innerlichen Austrocknung, die natürlich, ganz natürlich, zum
Vertrocknen führen mussten. Aber zurück.
Meine Schwägerin erzählte weiter: "Es war ja nicht an ihn
heranzukommen. Oft stand er nachts auf
und ging ins Wohnzimmer. Anfangs hatte
ich noch nachgesehen, was er dort machte.
Wenn ich in das Zimmer kam, war alles Dunkel und es dauerte, bis ich ihn
am Fußboden ausmachte. Er hockte dort
nur und sah in die Dunkelheit. Licht
mochte ich nicht machen. Ich ließ ihn
einfach da. Was blieb mir übrig. Letzte Nacht war es wieder so. Ich dachte gleich, jetzt geht er wieder ins
Wohnzimmer." Der Polizist fragte, wann denn das gewesen sei. "Das war genau um fünf Minuten nach
zwölf." Nach einer kleinen Pause: "Er wird dann gleich in den Garten
gegangen sein." Ich dachte sofort an den letzten Abend mit meiner
Schwester und ihrer Tochter und an meinen Traum um diese Uhrzeit. Zu meiner Schwester wagte ich nicht hinüber
zu schauen. Vielleicht erging es ihr,
wie mir. Vor meinen Augen tauchte ein Gemälde
auf, welches nur noch aus zwei aufeinander liegenden Farbblöcken bestand. Das, dachte ich, ist Deformation.
Hilfe konnten wir
meiner Schwägerin zunächst nur bei der Abwicklung der vielen Dinge sein, die
nun auf sie zu kamen. In der Familie blühte eine Art Solidarität auf. Man tat,
was getan werden musste und zwar mit Anstand und ohne Tränen. In einem späteren Gespräch mit meinem
jüngeren Bruder fiel eine Bemerkung. Er
sagte, fast beiläufig: "Dies war ja wohl der zweite Versuch bei ihm. Und wenn es nicht geklappt hätte, hätte er es
doch wieder versucht." Davon war ich betroffen und sprachlos. Er sah in mein Gesicht und sagte weiter:
"Na, du weißt doch, dass er vor drei Jahren wegen seiner
Tablettenabhängigkeit über ein viertel Jahr im Krankenhaus gelegen hat. Und hinterher war er doch fast ein halbes
Jahr aus dem Beruf." Ich musste immer noch entgeistert gucken, denn er
sagte: "Mann, du hast ihn doch selber dauernd besucht. Im Krankenhaus. Hast du das vergessen?" Ich sagte
schnell: "Nein, nein, das stimmt, du hast recht, aber eine Verbindung habe
ich da nicht gesehen." In Wahrheit war mir nie der Gedanke gekommen, dass
er sich damals schon hatte umbringen wollen. Es wäre eine zu große Tragik damit
verbunden gewesen. Stellen Sie sich vor,
ich hätte das damals bereits vermutet oder die Gewissheit über seine Absicht
gehabt. Ich hätte ja pausenlos diese
Angst, diese Bedrohung vor mir gesehen, diese Furcht, dass er sich erneut etwas
antun würde. Ich fragte zurück: "Hat seine Frau das denn etwa auch
geahnt?" Er: "Das weiß ich doch nicht." Dann: "Vielleicht
hat ihr der Arzt das anvertraut. Ja, ich
glaube, ich weiß es sogar von ihr. Er
ist in diese Abhängigkeit geschliddert.
Morgens hat er Tabletten gebraucht, um seinen Beruf ertragen zu
können. Tagsüber musste er sich mit
anderen Tabletten beruhigen und abends konnte er ohne Tabletten nicht
schlafen. Sie hatte überall in der
Wohnung Tablettennester entdeckt. Es müssen ja wohl Hunderte von Tabletten
gewesen sein. Die lagen überall in der Wohnung.
Natürlich versteckt. Auf seinem
Arbeitsplatz lagen sie auch schachtelweise.
Als Arzt hat er sie sich ja sehr gut selbst verschreiben können".
Ich schwieg meinen Bruder an. Glauben
Sie mir, ich hatte erstens diesen Zusammenhang nicht erkannt und hatte zweitens
seinerzeit, als er im Krankenhaus lag, nicht eine Sekunde an so etwas gedacht.
Ich war nun über meine eigene Betroffenheit erstaunt. Nie im Leben würde ich
mir Gedanken darüber machen, warum jemand im Krankenhaus liegt. Man liegt dort eben. Das heißt nicht, dass ich es nicht bedauern kann,
aber nach Gründen forsche ich nicht. Ich
gebe zu, dass ich im Grunde Angst habe, von den Gründen und noch mehr, von der
Krankheit selbst etwas zu erfahren. Wenn jemand mir von seiner Krankheit
erzählen will höre ich entweder zu, jedenfalls tu ich so, oder ich sage ganz
krass: 'Erzähl' mir bloß nichts von deiner Krankengeschichte, sonst geh' ich
sofort wieder.' Dahinter steht, dass ich die Leiden anderer Menschen nicht
ertragen kann. Sehen Sie, das ist meine
Mentalität.
Als wir noch bei
meiner Schwägerin im Zimmer saßen, wurde auch beschlossen, der kleinen Tochter
meines Bruders, die auf einem Reiterhof Ferien machte, noch nichts zu
sagen. Zwischen ihr und ihrem Vater muss
eine sehr vertrauliche, wenn auch nicht innig herzliche Beziehung bestanden
haben. Das ist etwas, was ich sehr gut
nachempfinden kann. Ich erfuhr weiter bei
dieser, oder war es bei einer anderen Gelegenheit, dass sich mein Bruder dieses
Mädchen sehr gewünscht hatte. Es war
sein drittes Kind. Jetzt gerade neun
Jahre alt. Zu seinem zweiten Kind, einem
Jungen, der dazwischen lag, soll er aus diesem Grunde ein unschönes, geradezu
ablehnendes Verhältnis gehabt haben.
Kinder spüren das doch sehr genau.
Sie nehmen diesen Zustand zwar nicht als veränderbar, durch sie
veränderbar hin, aber sie leben nicht nur mit, sondern auch gegen ihn. Wissen Sie, ich selbst habe eine Tochter
verloren. Ihr plötzlicher Tod hat einen
fürchterlichen Schmerz hinterlassen, der mir die Liebe meines Bruders zu seiner
Tochter ganz und gar erklärt. Sie meinen
nun natürlich, dass es um so unverständlicher war, dass er sich trotzdem... Sie
vergessen, dass ich Ihnen sagte, wie innerlich ausgetrocknet, völlig verdorrt
er war, dass der Zwang zu sterben auf ihm lag, ja lastete. Das Leben seiner Tochter und seine Liebe zu
ihr konnte er nur noch aus einem vorbeifahrenden Zug heraus wahrnehmen. Eine wahre Verbindung konnte es schon nicht
mehr geben.
Nach der Beerdigung,
als wir uns, vor allen Dingen seine Familie sich mit dem Zustand abzufinden
hatten, wollte jemand, genau wie Sie nun, wissen, wie ich das ganze verkraftet
hätte. Die Frage rührte aus dem Umstand,
dass man an mir, wie an den anderen Familienmitgliedern, also meinen
Geschwistern, keinerlei Zeichen von Trauer und Traurigkeit finden konnte. Wie hätte ich eine derartige Frage
beantworten sollen. Ich blieb darauf
stumm. Darauf hatte ich nichts zu sagen.
Anders als Sie, fragte man nicht nach.
Aber Sie sehen hoffentlich, dass es eine einfache Antwort nicht geben
kann. Meine Antwort müsste sein: 'Mein Leben.' Mein Leben ist die Antwort. Aber wer sollte das nun wieder
verstehen. Also schwieg ich. Ich sah nur den Frager an und musste mich
dann abwenden. Ob ich später deswegen
noch einmal geweint habe? Auch darauf
keine direkte Antwort. Es ist aber
folgendes passiert:
Mein Bruder trug zu
Lebzeiten ein kleines Lippenbärtchen.
Nicht erwähnenswert, aber es wurde für mich bedeutend. Früher behauptete ich von Männern mit Bärten,
dass die alle irgendwelche Komplexe mit sich herumtragen und letzten Endes eine
Art Versteckspiel mit sich selbst betreiben.
Als mein Bruder nun verstorben war, beschloss ich, ohne dabei direkt an
ihn zu denken, aber ganz gewiss doch durch ihn ausgelöst, mir so ein
Lippenbärtchen wachsen zu lassen. Es
wuchs schnell und ich konnte es gut tragen.
Als mich meine Schwägerin das erste Mal damit sah, erschrak sie sehr
über die verblüffende Ähnlichkeit zu Ihrem verstorbenen Mann. Das hatte ich schon von anderer Seite
gehört. Sie sagte ganz spontan: "Oh
Gott. Ich dachte, das wär' nun endlich
vorüber." Mit dieser oder einer entsprechende Reaktion von ihr hatte ich insgeheim
gerechnet. Andrerseits erkannte ich nun
auch an mir die Richtigkeit meiner früheren Behauptung. Ich hatte mir ein fast neues Gesicht
verschafft, war also in eine gewisse Anonymität übergewechselt. Wenige Bekannte erkannten mich wieder. Ich konnte unerkannt an ihnen
vorbeigehen. Das gefiel mir sehr. Sicher macht nicht jeder Bartträger diese
Entdeckung, welche ich jedoch als ein besonders willkommenes Erlebnis einstufte. Drittens war es für mich, ganz privat, wenn
ich es so nennen darf, das Gedenken an ihn.
Ein sichtbares, für mich im Spiegel sichtbares Zeichen der Trauer,
meiner Trauer, sonst von niemandem als solche wahrgenommen. Sollte also eines
Tages der Wunsch nach 'Namenlosigkeit' wertlos werden, die Ähnlichkeit zu
meinem Bruder sich als überflüssig erweisen und das 'Gedenkenwollen' vorüber
sein, so wird man das am Verschwinden meines Lippenbärtchens erkennen
können. Als wir Geschwister und mein
verstorbener Bruder uns, kurz vor seinem Tod, das letzte Mal bei meiner
Schwester getroffen hatten, sprach ihn meine Frau auf sein Lippenbärtchen
an. Er zwang sich zu einer gewissen
Heiterkeit und sagte zu ihr: "Wart man ab, das trag' ich nicht mehr
lange." Die Frauen fragten sofort nach: "Wieso, willst du dir den
abnehmen?" Er lachte und sagte: "Verrat' ich nicht. Wartet man ab. Er hatte also alles geplant.
Das sah man auch an der Tatsache, dass er am Ferienbeginn über sich entschied
oder für sich oder gegen sich, wobei ich der Meinung bin, dass es für ihn keine
Entscheidungsmöglichkeit gab. Sicher hat
er nach Auswegen gesucht. Aber, ich
frage Sie, kann man einen stocktrockenen Baum umpflanzen? Sie meinen ... also nach dem Muster: 'Er
hätte ja woanders völlig neu anfangen können, nicht wahr? Alles einmal vergessen, als wäre nie etwas
gewesen. Nein, er konnte das nicht. An
ihm war kein einziges grünes Blatt mehr.
Ihm stand der Tod als ein "Muss" bevor und wurde von ihm
schließlich so angenommen. Es ist
natürlich für Sie interessant zu wissen, ob er einen Glauben hatte. Schwer zu sagen. Wurde ja niemals drüber gesprochen, höchsten
drüber gelacht, sogar gespottet. Ich
kann mir in ihm keinen tiefen Glauben vorstellen. Tiefer Glaube müsste auch Wurzeln haben. Sicher, die können später wachsen, aber in
unserem Elternhaus lachte man über Leute, die ihren Glauben bekannten, die
nicht das "Selbst-Handanlegen" über alles stellten, Er selbst hat
sich nie so geäußert, dass man hätte religiöses Empfinden vermuten können. Das ist bei mir wesentlich anders. Ich bin aus meiner inneren Not zu einem Glauben
gekommen, der sogar in gewisser Weise verwurzelt ist. Ich gebe gerne zu, mich dabei einem
unterrichtsmäßigen Lern- und Bewusstmachungsprozess unterzogen zu haben,
eigentlich unterworfen zu haben. Ich
hoffe auf die Erfüllung meines Glaubens.
Ich scheue mich nicht, mit meinem Gott in pausenlose Gespräche zu treten
und mich ihm immer wieder neu völlig zu überlassen und mich immerzu von ihm neu
annehmen zu lassen. Nein, daraus mache
ich keinen Grundsatz, schon gar nicht nachträglich für meinen Bruder, nach dem
Motto: 'Wäre er gläubig gewesen, hätte so etwas nicht passieren können und
dürfen.'
Ich seh es Ihnen an,
Sie sind noch nicht zufrieden mit mir.
Sie wünschen das "totale Geständnis", obwohl Sie ebenso
wissen, dass es das nicht geben kann.
Sie verlangen das Unmögliche. Sie suchen und verlangen Schuld. Schuld an einem Selbstmord. Mein Bruder war
intelligent, was natürlich nichts zur Sache tut. Aber er wird einen Gedanken, den ich kürzlich
aufgenommen habe, auch gedacht haben, nämlich dass ein Selbsttötungsakt ein
dreifacher Tötungsakt ist: man stirbt... man tötet sich und wird ermordet. Denkt man den Gedanken zu Ende, bleibt die
Schuld in einem selber zurück, und es gibt eine Schuld. Verstehen Sie, die Schuld
verlässt den Täter nicht. Täter und
Opfer tragen die Schuld gemeinsam. Sie
kehrt in einen selbst zurück, zu ihrem Ursprung. Sie kann nicht heraus, nicht ausweichen,
nicht entweichen. Sie ist nicht
übertragbar. Er war sich unbedingt der
Schuld bewusst, aber dieses Bewusstsein konnte nichts mehr bewirken. Es wurde zu einem bewussten
Unbewusstsein. Sie würden diese Schuld
zu gerne außerhalb sehen, finden wollen.
Das wird Ihnen nicht gelingen. Er
hat, und das ist meiner Meinung nach der Beweis dafür, folgerichtig keinen
Brief hinterlassen, keine "Schuld" hinterlassen. Zu sagen gab es auch nichts mehr, alles, was
zu sagen war, hatte er bereits 'nicht gesagt'.
Wie ich auf die Frage, 'wie ich das denn verkraftet hätte' wenn Sie
bitte verstehen wollen. Zum Schluss hat er ja nichts mehr besessen, nicht
einmal sich selber. Seine eigene Schuld war aus diesem Grunde unbedeutend. Er war also schuldlos. Schuldlos weil er
wertlos geworden war. Alles, was ihm je etwas bedeutet haben mag, verlor an
Wert, bis zu dem Augenblick, wo die Trennung davon eintrat und die
Wertlosigkeit sichtbar wurde. Alle Werte
trennten sich von ihm, bis nichts mehr übrig geblieben war. Der Tod war schon vor seinem Tod für ihn
Wirklichkeit. Sein Sterben begann nach
seinem Tod. Er pflegte einen
alltäglichen Umgang mit seinem Tod, über ihn brauchte keine Entscheidung mehr
gefällt zu werden. Mein Bruder war nicht
mehr nur hilflos, sondern völlig machtlos. Willenlos eigentlich.
Als meine Schwester
und ich an dem Vorabend im Hotel saßen, hatte ich ganz schnell gesagt: 'dem ist
doch alles egal.' Wissen Sie, es war ihm nicht nur alles, sondern jeder und er
sich selbst schon lange ohne jede Bedeutung.
Natürlich ist Selbstmord nicht gleich Selbstmord. Niemals.
Das dürfen Sie ihm und mir nicht unterstellen. Kein Tod ist wie der andere. Ich heiße auch nichts von dem Geschehenen gut
und entschuldige weder ihn für mich noch mich für ihn oder gar die Tat. Nein, es gibt nichts zu entschuldigen, und
nichts und niemand ist zu beschuldigen.
Ihre Zweifel sind natürlich auch meine Zweifel. Sehen Sie, deshalb habe ich auch darüber
bisher geschwiegen und werde in Zukunft wieder darüber schweigen. Ich werde nach wie vor zwischen vermisster
Lebensfreude und sich aufdrängender sogenannter Lebensqualität schwanken, werde
nach wie vor Beschränkungen meines persönlichen Freiraumes von außen gegen ein
Öffnen meiner Person nach außen zu bekämpfen suchen und werde dauernd diesen
Zustand endlich in ein Gleichgewicht zu bringen trachten.
Sie haben recht, denn
Sie denken nun, dass ich wieder abschweife.
Zum Schluss möchte
ich Ihnen noch ein kleines Geständnis anvertrauen: Sicher haben Sie bemerkt,
dass ich mit meinen Gefühlen und meinen Überlegungen in die Haut meines Bruders
geschlüpft bin, und dass ich mir dessen auch bewusst bin.
Sie wissen aber
nicht, dass ich mich wohl darin fühle.