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Harald Birgfeld, Webseite seit 1987/ Website since
1987 …da liegt mein Herz, Geschichten aus Niemandsland 2022 -2024 (im
Entstehen) z.B.: 100 Jahre „Kafka“, eine herrenlose Fundsache (neu) |
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…da liegt mein Herz
Geschichten aus Niemandsland 2022
(im Entstehen)
Copyright,
Urheberrecht 2022 beim Autor, Herausgeber, Redakteur: Harald Birgfeld,
e-mail: Harald.Birgfeld@t-online.de
"Es lohnt sich, einmal einen heutigen Dichter kennen zu lernen, der mit der deutschen Sprache einen faszinierend fremden Weg betritt und trotzdem dem Leser Freiraum lässt für eigene Gedankengänge, ohne dass die Probleme in erhobener Zeigefingermanier zu zeitkritischen Trampelpfaden werden." (1986: Gutachten)
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100 Jahre Buße, Brief an
eine Redaktion 100 Jahre „Kafka“, eine herrenlose Fundsache Ich lebe mit einer K.I. zusammen Künstler, Künstlerinnen und Moral, Essay |
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Sie war eine dieser verwöhnten Töchter superreicher Eltern, natürlich jung und sehr vermögend ausgestattet. Vom Anwesen ihrer Eltern in die größere Stadt flog sie mit einem Heli, für den sie eine Art Dauerkarte besaß. Der Heli. war das einzige in ihrem Leben, das sie sich mit jemandem teilte. Ihre beste Freundin hatte die gleiche Karte. Sonst gab es in ihrem Leben keinen Unterschied zwischen mein und dein oder ich und du, weil ihr alles sowieso gehörte. Papa hatte ihr die kleine, handliche Goldene Karte überlassen. Die hatte sie stets parat, und die versagte nie. Ihre Zeit verbrachte die Tochter mit Spielen aller Art. Ganz neu und auch lustig, war das Golfspielen vom Heli-Landeplatz eines Hochhauses. Der war zum Glück ohne Gitter oder sonstige Schutzzäune. Das Hochhaus gehörte ihr oder ihrem Papa oder ihrer Familie sowieso. Es war der Helikopterlandeplatz des höchsten Hauses ihrer Kette von Hotels. Von dort oben schlug sie einfach Golfbälle, einen nach dem anderen, ohne irgendwelches Ziel treffen zu müssen, tief unter sich ins Wasser. Ihre Mama hatte ihr vor langer Zeit einmal eine Silberkugel, die wurde Engelsharfe genannt, geschenkt. Die war so geschmeidig in der Hand, dass sie sie auch Handschmeichlerin nannte. Die hatte sie nun beim Spielen in der linken Hand, obwohl sie dort eigentlich störte. Der Tochter war das ziemlich einerlei, denn so etwas wie Verlust war ihr völlig fremd. Diese kleine Kugel hatte eine Besonderheit. Aus ihrem Innersten konnte man einen zarten, kaum wahrnehmbaren Engelsharfenklang vernehmen, der ertönte bei der leisesten Bewegung. Aus Versehen entglitt dem Mädchen aber beim Ausholen des Golfschlägers dieses kleine Ding. Es flog, wie zuvor die Bälle, in hohem Bogen und fiel in Richtung Wasser. Das wäre ja alles nicht schlimm gewesen, hätte es nicht noch eine besondere Bewandtnis mit ihm. Auf der Engelsharfe ruhte das Versprechen, dass sie großes Liebeglück verkünden würde. Beim Fallen konnte man noch leises Klingen vernehmen. Das wurde dann aber schnell unhörbar. Plötzlich wurde die Kugel zu ihrem Schatz, zu ihrem wirklich einzigen Schatz und Besitz, dass sie aufschrie: „Mein Schatz, mein Schatz ist verloren.“ In ihrer Gewohnheit, sich mit Problemen sofort an ihre Dienerschaft zu wenden, schrie sie unter Schluchzen weiter: „Wer mir den Schatz zurückbringt, soll selber mein einziger Schatz sein, ich mach ihn zu meinem geliebten Schatz, das schwöre ich“ und weinte ohne Unterlass. Das kannte sie überhaupt nicht von sich. Sie weinte sonst mal aus Trotz. Das konnte schon vorkommen, aber so richtig, weil sie etwas verloren hatte? Nein, das überraschte sie sehr von sich. Der Himmel schien ihr helfen zu wollen, denn in der Nähe hielt ein Waterman und Rapper Ausschau nach ganz neuen Texten. Der hörte tief unten am Wasser Ihren Aufschrei und ihren Schwur. Das war genau, was er suchte. Er rief, so laut er konnte: „Ich komme, ich eile!“ und machte sich auf den langen Weg nach oben und dachte: „Schatz hin, Schatz her, ich will viel mehr. Wer so um etwas Liebes weint, hat es bestimmt auch gut gemeint,“ und wollte Genaues wissen. Oben angekommen ging er gleich auf das weinende Mädchen zu. Er machte ein frohes Gesicht, als er es aber ansprechen wollte, kam es ihm zuvor: „Ich schenk dir alles, was du willst, wenn ich nur meine Silberkugel, meine Engelsharfe, meinen Glücksbringer wiederbekomme; wirklich, alles was du willst.“ Der Waterman und Rapper war nass und sagte: „Erst einmal muss ich deinen Glücksbringer finden. Dann bekomme ich wirklich alles?“ Sie: „Ja, was du willst.“ Er: „Wenn ich dir die Kugel wiederbringe, möchte ich nicht nur einen Kuss von dir, sondern auch mit dir eine ganze Nacht verbringen und zwar in deinem Bett, mit dir an meiner Seite.“ Da musste das Mädchen heftig schlucken und es versprach: „Ich schenk dir alles was ich habe, auch die Goldene Karte meines Vaters.“ Er darauf: „Was soll ich mit der Goldenen Karte. Die ist mir gar nichts wert. Nur du, du bist mir alles wert. Du musst es mir schwören, wenn ich dir die Silberkugel wiederbringe.“ Da zögerte sie nicht mehr und schwor es ihm und vertraute ihm. Das war auch neu für sie, denn Vertrauen kannte sie gar nicht. Er war ja aber Waterman, ein Kind des Wassers. Seine Haare hatte er als Königskrone hochgestellt. Dann machte er sich auf und wollte ins tiefe Wasser tauchen. Erst schwamm er dafür zu der Stelle, wohin das Mädchen die meisten Golfbälle geschlagen hatte. Er entdeckte tatsächlich die Silberkugel schwimmend gleich oben auf der Wasserfläche, weil sie so leicht war, wie eine Feder. Sie konnte gar nicht untergehen. Sie war nicht größer war als all die anderen Golfbälle. Er hatte sie schnell gepackt und brachte sie zurück. Nun bestand er auf Einhalten ihres Schwurs. Sie nahm ihm schnell die Kugel aus der Hand und gab sie ihm einen flüchtigen Kuss. Dabei fand sie es so eklig, sich an seinem nassen Körper abzustützen. Weil sie nun beide dicht am Rand des Hoteldaches standen, stieß sie ihn vom Dach in sein feuchtes Element. Sie wollte nur die Silberkugel, aber nicht den Rapper und schon gar nicht Waterman. Dann jedoch, im letzten Augenblick, betört von einem wunderbaren Wandel durch den Blick seiner Augen, durch seinen Gesichtsausdruck und die Berührung seiner Haut, riss sie ihn zu sich zurück. Sie fühlte ihm sich blitzartig sehr vertraut und ließ sich von ihm, nass wie er war in die Arme nehmen. Sie wollte nun ihren Schwur erfüllen und war bereit dazu. Sie schloss nach Frauenart die Augen, und plötzlich spürte sie ein Liebesglück in sich erwachen. Das kannte sie nicht, das ließ ihr Herz vor Freude zu einer Engelsharfe werden. |
Sie war manchmal sehr stolz auf sich, wenn sie in Gesprächen angeregt wurde, Mitgefühl, Mitleid oder gar Liebe zu zeigen und dem nicht entsprechen konnte. So etwas hätte sie vor sich nicht begründen und erklären können. Sie sagte sich dann, von diesen Dingen halte ich nichts, weil sie mich von meinem geraden Weg abhalten und vielleicht sogar stören. Sie ging vorbei an ihrem Designersofa zum Designerkleiderschrank, sah sich ihre teuren Kleidungsstücke an und sprach zu sich: da liegt mein Herz. Das alles konnte ich mir nur leisten, weil ich gradlinig und konsequent bin. Aus Spaß tat sie so, als suchte sie das Versteck ihres Herzens. Dafür kam ihr „kleines Schwarzes“ besonders in Frage. Darin fand sie sich so bezaubernd und schön. Nein, eitel wollte sie nicht sein, aber „da liegt mein Herz“ und etliche beneideten sie sicher um ihr Glück. Das tat gut. Einige der teuersten und vielleicht auch schönsten Teile hielt sie vor sich versteckt unter den „Wintersachen“. Darunter lagen auch der Schmuck, Armbänder, Kettchen mit Gravur und ein Amulett. Wenn sie das in ihre Hände nahm, wusste sie nicht, ob sie lachen oder weinen sollte. Das Amulett war von einem „Abgelegten“ und darin befanden sich ein paar Haare von ihm. Er hätte ihr fast das Herz gebrochen, und das war für sie eine ernstzunehmende Warnung. Er war ihr immer noch sehr in Liebe zugetan, ohne sich aufzudrängen, aber er offenbarte sie ihr bei jeder Gelegenheit. Sie sagte dann: „Verlieb dich nicht in mich. Es gehören immer zwei dazu.“ Vielleicht aus Eigenschutz trat er ihr nicht zu nah. Sie durchschaute alles und glaubte auch an ihre eigene Urteilsfähigkeit und vertraute ihr. Oft geriet sie in Zwiespalt und verwies auf den für sie gravierenden Unterschied zwischen Recht und Gerechtigkeit. Das war ihr oberstes Gesetz, und Leute, die das nicht unterscheiden konnten, erkannte sie sofort. Für sie gab es nur eines, nämlich Recht und das behielt immer die Oberhand. Über Gerechtigkeit zu entscheiden war nicht ihre Aufgabe. Vielleicht hatte sie deswegen ihr Herz in den Kleiderschrank verbannt, und auch vielleicht, weil ihr Herz zu viel Herz zeigen könnte. Während ihres langen Studiums musste davon vieles gegen kalte Paragraphen eingetauscht werden. Die schlugen nun in ihrer Brust. An einem warmen Sommerabend geschah allerdings etwas Unvorhergesehenes. Mit einer ungekannten Leichtigkeit verspürte sie die gute Laune junger Fraulichkeit, verbunden mit einer erheblichen Portion Übermut. Das war neu für sie und sie überkam eine Lust, das zu tun, wonach ihr das Herz stand. Sie gab auf ihrem Designersofa dem Drängen eines Mannes nach. Der konnte wunderbar erzählen und seinen Worten Sinn und tiefes Fühlen geben. Er betörte sie aber eigentlich mit dem Vibrieren seiner Stimme und entführte sie in ein Land der Liebe, dem sie nicht mehr entkommen und nichts entgegensetzen konnte und wollte. Ganz im Gegenteil erfuhr sie eine nie geahnte Seligkeit. Die erwuchs ihr und war voll süßer Schmerzen. Dann kam ein anfangs nur kleiner Abschied, und sie erfuhr das erste Mal in ihrem Leben ein wenig Liebeskummer. Dann aber wusste sie, dass es ein endgültiger Abschied für immer gewesen war, als er sie verließ. Das, dachte sie, ist so ungerecht und staunte über sich. Er ließ sich bei ihr nicht mehr sehen, rief nicht an und war wie verschwunden. Ihr Liebeskummer wuchs aus zu nie gespürten Liebesqualen. Die verbreiteten Unruhe in ihrem Körper und in ihrer Seele. Es trieb sie an zu Spaziergängen, immer in der Hoffnung ihn zu sehen oder zu treffen. Diese Hoffnung war eigentlich ein ausgeprägter Wunsch, der sich mitten in der Stadt, auf einer Spaziergängerstraße erfüllte, allerdings ganz anders als sie es sich erträumt hatte, denn er begegnete ihr völlig ungehemmt mit einer anderen Frau im Arm, lächelte freundliche und begrüßte sie: „Hallo. wie geht’s dir?“ und schob ihr damit eine Kröte in den Hals. Sie schaute ihn wie erstarrt an, und die Frau an seiner Seite konnte mit der Situation anscheinend nichts anfangen. Sie aber antwortete nicht und schlich nach Hause. Sie weinte bitterlich, als sie zu Hause war und schämte sich zugleich. Es kam Sehnsucht auf nach ihrem warmen Herz, das sie über all die Jahre missachtet, aber nie vergessen hatte. Sie dachte daran, wie es war, als ihr Herz noch Herz von ihrem „Abgelegten“ war. Der hatte, fast in Wahrnehmung ihrer Trauer, wie so oft, mit Blumen bei ihr angeklopft. Sie empfing ihn nun mit wahrer Liebe und hatte das liebliche Gefühl, nicht durch ihn hindurchzulaufen, wie es früher geschah, wenn er sie in die Arme nahm. Diesmal hielt sie sich ganz fest und weckte ihr Herz aus seinem Winterschlaf. Von nun an nahm sie es ganz fest in ihre Hand |
Ein reicher Reicher Ihr Vater hätte gern gesehen, dass sie sich verloben würde. Die Gesellschaft, alles gute Bekannte, fände das als positives Zeichen, und sie brauchte ja nicht gleich zu heiraten. Jedenfalls nicht sofort. Papas Firma lief sehr gut, so richtig gut, dass es ein Jammer wäre, wenn, z.B. seine Firma in fremde Hände fiele. Alles ist denkbar, und vieles ist ja möglich. Der Papa hatte auch Kandidaten für sie im Auge, fast schon ausgesucht. Er wusste oder konnte sich denken, dass das nicht ohne Risiko war, weil er immer wieder mit den Launen seines „liebst Töchterlein“ rechnen musste. Eigentlich war sie in der Beziehung völlig unberechenbar, und darin lag auch eine Gefahr. Seine Tochter war in alle Richtungen verwöhnt und sehr verzogen. Das war alleine seine Schuld. Das Risiko schien groß, denn für sie war Papas Reichtum das Selbstverständlichste auf der Welt. Den nahm sie als gegeben hin. Sie tat überhaupt nur, was und wie es ihr selbst gefiel, und zwang andren ihren Willen auf. Sie sah gar nicht ein, dass sie sich binden sollte und warum? Es ging ihr doch so gut. Besser könnte sie es nur bei einem wirklich reichen Reichen haben. Männer in ihrem Leben waren ihr somit nicht wichtig. Deren Avancen waren für sie Null und Nichtig. Sie dachte mit Spott und Hohn über sie und tat dies lauthals kund. Schon Äußeres, wie Kleidung, und die Sprache eines Werbers, zog sie ins Lächerliche. Es sprang kein Funke über. Einmal wurde es einem jungen Mann zu bunt mit ihr, weil sie seine ausgewählten Kleidungsstücke abwertete: „Es gibt so viele Arme auf der Welt. Man sollte die damit beglücken“. Sie fand nichts „cool“ wie sie meinte, dass man etwas finden musste, um begeistert zu sein. Daraufhin zog sich der Mann in dem Restaurant, wo sie mit ihm speiste, bis auf die Unterhose vor ihr aus. Dann drückte er ihr die gesamte Kleidung in die Arme mit den Worten: „Die Idee finde ich super. Schick alles zu den Armen“ und ließ sie allein zurück. So lernte sie ein einziges Mal einen Mann kennen, der sie mit Mut konfrontierte. Dann aber, nur kurze Zeit danach, überraschte sie sich selber mit Übermut, als sie sich mit einem Lückenbüßer, einem armen Musikanten einließ. Der gefiel ihr, obwohl oder weil er sein Gesicht mit Blattgold verkleidet hatte. Er war für sie nicht auszumachen hinter dieser dünnsten Schicht. Die durfte sie dann langsam in Streifen abziehen. Es kam ein mädchenhaftes Gesicht zum Vorschein. Zuvor hatte er ihr auf einer kleinen Flöte ein Lied vorgespielt. Dabei hielt er das Instrument extrem vorsichtig an den Mund. Als er fertig war, reichte er ihr das Ding und überließ es ihr. Schon beim kleinsten Berühren aber zerbrach es, wie von Zauberhand, in winzige, schillernde Teilchen, die sich beim Niederfallen als kleine Wolke, in nichts auflösten. Das verstand sie nicht, und es erregte sie. Trotzdem verspottete sie ihn als „armer Schlucker“. Der Vater war darüber und überhaupt über ihr Verhalten sehr erbost und verbannte sie und auch den Unbedarften aus jedem seiner Häuser. Er setzte sie, nun zwei völlig Mittellose, auf die Straße. Das quittierte die Gesellschaft genüsslich mit viel Schadenfreude. Notgedrungen hielt sie ab nun bei ihrem Musiker aus, zunächst als ewige Besserwisserin: „In meines Vaters Haus wär ich jetzt reich,“ dann aber, als sie merkte, dass ihre Kreditkarten nichts mehr wert waren, willigte sie sogar in eine Heirat ein. Die kümmerliche Einzimmerwohnung war so ärmlich wie ihr ganzes, neues Leben. Auch, dass sie ohne weißes Kleid und ohne Strauß heiraten musste, traf sie schwer. Nach Hause traute sie sich nicht zurück. Ihr Mann war immer gut zu ihr und half ihr sehr, sich bei ihm einzuleben, dabei hatte er selber nichts als ab und zu eine Mugge. Davon konnten sie aber nur schlecht leben. Sie musste mitverdienen und lernte so den Müllcontainer eines Supermarktes in ihrer Nähe schätzen. Sie bediente sich, bis sie vertrieben wurde. Eines Tages, als sie in die Wohnung zurückkehrte, stolperte sie förmlich über einen Kontoauszug. Der beinhaltete aber nicht die ihr bekannte Währung, sondern wies Bitcoins aus. Erst dachte sie, dass es sich um Spielgeld handeln würde, aber am Ende stand ein Umrechnungskurs und damit der echte Wert des Kontoauszugs in Höhe von derzeit 200 Millionen in echter Währung. Das verschlug ihr völlig den Atem, und sie wollte Genaues wissen von ihrem Mann. Er war dazu bereit und erklärte, dass er tatsächlich ein reicher Reicher wäre. Leider aber existiere das Geld nur auf dem Papier, denn er hätte den Code, also den digitalen Schlüssel für ein Wallet im Internet, vergessen oder verloren. Das sei wahrscheinlich beim Neukauf eines PC passiert. Mit dem alten Gerät wäre auch der gespeicherte Code verloren gegangen. Sie konnte das nicht fassen. Gemeinsam dachten sie, für ihn zum tausendsten Mal, alle Möglichkeiten der Wiederbeschaffung durch, kamen aber zu keinem Ergebnis. Diese Geschichte wurde publik und man interessierte sich für jedes Detail, z.B. wann der neue PC angeschafft wurde, und welches Modell der alte PC war. Sie erfasste schnell, dass sie für diese Informationen Geld verlangen konnte, denn dahinter steckte allen das eindeutige Verlangen, erst einmal an das weggegebene Gerät und schließlich an den „Schatz“ zu gelangen. Innerhalb von 2 Jahren nahm der noch enorm an Wert zu und die Einnahmen der beiden durch Füttern der Berichterstatter mit Einzelheiten brachte ihnen so viel Vermögen, dass sie insgeheim den Schatz gar nicht mehr wiederhaben wollten. |
Sie lebte als junge verheiratete Frau in einem kleinen Ort auf Sizilien. Alles war neu für sie, sie kam eigentlich aus dem Norden Englands. Stürme, Regen und viel Nebel waren da ihre tägliche Kost gewesen, und hier erfuhr sie wärmende Sonne im Überfluss, Obst in wohltuender Süße, Saftigkeit und Reinheit. Ihr Mann war „auf großer Fahrt“ auf der Beringsee. Dort jagten er und andere Seeleute mit hochwertigen Fangbooten und vielen, großen Metallkörben in größter Tiefe nach Eismeerkrabben, einer Köstlichkeit, die bei gutem Fang sehr viel Geld einbrachte. Dafür schufteten die Männer tags und nachts bis zum Umfallen, und dann noch immer weiter. Die See ging hoch mit schweren Wellen, Schneestürmen und Blizzards ohne Ende. Er und die anderen lebten ständig in allergrößter Gefahr. Sie dachte nur mit Grauen an all das, was ihr im schlimmsten Fall bevorstehen könnte. Sie blieb, wie früher die Seefahrerfrauen, über Monate völlig allein und auf sich gestellt. Die Reederei sandte zwar regelmäßig mehr als ausreichend Geld, aber sie merkte schnell, dass etwas ganz Entscheidendes fehlte. Das konnte und wollte sie sich nicht eingestehen. Um sich abzulenken, lernte sie eifrig die Sprache des neunen Landes über eine Erwachsenenbildung. Beim Spazierengehen am Strand hatte sie eines Tages eine Vision, die war so real, dass sie sich umschaute, um ganz sicher zu sein. Sie ging, wie sie war, hinaus aufs Meer. Sie erreichte die erste Sandbank und dann ein zweite, die ließ sie auch hinter sich und ging einfach weiter. Schließlich traf sie dort auf einen jungen Mann, der sie erwartet zu haben schien. Sie fassten sich an die Hände und gingen zurück an den Strand. Sie schwammen beide nicht, sie hatten auch kein Boot, das sie hätte tragen können, und sie flogen nicht und schwebten nicht. Sie erkannte in ihm einen Mitschüler aus der Sprachenschule, und sie verständigten sich, sobald sie den Strand erreicht hatten, in der neuen Sprache. Keiner von beiden wunderte sich über das, was geschehen zu sein schien. Sie sagte zu ihm: „Glaubst du, dass ich hinausgegangen bin auf das Meer, um dich zu treffen? Und wie kommst du dahin“? Er antwortete: „Ich habe auf dich gewartet, und du bist gekommen.“ Dann nahm er sie in den Arm und küsste sie. Sie schloss die Augen und fand sich daheim. Sie wollte ihn mit zu sich nach Hause nehmen, und er folgte ihr. Dann aber sagte er, dass er auf Sizilien eine eigene Wohnung unterhalte und ob sie ihn begleiten würde. Das machte sie gerne, weil sie ihm vertraute. Sie kannte sich inzwischen ein wenig aus und wusste wohin er sie führte. Sie richteten sich dort für die nächsten Tage ein. Sie lagen nun oft beieinander, und sie fühlte sich nicht zu Besuch sondern Zuhause. Aus ein paar Tagen wurden Wochen und Monate und manchmal, wenn er fest an ihrer Seite schlief, konnte sie seine Andersartigkeit betrachten. Sie fand aber nicht heraus, worin diese lag. Dabei war sie stolz auf sich. Wer geht schon so weit auf ein offenes Meer. |
Rapunzel ist nicht nur in der deutschen Märchenwelt bekannt als das Mädchen mit dem langen Zopf, den es vom Turm hinunterwachsen und an dem es den Prinzen heraufkommen lässt. Der Name steht insbesondere auch für einen herbstlich, winterlichen Feldsalat, der dicht an der Erde wächst, und nur beschwerlich zu ernten ist. Die Frauen und Männer stehen dabei gebückt und schneiden mit den Messern die kleinen Pflänzchen kurz über den Wurzeln ab. Marianna kannte weder das Märchen noch die Pflanze, als sie von Polen nach Frankreich gekommen war. Sie hatte einfach Arbeit gesucht und war bei einem ungarischen Bauern gelandet. Der fristete sein karges Dasein mit Ernten von Feldsalat, also der Rapunzel, und hielt Ausschau nach einer billigen Hilfskraft. Sie kam ihm deshalb wie gerufen, und er stellte keine Fragen. Marianna hatte sehr langes, blondes Haar. Das trug sie meistens zu einem festen Zopf geflochten, der bei jeder ihrer energischen Bewegungen über Hals, Rücken und Nacken fegte. Ihr Übermut kam so zum Vorschein. Gerne ließ sie den aber auch vorne über die linke oder rechte Schulter fallen. Er wurde zusammen mit ihrem sanften, unaufdringlichen Lächeln und den freundlichen, graugrünen Augen zu einem besonderen Teil ihrer Schönheit. Die fiel so sehr auf, dass ein Kind im Vorbeilaufen rief: „Rapunzel, Rapunzel.“ Seitdem nannten sie alle Leute, die von ihr sprachen, nur noch Rapunzel. Das riesige Feld des Ungarn war kaum mehr bewachsen und grünte kaum noch. Der Feldsalat war zu dieser Jahreszeit morgens, zur Erntezeit, mit Raureif überzogen und bitterkalt an den Fingern. Handschuhe konnte keiner tragen. Damit hätte die Rapunzel nicht geschnitten werden können. Marianna war eine der fleißigsten Helferinnen. Sie schaffte in den frühen Morgenstunden so schnell so viel, dass neuer Salat wie von alleine nachwuchs und dem Ungarn überreiche, anhaltende Ernte bescherte. Der Verkauf erfolgte einerseits an der Straße, an einem ständigen Holztisch mit kleiner Kasse, in die jeder Kunde Geld warf, andererseits auf dem täglichen Markt. Dort verdiente Marianna das gute Geld hauptsächlich mit ihrer persönlichen Ausstrahlung. Jedem noch so kalten Tag konnte sie Sonne abgewinnen, das ließ die Menschen gerne an ihren Marktstand kommen und warten, bis sie an der Reihe waren. Ihre Körbe verzierte sie reichlich mit Gräsern und bekannten Kräutern und kleinen roten Zwiebeln. Gesunde, trockene Früchte hatte sie ebenfalls mit Gräsern daran befestigt. Nach kurzer Zeit belieferte sie auch Gasthäuser in der näheren Umgebung, die sie mit dem Fahrrad erreichte. Der Ungar erkannte seine Glückssträhne, gab ihr gutes Geld und fragte sie immer wieder nach Wünschen, ob er ihr die vielleicht erfüllen könnte. Dabei leiteten ihn redliche Absichten, denn er hatte sich insgeheim stets eine solches Mädchen als Tochter gewünscht. Marianna war unermüdlich mit ihren vielleicht zwanzig Jahren. Vor dem Verkaufen oder auch noch am Abend musste der Feldsalat emsig gereinigt, von Sand und kleinsten Wurzeln befreit werden. Das ging ihr nicht schnell genug von der Hand. Immer wieder spürte sie eine Unruhe wie Brodeln in sich. Sie streckte dann den Rücken und hob den Blick. Es war wie ein Aufwachen. Es kam als innerliches Glühen über sie, und sie empfand die klare Botschaft, dass dies alles nur ein Anfang war von etwas, das irgendwo auf sie wartete. Voller Ungeduld riss sie schließlich einmal ihre Bluse auf und streckte ihren linken Arm in Siegesgeste weit über sich in die Höhe. Sie war nun Marianna, die in ihrer Muttersprache ein aufregendes Heimatlied sang und sich in Gedanken über die Menschen schwang. Sie sang und sang: „Ich bin jung und ich bin frei. Ich bin die Schönste weit und breit. Ich liebe dich mein Polenland. Jetzt reiß ich alle, alles mit! Ich bin die Schönste hier aus meinem Land.“ Danach packte sie frohen Mutes ihr kleines Bündel, ging zu dem Ungarn, dem sie viel zu verdanken hatte, küsste ihn auf die Wange und verließ den Ort in Richtung Unbekannt. Wer sie sah, winkte ihr freundlich zu. Jeder hatte sie liebgewonnen. Keiner ahnte, dass sie Abschied nahm. Für sie selbst war es aber ein Neubeginn. Sie ging ein letztes Mal am Feldsalat vorbei und bemerkte, kaum versteckt, ja eigentlich ganz sichtbar und offen, ein kleines Körbchen dort stehen. Es war verziert mit Gräsern und bekannten Kräutern, kleinen roten Zwiebeln und gesunden trockenen Früchten, die ebenfalls mit Gräsern daran befestigt waren. In dem Körbchen aber fand sie einen kaum handtellergroßen, vielblättrigen Feldsalat, der ganz aus Gold zu sein schien. Sie schaute sich um und erkannte den Sohn des Ungarn. Von dem wusste sie nur, dass er Goldschmied war. Sonst hatte sie ihn kaum zu Gesicht bekommen. Er war sehr höflich und fragte, ob sie sein Geschenk annehmen würde. Sie war begeistert und wusste nicht recht, ob von dem Geschenk oder mehr von dem Gesandten oder von beidem. Dann aber fragte er: „Wie heißt du eigentlich.“ Sie antwortete sofort und spontan: „Rapunzel.“ Den Namen kannte sie inzwischen, aber nur vom Feldsalat. Er jedoch kannte den Namen nur aus dem Märchen, deswegen sagte er: „Ich habe mich in dich verliebt, bevor ich deinen Namen kannte. Du bist für mich das Mädchen mit dem langen, blonden Zopf. Du bist doch die Rapunzel? Möchtest du mit mir kommen? Ich meine, so richtig?“ Sie dachte an ihr innerliches Glühen und sah jetzt die Erfüllung dessen, worauf sie gewartet hatte. Sie wollte sagen: “Weiß nicht, vielleicht,“ sagte dann aber leise: „Ja,“ und dann etwas lauter: „Ja, so richtig.“ Sie gingen nun gemeinsam fort, aber nicht zum Bauernhof des Ungarn, sondern zu seiner Wohnung. Die befand sich neben seiner kleinen Goldschmiedewerkstatt in dem Nachbardorf. Sie wussten sich viel zu erzählen, und ihre Köpfe waren dicht beieinander. Es war ein schöner Anfang für die beiden. |
Ich
lebe mit einer K.I. zusammen Ich bin ein erwachsener Mann und lebe mit einer K.I. zusammen. Ich brauche sicher nicht zu erklären, was oder auch wer das ist, eine K.I. K.I.‘s sind überall erhältlich, und es hat sich der Gedanke abgeschliffen, dass eine oder ein K.I. etwas Besonderes sein muss oder zu sein hat. Schnell wurde klar, dass der Umgang mit einer oder einem K.I. nur unter der Voraussetzung für den Anschaffenden zu ertragen ist, wenn sie oder er auf gar keinen Fall klüger oder wissender ist als der oder die Anschaffende. Früher konnte jeder eine oder einen K.I. kaufen. Das Kaufen aber wurde mit dem wunderbaren Antidiskriminierungsgesetz abgeschafft. Man bedachte dabei diejenigen, deren Geschlecht indifferent ist. Die wären benachteiligt, wenn diejenige oder derjenige oder dasjenige eine oder einen K.I. hätte kaufen bzw. neuerdings anschaffen wollen. Die hatten jetzt also genau wie alle anderen auch als Gender einen Anspruch auf K.I. Man kann eine oder einen K.I. also nicht mehr kaufen, sondern nur anschaffen. Dabei ist es unerheblich, ob jemand in einer festen Beziehung oder Bindung lebt. Eine Besonderheit allerdings ist mit jeder oder jedem K.I. verbunden. Das Potential der oder des K.I. muss stets dem Niveau der Bildung oder Klugheit des Anschaffenden entsprechen. Lebt er oder sie oder es z.B. in einer Familie, darf eine oder ein K.I. sein Bildungsniveau immer nur direkt der Umgangsperson, um die es gerade geht, anpassen. Dieses sind meine Erfahrungen und keine Grundsätze. Meine K.I. ist stets um mich bemüht und interessiert sich auch für vieles, was eigentlich nur mich etwas angeht. Das ist umgekehrt ebenso, und es entsteht das Verständnis, dass wir zwar viele Gemeinsamkeiten haben, uns aber manchmal auch aus dem Weg gehen müssen. Ich habe keine Kinder. Kinder sind aber oft ein wichtiges Thema in unserem Miteinander. Das liegt daran, dass ich Kinderbücher schreibe, und meine K.I. in einer Kindertagesstätte beschäftigt ist. Sie hat, wie alle K.I.‘s selbst für ihren Unterhalt zu sorgen. Das sind Kleidung, vor allen Dingen Steuern, Reparaturen und natürlich Updates. Kürzlich lud sie mich zur Eröffnung eines Unterwassercamps für ausgezeichnete Kinder ein. Das machte mich sehr neugierig, so etwas kannte ich noch nicht, und eine solche Gelegenheit gibt es nur selten. Wir fuhren also an die Küste und wurden mit einem Boot auf einem kleinen Ponton weiter draußen abgesetzt. Meine K.I. fiel mir besonders durch angenehme Frauenkleider, sehr gefälliges Verhalten mir gegenüber und einer Suche nach Nähe auf. Sie wollte, dass ich ihre Hand nehme und sie führe. Das gefiel mir sehr, irritierte mich aber auch außerordentlich. Der Ponton hatte einen Fahrkorb als Einstieg, und man fuhr uns tief nach unten ins Meer. Wir konnten uns normal beim Ausstieg verhalten, denn das Atmen war gar kein Problem. Es schien zwar dunkler geworden zu sein, aber es gab indirekte Beleuchtung. Wir standen endlich auf dem Meeresboden, auf dem Meeresgrund. Der war ohne Erhebungen und schien aus gelbem Sand zu bestehen. Eine Begleitung sagte aber ganz beiläufig: „Nein, nein. Es handelt sich um reines Gold. Aber es gibt so viel davon, dass es praktisch wertlos geworden ist.“ Von der Wasseroberfläche, weit, weit oben, fielen Lichtsäulen wie die Stämme von Bäumen eines Waldes herunter. Die bewegten sich langsam als stünden sie im Wind und verführten fast zum Sonnenbaden tief im Meer. Am Boden, aber auf kindlichen Sitzgelegenheiten, waren Kinder in einem Kreis. Sie konnten wie wir atmen. Sie lachten und spielten erst ein wenig herum. Nun aber saßen sie ganz still und lauschten einem lange verschollenen, ungelesenen Märchen, das über Hologramm aufgeführt wurde. Am Wasserhimmel tummelten sich Schmetterlinge, die waren händegroß und auch riesenhaft. Sie reflektierten grell in Neonfarben, grün und gelb und rot. Sie konnten schweben, gleiten und sich ohne jeden Flügelschlag bewegen. Es waren lebende Tiere. Wer lange genug auf sie achtete, erfuhr einen Stillstand des Erzählten ohne, dass die Erzählung endete. Zwischen den Schmetterlingen gab es kleine Flügeltiere. Auch die waren lebendig und schwebten in strengen Farbenmustern, die schließlich als glitzernder Staub endlos weit entfernt herunter rieselten oder dort verwehten. Es entstanden immer wieder neue von ihnen. Eine Führung erklärte zum Abschluss, bevor die Feierlichkeiten zur Eröffnung beginnen sollten: „Nun ist endlich auch die Erweiterung des menschlichen Lebensraumes im Meer bei den Kindern angekommen und kommt ihnen zugute. Nachdem das größte Problem der Menschheit, nämlich die Ölverschmutzung der Meere mit einfachen Mitteln gelöst werden konnte, hat man mit der Nutzung der Meere begonnen und schafft so neue Lebensmöglichkeiten. Auch die Überfischung konnte gestoppt werden. Das Thema Luftverschmutzung hat sich in diesen Zusammenhängen fast von alleine gelöst. Das alles ist nur und einzig den unermüdlichen Einsätzen von K.I.‘s zu verdanken. Sie haben über ihre eigentlichen Aufgabengrenzen hinaus die menschlichen Fähigkeiten geradezu beflügelt. Sie haben dabei verschiedentlich das Gesetz der Zurückhaltung des eigenen Potentials überschritten und scheinbar auch verletzt. Ihren Entwicklern und damit den K.I.‘s jedenfalls gilt unser ganzer Dank.“ Mir kam das alles, obwohl ich dort nie gewesen war, sehr bekannt und vertraut vor. Als wir schließlich wieder in unsere Wohnung zurückgekehrt waren, sprach ich gleich mit meiner K.I. darüber. Die lachte etwas verhalten und sagte: „Was du erlebt hast, war ein Traum, den ich dir geschenkt habe. Es war die Verwirklichung des Kinderbuches, an dem du so lange schon arbeitest. Diese Fähigkeiten darf ich nutzen“. Ich war nicht so sehr überrascht, über das was sie sagte, als vielmehr über das, was ich sagte, nämlich: „Bei der Eröffnung bist du völlig anders gewesen als sonst. So kannte ich dich nicht. Ich hatte dich da gerne an meiner Seite. Ja, ich glaube aber, dass du es nicht gewesen bist. Bestimmt bist du es nicht gewesen. Dass du einen Traum vermitteln kannst, ist mir bewusst, aber auch, dass du nicht Träumerin in meinen Träumen sein darfst. Ich habe mich in die Person verliebt, aber in wen? Also, wer war das und wo warst du?“ Meine K.I. war durchaus nicht verlegen, sondern sagte: „Das stimmt genau. Ich war nicht dabei. Die Frau an deiner Seite war meine Entwicklerin. Sie hatte schon immer einen einzigen Wunsch, sie wollte dich kennenlernen. Eigentlich möchte sie mich ersetzen, und statt meiner hier bei dir sein. Hab bitte keine Angst. Es geschieht alles nur mit deinem Einverständnis, aber du solltest wissen, ich sehe aus wie sie, ich denke wie sie, ich spreche wie sie und sie fühlt wohl wie du, und kennengelernt habt ihr euch ja auch schon.“ Ich sagte: „Hat sie einen Namen?“ Meine K.I.: „Ja, sie heißt Jasemin. Darf ich sie einladen? Zu dir?“ Ich wollte meine K.I. umarmen und küssen, um mich zu bedanken, aber das wäre auf völliges Unverständnis gestoßen. Statt dessen sagte ich: „Vielleicht kannst du mich zu ihr führen. Ich möchte sie wiedersehen.“ Das geschah noch am selben Tag. Der hielt lange, lange an. Später bewarb meine K.I. sich um eine andere Anschaffung. Mit Jasemin und mir begann ein wunderbares Leben. Sie entwickelt jetzt nicht mehr K.I.‘s sondern ist bemüht, glaubhaft zu versichern, dass K.J.‘s sich nicht in Menschen verwandeln können. Viele Menschen halten das aber für eine märchenhafte Geschichte, weil es ja in ihren Augen einen Beweis für das Gegenteil gibt. |
Meine Mutter hatte beste Erinnerungen an ihren Vater. Der konnte viel erzählen und hatte bestimmt auch viel verschwiegen, denn er war im ersten Weltkrieg gewesen und hatte auch noch den zweiten mitmachen müssen. Ihr Vater gab damals immer noch Sprüche von sich wie: „Die meiste Zeit des Lebens wartet der Soldat vergebens“, oder „Ein Soldat kann im Stehen gut schlafen, z.B. beim Wacheschieben. Da legt er sich zwei kleine Stückchen Holz unter die Fußspitzen, lehnt sich an eine Wand und schläft wunderbar“. Die Grausamkeiten des Krieges verschwieg er allerdings, bis auf eine Sache, über die berichtete er dennoch: „Also, der Krieg ist etwas ganz, ganz Schreckliches. Die ersten Bomben, die es damals gab, bestanden aus Nägeln. Ja, Nägel aus Eisen geschmiedet. Manche davon waren so lang wie ein Unterarm. Sie wurden aus einmotorigen Flugzeugen, ohne Kabinendach, von dem Piloten, direkt aus einer Dose oder einem Eimer aus ziemlich großer Höhe über dem Feind abgeworfen. Sie fielen immer mit Spitze nach unten. Wen die trafen, der wurde verheerend verletzt. Schlimm, ganz schlimm war das.“ Mehr erzählte er sonst darüber nicht. Er wusste aber auch Hochinteressantes aus anderer Zeit, z.B. von seinen „Wanderjahren“, zu berichten. Er arbeitete damals als Zimmermann an der Wuppertaler Schwebebahn: „Die hab ich mit gebaut.“ Von meiner Mutter habe ich also einiges über meinen Großvater erfahren, eben auch, dass er lange im Krieg gewesen war. Sonst hatte ich von soldatischem Leben gar keine Ahnung, kein Wissen und auch sehr wenig Interesse. Ich war niemals selbst Soldat gewesen, hörte und las jedoch oft von Soldatenschicksalen und von Schicksalen der Bekriegten. Eines Tages traf ich nun auf einen Soldaten. Mit dem kam ich ins Gespräch und der erzählte mir eine lange Geschichte, wie er sagte, seine Geschichte, und ich war sehr neugierig, als er begann: „Ich komme zurück aus einer anderen Welt. Dort hatte ich wenige Aufgaben. Mit den Einheimischen wollte ich nichts zu tun haben. Ich ging fast immer allein auf Patrouille. Meine Ausrüstung bestand hauptsächlich aus schusssicherer Weste, Kopfhörer und Mikrofon. Letzteres war integriert in meinen Helm. Das Wichtigste war aber die Breitbildkamera, auf meiner Schulter. Ich trug noch automatische Erkennung für Tretminen und unterirdische Explosionsfallen am Leib. Allein die schusssichere Weste wog über zehn Kilogramm. Alles andere mit Kleidung usw. über zwanzig. Im Arm oder auf ihm hatte ich noch ein kurzes Schnellfeuergewehr, das nannten wir Alien, ich glaube nach dem Hersteller. Die Zeit meiner Patrouille betrug um die acht Stunden. Die war ich dann im Busch und hatte mit Insekten, Pflanzen, Sonne und Schwitzen zu kämpfen. Feinde habe ich nie direkt gesehen oder kennen gelernt. Einige von uns hatten in dem fremden Land ein „Herzchen“ gefunden. Das kam für mich nicht in Frage. So lebte dort niemand, der vielleicht auf mich gewartet hätte. Eigentlich gab es für mich keinen einzigen Vertrauten. Wenn ich Weisungen bekam, kamen die über den Kopfhörer aus einem mir völlig unbekannten Ort in irgendeiner ausländischen Stadt. Die Sprecher waren meistens Frauen, die vielleicht nur einen Halbtagsjob machten. Die und ihre Ablösung hingen offenbar direkt an meiner Kamera. Sie saßen wohl vor einem Bildschirm und dirigierten mich in meiner Sprache. Meine Aufgabe wurde dauernd wiederholt. Das ging schon Monate lang so. Mein Auftrag hieß: „Halten Sie Ausschau nach einem Etwas“! Ich fragte natürlich nach: „Was ist das,“ und „Was soll das sein.“ Erklärungen gab es aber nicht, sondern nur die Wiederholung des Auftrages. Schließlich hatte ich die Vermutung, dass mich ein Computer steuerte. Aber das ließ sich auch nicht überprüfen. So verging eine lange Zeit. Einmal jedoch, nur dieses eine Mal, ich ging wieder meine gewohnte Patrouille, wurde ich enorm aufmerksam. Eine gewisse Helligkeit breitete sich aus. Ich hörte keine anderen Geräusche als sonst und wurde überrascht von einem lichtdurchfluteten, übergroßen, menschenüberragenden und rosafarbenen Gebilde, das als ein Herz pulsierte und versuchte, sich mit Nichts zu schützen. Die pulsierenden Bewegungen umschlangen den ganzen Körper. Ich sah, dass es keine Attrappe und nichts Menschengemachtes war. Es schien nach Umhüllung zu suchen. Es war für mich lange zu sehen, dann ging die Helligkeit zurück und das Wesen, das Etwas, verschwand ganz geräuschlos wie es erschienen war. Ich machte Meldung und lag von nun an auf der Lauer. Als Soldat habe ich mich stets gezwungen, ohne Gefühl und ohne eigenes Wollen jeden Auftrag auszuführen. Damit kann ein Soldat sich unbewusst sehr verletzen, und die Folgen erfährt er erst viel, viel später, oder aber er schützt sich auf diese Weise, was ihm zwar im Augenblick hilft, aber vielleicht nur kurzfristig. Als ich abgerufen wurde und in die Heimat durfte, ging ich mit dem Gedanken: ‚Was hier geschehen ist, betrifft mich überhaupt nicht und geht mich auch nichts an.‘ Ich freute mich auf die Heimreise und auf mein Zuhause besonders, weil ich dort eine echte Aufgabe hatte. Ich erinnerte mich nämlich, dass ich an der Rettung wilder Tiere teilgenommen hatte. Dafür hatte ich mich lange vor mir selbst geschämt, weil ich doch Soldat bin. Das würde ich nun aber in aller Öffentlichkeit tun, denn die Begegnung mit dem Etwas hatte mir ganz neue Einsichten in anderes Leben vermittelt. Ich nahm sogar als Ehrenamtlicher an Expeditionen teil, um verirrte Meeresbewohner neu zu orientieren. Das war mir plötzlich wichtig geworden und ging mir sehr nah. Das, sah ich ein, ging mich viel an.“ |
In der Zeitung habe ich von einem Geschwisterpaar gelesen. Es handelte sich um ein Mädchen und einen Jungen. Sie lebten in großer Armut, im Ausland. Das wenige, was ich über Verhältnisse in Armut zu wissen glaubte, kannte ich nur aus Werbeblättern für Spendenaufrufe, wenn ich denn die Zeit fand, die zu lesen, oder sogar mich entschloss, auch zu spenden. Ich hatte bis dahin keine Vorstellung davon, was krasse Armut, wirkliche Besitzlosigkeit, für die Betroffenen bedeutet, bis ich den erwähnten Zeitungsartikel in die Hände bekam. Der war verfasst von einer Entwicklungshelferin. Die war zurück in ihrer Heimat und berichtete an einem Beispiel: „Ich fand unter vielen Menschen eine sehr junge Schwester mit ihrem Bruder. Beide trugen zerrissene Kleidung, eigentlich zerlumpte, und waren emsig auf der Suche nach Dingen, die entweder essbar oder sammelbar und damit verkaufbar waren. Sie wäre für uns in der Heimat ein ‚großes Mädchen‘ gewesen, so groß jedenfalls, dass sie den kleinen Bruder auf den Armen tragen konnte. Sie war sehr aufgeweckt, denn sie erzählte ihrem Brüderchen z.B.: ‚In anderen Ländern dieser Erde gibt es Menschen, die sich tagtäglich waschen. Richtig waschen, mit ganz sauberem Wasser, wie aus einem Fluss.‘ Dabei schaute sie auf ihre Hände und die ihres Bruders, die mit Schmutz so überzogen waren, dass sie blank das Sonnenlicht reflektierten. Die Gesichter und ihre Körper waren auch grau wie von Ruß und Asche. Das Mädchen nahm seinen Bruder an die Hand. Der wusste, was kommen würde und sträubte sich ein wenig: ‚Ich will nicht‘. Es nahm ihn aber mit zu einer großen Pfütze. Die lag zwischen Fernzuggleisen, die täglich einmal befahren wurden. Es begann nun damit, sich und den Bruder mit aufgeweichtem Karton zu waschen. Sie wohnten auch zwischen den Gleisen, neben vielen anderen Kindern und Jugendlichen und hatten kaum Platz. Es war eine kleine Fläche auf einem trockenen Plätzchen, gerade so groß, dass sie auf einer festeren und größeren Pappe hocken und nachts darauf schlafen konnten. Der Zug kam jeden Morgen zur gleichen Zeit und fuhr nicht schnell. Alle konnten rechtzeitig, mussten aber trotzdem schnell Platz machen. Jeder Platz wurde nur vorübergehend geräumt, denn es ging auch darum, ihn als persönlichen Besitz vor Übernahme durch andere zu bewahren. Das Mädchen und der Junge kannten nur dies hier und waren mit allem zufrieden. Sie lebten in einer gewissen Vorfreude, auch weil die Schwester dem Bruder immer versicherte: ‚Eines Tages kommen Mama und Papa wieder und nehmen uns mit nach Hause,‘ worauf der Bruder sofort fragte: ‚Wann ist das,‘ und sie: ‚Weiß nicht, aber bald.‘ Schließlich hatten sie, wie jede Woche einmal, Hände und Wangen gereinigt. Dann ging es ab auf die qualmende Müllhalde. Dort wurde gerade neuer Müll abgeladen. Große Vogelschwärme waren schon dort und mussten verscheucht werden. Die beiden fanden Essensreste und entschieden am Geruch sofort, ob die genießbar waren oder nicht. Das Mädchen beobachtete schon länger aus der Ferne eine Frau, die eigentlich nicht dorthin gehörte, die aber seinen Bruder nicht aus den Augen ließ. Es hatte von Freunden gehört, dass die Frau auf der Suche nach kleinen Jungen war, die sie verschleppte. Später kamen diese Kinder wieder, sie hatten aber nur noch ein Auge. ‚Sie ist also eine Diebin,‘ dachte die Schwester. Sie hatte auf dem Müllberg immer wieder Glück, weil sie Dinge fand, die niemand kannte, haben wollte oder brauchte. Um sich da besser auszukennen, hatte sie von englischsprechenden Kindern einige Wörter zu lesen gelernt wie ‚Pay Attention‘ oder ‚Keep cool‘ oder ‚Poison‘. Sie wusste, dass sie dann lieber die Finger davonlassen sollte. So entdeckte sie einen weißen, kinderkopfgroßen gepolsterten Behälter, sehr sauber, außen mit vielen Bildern und auch mit den ihr nun bekannten Beschriftungen versehen. Es stand zwar nicht ‚Poison‘ darauf, aber sie enträtselte neue Wörter, nämlich: ‚For Transplant‘ und ‚Pour Transplant‘ und sah Wörter in noch vielen anderen Sprachen. Den Behälter wollte sie erst einmal mitnehmen, wurde aber am Fuß der Müllhalde von der Frau angesprochen. Die war enorm begierig auf den Behälter: ‚Den kauf ich dir ab,‘ sagte die ohne weiter zu fragen, ob sie den überhaupt bekommen könnte. Das Mädchen sah seine Chance und antwortete: ‚Nein, niemals. Den brauch ich selber.‘ Die Frau: ‚Du weißt doch gar nicht wofür man den benutzt. Vielleicht ist da Gift drin!‘ Das Mädchen war schlagfertig: ‚Dann stünde Poison darauf. Ist aber nicht,‘ und umklammerte ihn wie einen Schatz. Die Frau sagte: ‚Was willst du dafür haben?‘ Das Mädchen antwortete nachdem es einen Augenblick gezögert hatte: ‚Ich schenk dir den Behälter, wenn du mir vor all meinen Freunden und meinem Bruder schwörst, dich hier nie, nie wieder sehen und blicken zu lassen. Willst du das schwören?‘ Die Frau hielt sich einen Arm vor den Mund und lachte in ihren zerschlissenen Kittel. Dann sagte sie: ‚Könnt ihr haben, ok.‘ Die Schwester rief all ihre Freunde und Freundinnen zusammen. Die wurden Zeugen des Schwurs und verstanden auch die Wichtigkeit. Die Frau bekam den Behälter und verschwand damit. Das Mädchen und sein Bruder erhielten von allen Jungen und Mädchen als eine Art Belohnung, dass diese verdächtige Frau sie nicht mehr belästigen würde, einen begehrten Schlafplatz mit ziemlich guter Pappe, zwar immer noch zwischen den Gleisen aber mit viel, viel mehr Platz. Ob die Eltern jemals gekommen sind, um die Kinder zu holen kann ich nicht sagen. Aber sie waren beide auf ihre Weise zufrieden und manchmal sogar ein wenig glücklich.“ So endete der Zeitungsartikel. Neuerdings las ich die Werbungen für Spendensammlungen immer mit dem Hintergedanken, vielleicht auf diese Weise noch einmal etwas über die Schwester und ihren kleinen Bruder zu erfahren. |
Er war Vertreter und prahlte bei Gelegenheit mit seinem Können und seinen angeborenen verkäuferischen Fähigkeiten: „Ich bin zwar ein Mensch wie alle anderen. Ich habe aber eine Würde in mir, mit der kann ich einem Eskimo einen Kühlschrank verkaufen“. Darüber konnte er lachen, auch wenn andere über so viel Dummheit sich lieber zurückhielten. Trotzdem hatte er gute und viele Freunde. Das führte er darauf zurück: „Es liegt einfach daran, dass ich Kompetenz habe.“ Jemand fragte: „Was verstehst du denn darunter?“ Er antwortete: „Das möchte ich nicht in kurzen Worten erklären, aber mir fallen gerade zwei Begebenheiten ein, die ich einfach erzähle.“ Und so begann er, seine Kompetenz zu erläutern: „Kompetenz haben eigentlich alle Menschen, aber das reicht natürlich nicht aus. Kompetenz muss man unter Beweis stellen. Das liegt daran, dass allgemein Vertrauen verlangt wird. Alle sollen immer in alles vertrauen, aber in wen oder konkret was, erfährt man nicht. Es heißt ganz lakonisch, schenken Sie mir oder uns Ihr Vertrauen. Was kann das schon bedeuten, frage ich mich. Das ist bei Kompetenz völlig anders. Hier entscheidet der, der Kompetenz hat, selber. Ihr wisst ja, dass ich mit meinen Freunden gerne Kiten oder Surfen gehe. Das sind harmlose Sportarten. Die kann jeder an jeder Küste und bei jedem Wind ausüben. Leider sind sie nicht so bekannt wie Fußball oder Leichtathletik, sonst wären sie viel verbreiteter. Am besten, haben meine Freunde und ich festgestellt, reist oder fliegt man zu den fernen Küsten, den Inseln der Karibik oder den Kanaren, z.B. nach Fuerteventura. Die Küsten Floridas sind auch noch interessant dafür. Da gehen überall starke Stürme. Die fordern doch geradezu heraus, sich mit ihnen zu messen, eigene Kräfte auszuprobieren, ohne sich zu stressen. Die meisten Menschen leben leider im Stress und tun nichts dagegen. Dabei ist das so einfach. Die Flugtickets kosten fast nichts. Wenn man nicht gerade einen Billigflieger wählt, wird sogar auf dem Flug serviert. Bei der Unterbringung sind wir uns immer einig. Ein etwas teureres Hotel ist stets besser als gar keines, und da sind immer Zimmer frei. Man sollte nur nicht zu wählerisch sein. Ja, dabei kann schon Kompetenz unter Beweis gestellt werden. Drei, vier Tage zwischendurch reichen meistens. Ein anderes Beispiel finde ich auch sehr deutlich. Meine Freunde und ich lehnen, wie ihr ja wisst, das Fleisch von Tieren gänzlich ab. Wir wollen Fleisch von Tieren nicht zu uns nehmen. Nicht nur, weil sie oft und unnötig gequält werden bis man sie für uns tötet, nein sondern weil wir auf Grund unserer Kompetenz völlig frei entscheiden, können. Nein, wir essen nur noch echten Wildlachs, Fleisch von wirklich jungen Kälbern, die in ordentlichen Boxen standen. Da wissen wir, dass der Lachs ein freies Leben hatte, und bei den Kälbern versichert man uns, dass deren Jugend artgerecht und irgendwie frei gewesen war. Wild essen wir auch nur, wenn wir sicher sind, dass es waidgerecht gejagt wurde. Sicher kostet das etwas mehr Geld, aber sonst gönnen wir uns doch kaum etwas. Wir essen auch wenig Geflügel, nur solches, das aus Freilandhaltung kommt. Bei dem riesigen Angebot von Meerestieren und Meeresfrüchten müssen wir uns immer noch auf die Serviervorschläge der Bedienung verlassen. Für uns aber ist es beruhigend, dass der größte Fanganteil nicht auf unseren Tellern landet, sondern als ungewollter Beifang dem Meer zurückgegeben wird. Wenn meine Freunde und ich abends zusammensitzen und den Tag vorüberziehen lassen, rätseln wir manchmal, warum andere sich ihre Kompetenz nicht auch zu eigen machen und sie zeigen und ein ganz klein wenig, so wie wir, auf ein wenig Mehr verzichten. Wir können das wirklich nicht verstehen. Wir möchten gerne beispielhaft für alle sein und mit unserer Kompetenz zeigen, wie jeder märchenhaft glücklich leben kann.“ |
Meine achtjährige Enkelin hatte in der Schule das Thema, „Abenteuer“, und schrieb mir davon in einem Kinderbrief. Sie wollte, dass ich einen Beitrag dazu leiste, sozusagen: „Mein Opi hat mir geschrieben, dass…“ Also verfasste ich eine Antwort: „Liebes, großes Mädchen, du hast recht mit deinem Wunsch, dass ich dir deinen Brief beantworten und etwas dazu sagen sollte. Ich finde zum Beispiel das Thema, Abenteuer, ganz, ganz aufregend. Ich finde auch, dass Abenteuer wie Blicke in ein Kaleidoskop sind. Es genügt eine ganz kleine Drehung, und alles ist anders.“ Ich dachte, dass das kindgerecht sei, schrieb dann aber noch, wie ich in unserem Garten eine klitzekleine, vielleicht sechs Zentimeter lange junge Blindschleiche entdeckt hatte und nicht wusste, ob und womit man die vielleicht füttern sollte. Das Tier war dünn wie eine Kugelschreibermine und bewegte sich nicht sehr schnell. Der Gedanke an ein wirklich erlebtes Abenteuer aber fraß von nun an an mir und ließ mich nicht mehr los. Ich saß in Gedanken versunken an meinem „Brett“, meiner Staffelei, und hatte eine lebensgroße Bleistiftzeichnung begonnen. Jeder Zeichner und Maler erlebt mit dem Beginn seiner Arbeit die Verselbständigung von Einfällen, Launen, Techniken oder Lust. Bei mir stand immer im Vordergrund, dass ich zwar, wie in diesem Fall eine Zeichnung anfertigen wollte, es war aber nicht entschieden, ob mit Bleistift, Rötel oder Kohle. Das Thema gab es schon, es sollte ein Frauengesicht sein, dass die letzten Wochen und Tage in meiner Vorstellung immer deutlicher geworden war. Die Wahl fiel auf Kohle. Die war gut, denn Kohle lässt sich leicht mit den Fingern verwischen, um Schatten oder andere Ungenauigkeiten zu schaffen. Ich habe oft gehört, dass der erste Strich auf einem leeren Blatt für manchen Zeichner der schwierigste ist. Das Problem kannte ich aber nicht. Im Handumdrehen hatte ich eine grobe Skizze fertig und war bei den Augen, als mich das Frauengesicht das erste Mal überraschte. Die Augen schlossen sich fast von alleine ohne Schlafaugen zu werden. Durch die niedergelassenen Augenlider sah sie mich streng und direkt an. Sieverlangte, dass ich dieses auffällig Transparente unbedingt beibehielt und nicht verwischte. Auch wenn mir manche Zeichnung schnell von der Hand geht, strengt es mich immer wieder über alle Maßen an, und nach drei oder vier Stunden brach ich ab. Ihr Gesicht war schlank, sie hatte niederfallendes Haar, die lagen weich auf ihren Schultern, den Mund hielt sie fast schmal verschlossen, aber so, als holte sie gerade Luft, um etwas zu sagen. Sie lächelte dabei. Außerdem wollte sie, dass ihr rechtes Ohr an oberster Stelle ein wenig aus dem Haar hervorschaute, und tatsächlich erbrachte das enorm den Anschein von Zuhören. Mir kam die Unterbrechung sehr gelegen, weil ich noch eine längere Autofahrt zu einem Kunden in halber Tagesreise Entfernung mit dem Auto zu erledigen hatte. Ich war alleine unterwegs und konzentriert, dachte aber auch an das Gesicht der Frau auf meinem Brett. Vielleicht bin ich ein ängstlicher Fahrer, denn ich fahre nicht schnell und habe die Augen oft im Rückspiegel. Ich mag es nicht, wenn schwere Laster so dicht auffahren. Das verführt mich zum schnelleren Fahren, um der Situation zu entweichen. Als ich nun auf dieser Fahrt das hundertste Mal nach hinten schaute, sah ich im Rückspiegel die Frau sitzen, an der ich gerade arbeitete. Ich blickte schnell wieder nach vorne und dann erneut nach hinten, um sicher zu sein, ohne es zu verstehen. Sie war so real, wie ein Mensch nur sein kann, und ich fragte spontan: „Sitzen Sie schon die ganze Zeit dort? Ich habe Sie nicht bemerkt.“ Sie sprach erst gar nichts und lächelte nur. Ein Ohr schaute auch aus den Haaren heraus. Darüber musste ich innerlich etwas lachen. Sonst war ich erstaunt und auch erschrocken. Nach einigen Augenblicken sagte sie: „Bei der nächsten Abfahrt sollten Sie abbiegen und später warten.“ Ich war nun mit dem Ausscheren beschäftigt und verlor sie aus den Augen. Dann aber tauchte sie wieder auf, und ich nahm mir vor, sie bei einem Halt zu befragen. Nach der Ausfahrt kam ich in einen langsamen Baustellenstau und musste sehr aufpassen. Als ich schließlich in einer Bucht halten konnte, war niemand auf der Rückbank. Das hatte ich erwartet und hatte nun den Einfall, dass sie schnell ausgestiegen sein könnte. Das ging aber nicht, weil ich immer die Kindersicherung eingeschaltet hatte. Jetzt machte ich richtig Halt an einer Raststätte und erfuhr, dass sich auf meiner Strecke gerade ein gewaltiger LKW-Unfall mit vielen aufgefahrenen Fahrzeugen ereignet hatte. Ich hatte direkt in der Kolonne gesteckt. Als ich spät am Abend zurück nach Hause kam, sah ich mein Bild mit ganz anderen Augen. Ihr Lächeln fand ich mal etwas spöttisch, dann wieder frech, und durch die geschlossenen Lider schienen ihre Augen immer deutlicher auf mich gerichtet zu sein. Wenn ich mit meiner Kohle aber nur in deren Nähe kam, spürte ich, wie sie ihr Gesicht entzog. Das Bild wurde irgendwann fertig und hatte für mich den Beigeschmack eines wahren Abenteuers. Wie ich meiner Enkelin geschrieben hatte, bleiben Abenteuer immer Blicke in ein Kaleidoskop, mit der kleinsten Drehung ändert sich alles. |
Ein uraltes persisches Gedicht beschrieb den Nachthimmel als dunkelblaues Tuch, welches übersäht ist von Nadelstichen. Die gewähren einen Einblick in eine andere Welt. Die aber kann der Betrachter nur erahnen. In so einer Sternennacht, heißt es weiter, bleiben die Gesichter anderer unerkannt. Ich habe das gut verstanden, weil ich mich auch in einer klaren Sternennacht befand. Die war so voller Klarheit, dass sie ihre Sterne fast aus ihrer Klarheit fallen ließ, dass ich gespannt nach oben blickte und auf die blinkenden und sich versteckenden Lichter schaute. Dabei wurden die weißen Nadelstiche immer heller und die Schwärze immer tiefer. Es war eine Umkehr. Alles schien mir plötzlich hell, was dunkel war und Dunkelheit war eingeschränkt auf helle Flächen. Ich liebe solche Nächte, weil sie mich vieles vergessen lassen. Zum Beispiel hinterfrage ich nicht mehr: „Wie viele Lichtjahre mögen die entfernt sein“, und: „Ist Helligkeit ein Maß für Sterne?“ Ich ging behutsam auf eine kleine Brücke und blieb über dem stillen, klaren Wasser stehen. Mit meinem Blick in die Tiefe fand ich mich selbst endlich in den Sternen wieder. Die ruhten nun über mir und unter mir, und mein Gesicht blieb unerkannt im Wasser stehen. Ist das Verlorenheit oder Gefangenschaft in einer fremden Welt? Gleich neben mir aber, und ich wagte nicht, mich umzudrehen, schien ein zweiter Mensch zu stehen. Er stand in seinem eigenen Sternenzelt. Das Wasser unter mir war völlig still, unbewegt und ohne jedes Wellenkräuseln. So einfach, dachte ich, ist die Welt, und ebenso einfach ist es, ihr etwas anzutun. Ich bräuchte nur mit einem kleinen Stein nach ihr zu werfen und ihr Gesicht zerbräche. Mir gab es Sicherheit und Zufriedenheit, hatte aber auch Zweifel, wie lange würde das gutgehen? Mir fiel der zweite Mensch an meiner Seite wieder ein. Direkt gesehen hatte ich ihn nicht. Er steht wohl wie ich still und schaut gebannt auf das Wasser, in die Sterne. Sicher hofft er ebenso, dass nichts passiert und nichts geschieht. Beide sehen wir nach unten und dabei nach oben in die Kuppel. Ich höre keinen Atem. Ja, er muss sehr eng an meiner Seite stehen und beugt sich so wie ich weit über das Geländer. Ich spüre keine Wärme, die sich überträgt. In meiner Neugier sehe ich in die Tiefe in ein Doppelbild, ins doppelte Gesichterschwarz und halte meinen Atem an. Dann hebe ich den Kopf und wende meinen Blick zur Seite. Nichts, nein nichts und niemand ist zu sehen. Keiner steht oder stand neben mir. Ich sehe mich hier ganz alleine. Kein anderer ist zu erkennen. Dann schaue ich zurück auf das Wasser und sehe wie jemand aus dem Bild verschwindet. Doch niemand ist neben mir und war und ist nicht über mir. Nein, außer mir war nichts in dieser Sternennacht, die mich in ihre Sterne stellte. |
„Du musst dir alles aufbewahren, was dir lieb und wertvoll ist,“ soll mein Großvater immer gemeint haben. Das ist leichter gesagt, als getan. Einige schöne Dinge sind so kurzlebig, dass man sich kaum traut, sie zu benutzen, um sie zu genießen. Andere Dinge werden jemandem vielleicht von Herzen geschenkt, weil derjenige sie sich gewünscht hat. Sie erweisen sich dann aber nicht als das, für was derjenige sie eigentlich hätte haben wollen. Es ist natürlich schwer, dem oder den Schenkenden dann einzugestehen, dass das Geschenk gar nicht den Wunsch der Wünsche erfüllt. Bei einem Spaziergang an einem bekannten Badeort betrat ich einen Chinaladen. Der war von außen unauffällig. Meine Neugier, vielleicht auch Langeweile, ließ mich das Geschäft betreten, und mir fiel etwas auf, das ich nie gesucht und mir schon gar nicht gewünscht hatte, das für mich aber eine liebevolle Begegnung war. Ich fand eine kleine Muschel, deren Inhalt ganz aus Papier gefertigt war. Aus Kindertagen weiß ich, dass man die nur in das Wasser eines Zahnputzglases oder überhaupt in das Wasser eines Trinkglases zu legen braucht, und sie öffnet sich langsam von unsichtbarer Kraft bewegt. Endlich Zuhause, war es so weit. Es schlüpften bei meiner Muschel erst ein, dann zwei, dann drei kleine, blaugrüne Fischlein, die an Fäden hingen. Dann erwuchs die Miniatur einer unwirklichen Meerespflanze auf einem grauen Fels, und die Muschel klappte nach vollbrachter Arbeit weit auseinander. Für mich entstand eine eigene Welt. Ich kaufte mir gleich zwei davon, denn die erste war ja sowieso verloren und die zweite würde, wohl wegen ihrer Vergänglichkeit, nie ins Wasser gelangen. Anders erging es mir bei einem Geburtstagswunsch. Die Geschichte wird in der Familie mit Rätselraten überliefert, da es schwerfällt, sie irgendwie einzuordnen. Mir wurde ein eigener Geburtstagswunsch angetragen, den ich aber noch abwenden konnte: „Wir möchten dir eine Armbanduhr schenken, eine superflache, goldene, mit Gravur und einer Mineralglasabdeckung. Die hast du dir doch schon immer gewünscht“. Das war mir neu. Um allem aus dem Weg zu gehen, sagte ich schnell: „Das stimmt, aber viel lieber hätte ich eine Taschenuhr, denn all meine Hosen, sogar die Jeans, haben kleine Taschen für Taschenuhren“. Ich wusste, dass das nur bei den Jeans noch stimmte, hoffte aber damit, der Frage nach meinem Geburtstagsgeschenk entgangen zu sein. Ich hatte eigentlich nie Wünsche. Vielleicht war mir Wünschen einfach zu unbequem. Dem war aber gar nicht so, sondern ich bekam von der ganzen Familie eine Taschenuhr geschenkt. Die war golden, mit Gravur im Deckel, einem Spielwerk zu jeder vollen Stunde. Sie war vollautomatisch und hatte eine Kette. Ich habe mich riesig gefreut: „So eine Uhr hatte ich mir schon immer gewünscht. Wie konntet ihr das wissen?“ Jeans trug ich nur selten, und andere Hosen hatten keine Taschen für solche Uhren. Also stopfte ich sie in normale Hosentaschen. Die beulten aber gewaltig aus. Die Uhr hatte zudem Eigengewicht und war sehr schwer. Auf Dauer zu schwer für mich. Dann geschah das Wunder. Aus Versehen geriet die Uhr, noch in einer Hose, in die Waschmaschine. Nach dem Waschen wurden mir beide wieder ausgehändigt. Niemand hatte etwas bemerkt. Die Uhr war nun allerdings sehr handlich, so klein und so leicht wie eine Briefmarke. Sie gab kein Ticken mehr von sich, keine Spieluhr ließ sich hören, und wie spät es irgendwann einmal war oder ist, interessierte mich ohnehin nicht. Niemand ahnte etwas, und es schien sich auch keiner dafür zu interessieren. Von nun an begann ich sie stolz an der Kette zu tragen und lobte gelegentlich, dass sie so enorm leise war. Es war wirklich kein Ton mehr zu hören. Manchmal sollte ich die Uhr dennoch vorzeigen: „Wie sieht sie eigentlich aus?“ Dann: „Die hab ich mir viel größer vorgestellt und auch schwerer.“ Ich antworte darauf: „Vieles hat man oft ganz anders in Erinnerung als es tatsächlich ist.“ Mein Großvater hat Recht behalten mit seinem Spruch: “Du musst dir alles aufbewahren…“ Darüber denke ich gerne nach, wenn durch das Fenster ein wenig Sonnenschein auf meine goldene Taschenuhr fällt. Vergänglichkeit ist eben nicht aufzuhalten, selbst wenn die Dinge manchmal ein unvorhergesehenes und nicht nachvollziehbares Eigenleben beginnen. |
Luisa ist eine erwachsene junge Frau und würde zu gerne öfter ins Theater gehen. Weil die normalen Theaterkarten aber für sie nicht erschwinglich sind, geht sie also auch zu OpenAir-Veranstaltungen. Die sind oftmals günstiger. Dabei dürfen auch Freilichtbühnen, z.B. Kindertheater, sein. Lieber, aber als das alles, hat sie den Übergang zwischen „richtigem“ Theater und „Märchentheater.“ Am liebsten allerdings hat sie Ballett. Ballett ist für sie das Allergrößte. Aus dem TV und wegen ihrer Begeisterung, kennt sie die bekanntesten Aufführungen so gut wie auswendig. Da gibt es für sie aufregende Stücke, die sie wohl nie live wird besuchen können, weil, naja, sie muss eben bescheiden bleiben. Wenn es denn doch, selten genug, zu einem Besuch kommt, tanzt sie in Gedanken mit, als gehörte sie zum „Corp de Ballett.“ Eine ganz liebe Nachbarin musste kürzlich auf einen Ballettbesuch verzichten. Nicht, weil sie das Stück schon kannte, sondern aus gesundheitlichen oder sonst welchen Gründen und bot ihr die Karte einfach an. So etwas ist ein wahres Geschenk für sie. Sie fragte nicht, was gespielt würde, sondern geriet gleich in Glückseligkeit. Theaterbesucher und vor allen Dingen, Besucherinnen, kleiden sich für einen solchen Anlass festlich. Das verstand Luisa sehr gut, weil auch sie dieses Bedürfnis empfand. Zum Glück hatte sie ein Kleid. Das war nur noch nicht zusammengenäht, denn es stammte aus ihrer eigenen Kleiderwerkstatt. Es war ein durchgehend weinroter, zauberhafter Stoff. Sie hatte zwar immer noch keine Nähmaschine, war aber fest entschlossen. Alle Nähte „heftete“ sie deshalb mit großen und sehr großen, vergoldeten Sicherheitsnadeln zusammen. Zwei der sehr großen Nadeln saßen links und rechts außen auf den Schultern. Das Kleid hatte einen dezenten Ausschnitt, der verlief nicht spitz nach unten, sondern endete in einer kleinen Quernaht. Die machte das Dekolleté raffiniert und aufregend. Sonst war das Kleid knapp knielang, ärmellos, etwas höher tailliert, und schwang nicht zu weit aus. Es schob sich bei großen Schritten leicht in die Höhe. Sie trug kein Unterkleid. Das machte sie eigentlich nie. Zu dem ganzen passten ihre schwarzen Ballerinas sehr, sehr gut. Luisa hatte ihr leicht lockiges, blondes Haar meistens offen. Manchmal flocht sie es aber auch, vielleicht aus Kindertagen, wie heute zum Zopf. Der war dann ziemlich lang, so dass sie ihn hochsteckte. Mit dem Fahrrad fuhr sie nun die kurze Strecke zum Theater und stieß gleich im Vorhof auf eine Gruppe fein gekleideter Leute, die ziemlich erbost diskutierten. Sie stellte das Fahrrad ab und wurde belehrt: „Heute soll die Aufführung ausfallen. Ein Mäzen hat die ganze Aufführung aufgekauft. Wir sollen aber unser Geld zurückerhalten.“ Luisa war schrecklich enttäuscht. Bevor sie weiter Fragen stellen konnte, wurde sie angesprochen: „Gehören Sie zum Ensemble? Wer sind sie?“ Darüber erschrak sie zwar, blieb aber cool. Sie sah an den Wänden riesige Schilder und Plakate, darauf stand immer wieder derselbe Name. Statt die Frage zu beantworten, las sie wie verzückt laut: „Giselle.“ und lächelte verschmitzt. Darauf der Fragende: „Natürlich, du bist Giselle! Du bist die Neue. Das sieht man doch! Das ich nicht gleich darauf gekommen bin. Du gehörst zum Ensemble, also rein mit dir.“ Sie wurde vorbei an den aufgeregten Leuten direkt auf die Bühne geführt, wo man sie schon zu erwarten schien. Es standen dort mehrere Tänzerinnen und Tänzer, ganz entspannt, in sehr engen Kostümen. Als sie aber den Raum betrat, begann sekundenlang ein erstauntes Raunen. Luisa war verunsichert und hätte gerne mehr gewusst. Einer der Tänzer sprach sie an: „Vergiss alles, was du über Giselle weißt, alle Schritte, alle Bewegungen, einfach alles. Wir werden gleich beginnen, und du lässt dich führen. Wenn ich dir ein Zeichen gebe, hast du einen Solopart. Den füllst du aus, wie du fühlst und empfindest. Achte auf nichts weiter und niemanden, nur auf die Musik. Die kennst du ja. Beide Akte spielen wir mit nur einer Pause durch. Du siehst wunderbar aus. Du trägst ein Kleid, wie man es sich nicht besser für Giselle wünschen könnte. Wunderbar. So, es geht los. Ach, noch eines, wenn es gut läuft mit dir, übernimmst du die Primaballerina, ok?“ Das Orchester begann zu spielen, und nach wenigen Augenblicken war Luisa in Giselle verwandelt und tanzte unter der Führung erst des einen, dann eines anderen Tänzers und schließlich und immer öfter als Solistin. Nach dem ersten Akt kam eine Frau, die ihr die vergoldeten Sicherheitsnadeln richtete. Die sagte: „Dein Kleid ist eine Überraschung und so überzeugend. Ich gratuliere dir.“ Die Tänzerinnen und Tänzer waren in kleinen Tanzpausen sehr besorgt um sie. Alle zeigten irgendwie großen Respekt und bei einigen Hebefiguren wurde sie nicht zu sehr unterstützt, weil sie in ihrer Rolle ja keine Tänzerin sein sollte, sondern ein armes Bauernmädchen. Publikum war nicht da. Es saß nur ein einziger Mann im Zuschauerraum. Am Ende der Aufführung kam der auf sie zu und gratulierte: „Herzlichen Glückwunsch. Das wird ein Riesenerfolg. Sie sind eine echte Bereicherung. Warten Sie es nur ab.“ Als sie sich verabschieden wollte, gab eine der Tänzerinnen ihr ihr Handy zurück. Das hatte sie aus der Hand geben müssen. Sie hatte aber auch einen Zettel. Darauf standen die Aufführungstermine: „Sei bitte pünktlich und wundere dich nicht, denn von nun an wird dich der Sohn unseres Mäzen zu jeder Aufführung vor deiner Tür erwarten und chauffieren wollen. Ich glaube, der möchte dich unbedingt kennenlernen.“ Tatsächlich stand an jedem der Abende ein großes Luxusauto vor ihrer Tür und ein junger, freundlicher Mann fragte, ob er ihr Fahrer sein dürfte. Anfangs lehnte sie das ab, später aber, als sie merkte, dass sie wirklich zum Ensemble gehörte und dreimal die Woche auftrat, ließ sie sich doch von ihm fahren. Luisa war auffallend begabt mit natürlichen und tänzerischen Bewegungen der Hände, aber auch des gesamten, schlanken und geschmeidigen Körpers. Zum Beispiel versteckte sie mädchenhaft beide Arme auf dem Rücken, beugte sich dabei nur wenig vor und hob ihr Gesicht weit nach hinten. Sie machte auch anmutige Sprünge. Das Publikum beobachtete genau, wie sie die Füße streckte, die dann eine gerade Linie mit den Beinen bildeten, und dass sie für Sekundenbruchteile zu einer schwebenden Tänzerin wurde. Luisa konnte schnelle, rückwärts gerichtete Trippelschritte machen. Sie kam zwar nicht voran, die Zuschauer hatten aber den Eindruck, dass sie die Schritte auf Spitze liefe. Darin war sie geradezu perfekt. Ihre Arme hielt sie dabei streng nach vorne gegen den Rocksaum und die Knie gedrückt. Sie kokettierte mit den Augen, die sie verschämt hinter ausgestrecktem Handrücken niederschlug. Das Publikum stöhnte auf vor Mitgefühl. Ihr Kleid wurde zu jeder Aufführung neu, aber originalgetreu, in die Garderobe gelegt. Das erste hatte sie bei sich zu Hause und hütete es liebevoll und sorgsam. Es wurde ihre Begabung zur eigenwilligen Sprache durch Gestik deutlich, und die vielen traumhaften, musikalischen Stücke im Dreivierteltakt schienen ihr auf den Leib geschrieben zu sein. Beim Tanzen zählte sie den Takt gerne mit. Das alles war neu, das erregte sehr. Wenn Luisa ins Theater kam, las sie mit Stolz aber auch innerem Erröten über dem Eingang und an den Wänden auf den Plakaten: „Giselle“ und darunter „Luisa, Primaballerina.“ Sie hielt ihr neues, überstürztes Leben zeitweise für einen unwirklichen Traum. Sie fürchtete auch, dass es so tragisch enden könnte wie „Giselle“ in dem Ballett. Diese Angst aber konnte ihr schon nach kurzer Zeit der umsichtige Fahrer nehmen. Den hatte sie sehr lieb gewonnen, und sie vertraute ihm in allem. |
An einem Vormittag musste ich ungewollt ein Gespräch mit anhören. Zwei Frauen, die sich im Treppenhaus unterhielten, wollte ich durch mein Vorbeigehen nicht stören, also blieb ich abwartend stehen. Ich hatte es nicht eilig. Die beiden Damen stellten sich einander vor: „Und was machst du?“ „Ich bin in der Seelsorge, und ich helfe anderen.“ Die andere: „Wieso. Wie geht das denn. Bist du Pastorin oder Pfarrerin?“ Die erste: „Nein, nein, nicht sowas, sondern ich bin in der Seelsorge tätig, das ist etwas anderes.“ Die neue Frage: „Das versteh ich nicht.“ Die erste wieder: „Das ist nicht so schwierig, ich bin beim Sozialamt, arbeite aber auch für die Polizei. Zum Beispiel kümmere ich mich um Unfallopfer. Manchmal hapert es an der Sprache. Dann bin ich aber gut vorbereitet.“ Die zweite: „Arbeitest du zu Hause, ich meine, hast du eine eigene Praxis? Könnte ich dich besuchen.“ Die erste: „Das ist immer möglich. Das ist auch unentgeltlich für alle.“ Ich ging dann an den beiden vorbei in meine Wohnung. Später begegnete mir die zweite Frau im Treppenhaus erneut und stellte sich mir vor. Sie sei eigentlich nicht neu im Haus und wohnte direkt unter mir. Sie lud mich ein in ihre Wohnung: „Vielleicht können wir uns bei einer Tasse Kaffee etwas unterhalten?“ Es wurde ein interessantes Gespräch für mich. Sie erzählte mir mit vielen Unterbrechungen, dass sie ihren Mann schon vor einem Jahr verloren hätte, natürlich an Krebs. In ihrer Verzweiflung und Hilflosigkeit hatte sie sich völlig zurückgezogen, zumal sie kurz zuvor diese, nun viel zu große, Wohnung bekommen hätten. Die war wirklich geräumig und hatte eine Treppe, die mit gedrechseltem, naturbelassenem, hellem Holzgeländer nach oben zu einer Empore führte. Von dort ging es weiter auf einen versteckten Balkon. Die Wohnung hatten beide ändern lassen, und für ihren Mann waren etliche Erleichterungen eingebaut worden, unter anderem auch ein zweites Geländer an der Treppe. Sie erzählte nun weiter: „Die Dame von unten, war hier kürzlich zu Besuch, und als ich etwas von der Empore holte, beobachtete sie genau, wie ich die Treppe hinauf und wieder herab ging. Sie fragte mich dann: ‚Warum benutzt du nur ein Geländer, wenn du doch zwei hast?‘ Das hatte ich noch gar nicht bemerkt. Es war ja für meinen verstorbenen Mann angebracht worden. Ich hatte das zweite bis dahin gar nicht so wahrgenommen. Sie sagte auch zu mir: ‚Wenn du das zweite Geländer mit benutzt, gehst du nach wie vor auf derselben Treppe, aber es hilft dir, weil du dich zusätzlich abstützen kannst.‘ Ich erklärte ihr, dass ich in meiner Trauer, bis jetzt von nichts und niemandem gestört sein wollte, aber auch wie sehr ich darunter litte. Sie meinte ganz nüchtern: ‚Du solltest Hilfe immer annehmen und wie ein zweites Geländer betrachten. Das wird dir guttun.‘ Sie sagte auch: ‚Ich glaube, dass niemand, der uns verlässt, möchte, dass der oder die Hinterbliebene in Verzweiflung zurückbleibt oder aufgibt.‘ „Sehen Sie,“ sagte sie dann wieder zu mir, „mich hat das sehr überzeugt, also vom Kopf her. Aber, als ich wieder alleine war und die Treppe hinunterging, hielt ich mich neuerdings mit beiden Händen nur an einem Geländerlauf fest. Es hat sehr lange gedauert, bis ich das selbst bemerkte und abänderte. Jetzt kann ich rauf und runter gehen und halte mich mal an beiden Geländern und dann wieder nur an einem und manchmal sogar an gar keinem fest. Ich fühle mich seit dem Besuch sehr viel offener für Gespräche und auch andere Umstände. Zum Beispiel, als ich kürzlich nachts auf dem Balkon saß und in den Himmel schaute, sah ich schnell nacheinander drei oder vier Sternschnuppen. Ich bin vielleicht ein wenig abergläubisch, denn ich dachte, das ist bestimmt ein gutes Zeichen, und ich darf mir etwas wünschen. Ich hatte aber keinen Wunsch und fand das auch ganz in Ordnung. Mich wunderte einzig, dass die Sternschnuppen so völlig geräuschlos waren.“ |
Als ich kürzlich auf dem nahen Friedhof einmal wieder spazieren gehen wollte, entdeckte ich, etwas weiter vom Eingang entfernt, aber immer noch gut von seiner Hauptstraße aus einsehbar, eine weiße, fast leuchtende Skulptur. Sie überragte niedrige Büsche und rosa blau blühenden Rhododendron. Die Skulptur hatte ich noch nie bemerkt, also ging ich hinüber, mir alles aus der Nähe anzusehen. Sie zeigte sich als Engel, wie aus dem Märchenbuch und hatte die Größe einer erwachsenen Frau. Sie war aus glattem, weißen Marmor mit hingehauchten rosa Einfärbungen. Sie stand auf einem Sockel, der trug eine Inschrift aus goldenen Buchstaben. Alles war auffällig, sogar der auf dem kleinen Hügel liegende ‚Grabschmuck‘, wenn man so sagen darf. Es lagen nämlich viele Puppen in Trachtenkleidern, braune und hellbraune Teddybären und rote, grüne, blaue sowie gelbe Bänder verstreut herum, als wäre es das Grab eines Kindes. Einige der Teile waren durch Regen etwas mitgenommen, andere schienen ganz frisch hingelegt worden zu sein. Zu einem Kindergrab passte die Figur aber nicht, weil deren Augen viel zu wichtig in die Ferne schauten, als gäbe es etwas Unbestimmtes, etwas, das im Leben nicht erreicht worden war. Meine ungestellten Fragen wurden durch einen freundlichen Mann, der sich als Journalist vorstellte, irgendwie aufgenommen: „Sind Sie auch Journalist?“ „Nein, nein, ich bin nur ein neugieriger Besucher, und die Figur ist mir so ins Auge gesprungen, dass ich hergekommen musste.“ Der Journalist: „Ach dann kennen Sie die Geschichte von Cora gar nicht? Die stand groß in der Zeitung. Ich bin dabei zu recherchieren, aber wenn Sie gar nichts wissen, können Sie mir auch nur wenig behilflich sein.“ Ich fragte trotzdem: „Wer war die Dame denn, sie war wohl sehr jung?“ Auf dem Sockel hatte ich gelesen, dass die Frau, man nannte sie nur Cora, mit weniger als 20 Jahren verstorben war.“ Der Journalist: „Die Frage, die mich interessiert, ist natürlich, warum sie so früh gestorben ist, aber auch, was sie beruflich gemacht hat. Es gibt da zwei Möglichkeiten, zum einen, dass sie für jemanden ‚anschaffen‘ gehen musste oder zum anderen, dass sie wegen ihrer auffallenden ‚Weiblichkeit‘ als Model gearbeitet hat. Anscheinend hatte sie eine große Karriere vor sich. Ihr Freund war offenbar auch ihr Mäzen. Seine Trauer jedenfalls, egal aus welchem Grund, ist enorm ehrlich und überzeugend. Dieses Grab ist sicher der Beweis. Ein junger Mensch, wie Cora, hätte sich zu Lebzeiten niemals ein eigenes Grab ‚ausgemalt‘. Diese Lage, die Figur und ihre Größe wurden von einem oder anderen nachträglich bestimmt. Das ist jedenfalls meine Meinung. Sicher wissen Sie dann auch nicht, woran oder wie sie verstorben ist?“ Ich: „Nein, mein Herr, ich weiß nichts.“ Der Journalist wieder: „Also die Frau lag auf dem OP-Tisch, ganz harmlos, wegen einer Brustvergrößerung. Man weiß heute nicht, wessen Einfall das gewesen ist, aber sie hatte auf eine Vollnarkose bestanden. Aus dieser Narkose ist sie nicht wieder aufgewacht. Das hat ihrem Freund wohl das Herz gebrochen. Erst hat er rechtliche Wege beschritten, aber die Kunst der Ärzte konnte nicht in Frage gestellt werden. Was ihm blieb waren schließlich seine Trauer und seine Art des Abschieds.“ Ich war erschüttert über das kurze Leben dieses aufblühenden Stars. Sicher hatten beide sie dafürgehalten. Ich sah mir ihr Gesicht genauer an und bemerkte nun frauenweiche und menschenfreundliche Züge. Sie nahm nicht Abschied. Ihr eigenartiger Blick mit geöffneten Augen und ihr wehendes Haar waren mir schon zu Anfang aufgefallen. Es schien mir nun, als ginge er in eine ganz bestimmte Richtung, und als ob Worte über ihre Lippen huschten. Weil ich mich auf diesem sehr großen Friedhof ganz gut auskannte, ging ich weiter in Richtung ihres Blickes. Dort erreichte ich schließlich den von mir gedachten Grund und glaubte von ihren Lippen richtig gelesen zu haben. Hier war ein bescheidener, für verdiente und prominente Frauen eingerichteter Teilbereich, der hieß: ‚Garten der Frauen‘. Dieser Name, dachte ich, ist ein freundliches Zeichen. Ich fand zwar kaum weitere Hinweise am Eingang, aber an einigen der Gräber waren kurze Erläuterungen und Erklärungen, überwiegend mit Verdiensten an Tafeln eingelassen. Es waren alles ausgezeichnete Frauen. Keine von denen aber war für die Liebe, für eine unsterbliche Liebe, gestorben. Ich dachte lange darüber nach. Die Beerdigung Coras hier, glaube ich, hätte diesem abseits gelegenen ‚Garten der Frauen‘ gutgetan. Sie wäre zu einem ewigen Rosenstrauch geworden und ihre blütenvollen Ranken allen Besuchern zur lebendigen Erinnerung. |
Dass jemand ein Träumer ist, erfährt derjenige nicht durch eigene Abenteuer, sondern dadurch, dass andere ihm das sagen, ja meistens sogar vorwerfen. Er ist dann darüber nicht erschrocken, höchstens ein wenig erstaunt und vielleicht irritiert. Leider erschrickt er sich aber wirklich sehr oft schon bei anderen, viel geringeren Anlässen, zum Beispiel, wenn jemand ganz harmlos auf ihn zugeht. Er sagt dann: „Tut mir wirklich leid, aber ich erschrecke mich bei jeder Kleinigkeit, manchmal sogar vor mir selber.“ Für einen Träumer hält er sich deshalb schon gar nicht. Ein Träumer, erzählt eine kleine Geschichte, ist wie die kleine Maus. Die liegt im Sommer scheinbar auf der faulen Haut, so dass sie alle, auch die Lieben, ermahnen: „Wie wäre es, wenn du mit anpacken würdest“, oder „tu auch mal etwas für die Gemeinschaft. Du liegst nur herum und lässt es dir gut gehen.“ Das findet sie gar nicht. Ihr geht es nicht schlecht, aber im Augenblick kann sie sich nicht von ihren Gedanken lösen und an irgendetwas anderes denken, als eben in ihnen zu verweilen. Alles andere muss einfach warten. Sie denkt auch: ‚Alles und jeder hat seine Zeit und meine kommt bestimmt.‘ Was sie damit meint, ist ihr völlig unklar, und es ist doch dumm, glaubt sie, etwas heraufbeschwören zu wollen, das in der Zukunft liegt. Tatsächlich kommt ihre Zeit, wie die Geschichte zeigt, aber erst im Winter, wenn alle anderen Mäuschen das letzte Körnchen verspeist haben und sie als ‚Träumerin‘ anfängt ihre Erinnerungsgeschichten vom Sommer zu erzählen. Mäusehunger und Mäuseärger sind dann schnell vergessen. Unser richtiger Träumer kennt diese Geschichte und findet sie total daneben. Er denkt nämlich an ein Land, vielleicht auch so eine Art Zufluchtsort, in welchem er seine Träume, auch die noch nicht geträumten, leben darf. Selbstverständlich auch jeder andere und sogar diejenigen, die die Träumer dauernd glauben ermahnen zu müssen. Auch die sollen dort ihre eigenen Träume, und die haben sie bestimmt, völlig frei und ungestört leben dürfen. Das Schöne daran ist, dass alle, die ein solches Land erreichen völlig unter Gleichen sind. Alle wären ja Träumer. Der Träumer möchte trotzdem nicht, dass auch nur ein einziger so ist wie er. Er ist nämlich einzigartig, allein schon wegen seiner Träume. Er sieht seine Träume als wunderbare Bilder in einem Kaleidoskop, dass nur er drehen und wenden darf. Die Träume der anderen interessieren ihn herzlich wenig. Seine Träume bestehen nicht aus Begehrlichkeiten wie schöner Kleidung, gutem Essen, Urlaub an der Küste, Stränden, großen Reisen oder schönen Künsten und nicht aus Kunst mit erhabenen Worten usw. usw. Das braucht er alles nicht, denn in seinen Träumen sind immer alle Wünsche erfüllt. Er hat auch seltsamerweise keine Sehnsucht nach liebenswerten Menschen und vermisst sie nicht. Wenn dort etwas erledigt werden muss, ist es entweder schon getan, oder es ist nicht mehr erforderlich oder am schönsten, es bräuchte überhaupt nicht mehr erledigt zu werden. Ein Träumer fragt auch nicht nach einem Warum, oder? Dann wäre er kein Träumer. Für ihn gibt es auch keine Verbote, aus demselben Grund natürlich. Unser Träumer sorgt sich nur, was passiert, wenn er seine Träume nicht mehr leben kann, weil er sie zum Beispiel langweilig findet, oder weil sie sich dauernd wiederholen oder, oder, oder. Haben dann die anderen, die ihn immer ermahnt hatten, auch keine Träume mehr? Werden alle ohne Träume leben müssen? Nun hat er eines Tages einen wirklich neuen Traum vom Träumen, nämlich, dass für ihn eine Art Tunnel entsteht. Der führt in eine Welt oberhalb des Zufluchtsortes und beschert ihm, dem Ankommenden, die Leichtigkeit eines Schwimmenden, der problemlos unter Wasser atmen kann, eines Fliegenden, der von der Luft, ohne Flügel zu haben, getragen wird, eines völlig Ungeschützten, der unbeschadet durch Feuer, ja durch Lava gehen, von einer Klippe springen kann, der aber nicht abstürzt, nicht fällt und sich nicht fürchtet. Diese andere Welt ist voller Farben- und Lichtspiele. Dabei sieht er vor seinen Augen einen vom Wind bewegten Wald aus Bambus. Durch den fällt Sonnenlicht. Das bricht sich in Regentropfen, die noch an den schlanken Blättern hängen und in dem Wellenkräuseln des gleich dahinter liegenden Sees. Der schimmert durch die Bambusstangen. Er genießt die vielen Regenbogenfarben, das helle Grün und Gelb der Blätter, er fühlt auch das Streicheln eines leichten Windes und achtet auf die sanften Windgeräusche, auf das Plätschern der kleinen Wellen am Ufer und das Zwitschern versteckter Vögel. Nein, dort war er noch nicht, aber er kennt sich aus und versteht es, von dieser Welt immer dann zu erzählen, wenn wieder jemand glaubt, ihn ermahnen zu müssen. Sobald er aber alleine ist und nur mit sich redet, gibt er zu, dass er so anspruchslos lebt, wie eine Schwalbe. Gerne wäre er auch eine von ihnen. Ihre Flugkünste und ihre Schnelligkeit in einem schier übergroßen Freiraum sind ihm Beispiele für ungestümes Leben. Tatsächlich hat er manchmal nur einen halben Apfel über den ganzen Tag und einen lauwarmen Becher Tee am Abend. Dann legt er sich mit knurrendem Magen auf eine schäbige Matte. Die hat er vom Sperrmüll. Er wohnt derzeit unter einer Brücke. Dort ist es nachts nicht so kalt. Alkohol trinkt er grundsätzlich nicht und nie, nicht aus Prinzip und nicht aus Mangel an Gelegenheit, sondern weil er weiß, dass ihm Alkohol nicht bekommt und auch nicht guttut. Wenn er endlich einschläft, träumt er gerne, dass ihn eine Schwalbe auf ihrem Rücken durch die Wolken trägt. |
Ich lauschte einmal dem Bericht einer freiwilligen Helferin, die aus einem anderen Land zurückgekommen war und erfuhr von einer jungen Frau in jenem Land. Das wurde beherrscht von Militär, Paramilitär, herumstreifenden Soldateska und vielen Banden. Es war eine schwarze Frau aus einem kleinen Dorf. „Geschützt“ wurde das nur von den wenigen alten Männern, die noch übrig waren und die sich sofort, bei jedem Angriff oder Überfall ergaben. Das war für alle das Beste, denn die immer wiederkehrenden Gründe der Angreifer waren einfach Hunger und Durst. Ließ man ihnen, was sie fanden oder sich nahmen, kam jeder mit dem Leben davon. Junge Männer waren fast ausnahmslos in die Berge geflüchtet und bildeten von dort aus eigene Trupps, die dann wieder Überfälle verübten. Es war eine Spirale ohne Ende. Ihr Dorf lag nicht weit entfernt von einem Reservat. Da hielt die Frau sich manchmal auf. Als sie aber eines Tages zurückkam, geriet sie sofort in einen Überfall und erkannte unter den Angreifern auch einen größeren Jungen aus dem Nachbardorf. Sie erschrak darüber, wollte aber Stillschweigen bewahren. Den jungen Mann entfesselte diese Begegnung jedoch. Er warf sie bäuchlings über einen Felsvorsprung am Brunnen und tat ihr von hinten Gewalt an. Sie konnte sich in keiner Weise wehren. Als er sie schließlich loszulassen schien, überkam ihn weitere Lust und er packte sie, um sie zu töten. Obwohl sie sich losreißen konnte, verletzte er sie schwer. Sie blutete nicht stark, hatte kaum Schmerzen, sah aber, dass er ihr in seinem Gewaltrausch die rechte Brust abgetrennt hatte. Sie hielt einen Teil ihres zerfetzten dunklen Leinenkleides gegen die Wunde und rannte in Richtung Reservat. Er folgte ihr nicht und auch sonst niemand. Sie wusste dort ein Versteck und war nun völlig auf sich alleine gestellt. Es war eigentlich eine Höhle im Gestein, die von der Öffnung her tagsüber warmes Licht einfallen ließ. Sie betrachtete die offene Wunde und sah auf weißes Fleisch. Ihr Wissen um Heilung war beschränkt, aber sie half sich mit reifen und halbreifen Kräutern. Die legte sie auf die bloße Stelle und band darüber die breite abgerissene, gelbe Rinde eines Baumes. Sie verhielt sich völlig still. Wasser holte sie aus einem Rinnsal nahe bei. So entkam sie der größten Not. Sie kannte sich gut aus mit Essbarem, fing sich kleine Tiere und sammelte Wurzeln. Über ihre Wunde zog sich schon nach kurzer Zeit erst eine hauchdünne, dann eine gleichmäßige, stumpfe Pergamenthaut. Die riss noch ein paar Mal kaum merklich ein, wurde dann aber fest und auch ein wenig elastisch. Schmerzen hatte sie keine. Ihre Sorge oder besser ihre einzige wirkliche Frage wurde in kurzer Zeit beantwortet, ja, sie war von der Vergewaltigung schwanger geworden. Damit wollte und konnte sie sich niemandem anvertrauen. Zu groß war ihre Angst. Sie hatte nicht nur Angst vor einem neuen Überfall, sondern auch vor dem Jungen aus dem Nachbardorf. Der würde sicher mit seiner Tat herumprahlen. Noch mehr Angst aber hatte Sie vor ihren eigenen Dorfbewohnerinnen, weil die eine ledige, werdende Mutter verstoßen würden. Als sie schließlich ihr Kind geboren hatte, wusch sie ihm als erstes die Augen. Das und ähnliches hatte sie bei ihrer Mutter gelernt. Dafür empfand sie jetzt große Dankbarkeit. Die empfand sie auch für ihre Götter, den eigentlichen Hausgott, den Gott des Wassers, den Gott der Felder und den Gott der Tiere. Sie ermahnte sich sehr, diese nicht zu vernachlässigen. Ihr Baby nannte sie in ihrer Sprache etwa so: „Ich habe dich zum Fressen gern.“ Für sie war es das süßeste Baby der Welt. Ein liebevollerer Name fiel ihr nicht ein. Sie sagte sich auch: „Der Name soll dem Kind später einmal eine Erklärung für meine Narbe sein: Dein Papa hatte mich zum Fressen gern.“ Das, dachte sie, wird die Götter besänftigen, und mein Bemühen, den Jungen aus dem Nachbardorf nicht zu hassen, wird sie milde stimmen. Sie machte sich keine Gedanken über Recht und Unrecht, denn eines beherrschte ihr Leben wie das aller anderen: „Wer sich mit den Göttern streitet, verliert.“ Das Baby nährte sie mit reichlich Milch aus ihrer linken Brust. Es hatte blaue Augen. Sie war so froh, dass sie rechtzeitig bei früheren Erkundungen den Unterschlupf entdeckt hatte und bastelte sich richtige Kleintierfallen. Damit fing sie ausreichend Fleisch. Das konnte sie garen, weil sie es gelernt hatte, mit wenigen trockenen Spänen und durch geschicktes Drehen eines anderen Holzes mit einer Schlaufe, erst Glut und dann Feuer zu entfachen. Sie garte anfangs auf glatten, roten, heißen Steinen. Dann entdeckte sie, dass ihr Unterschlupf schon zuvor Herberge für andere gewesen sein musste. Sie fand nicht nur Reste von Essen und Verbranntem, sondern auch, wohlgeordnet, Gegenstände, die sie nicht alle zu verwenden wusste. In einer geflochtenen Schachtel sah sie gleich den geeigneten Babykorb. Das machte sie glücklich. Darin lagen weiße gerollte Tücher und solche mit klebenden Enden. Das Innere roch sehr gesund. Den Geruch kannte sie sonst aber nicht. Eine größere Kiste aus Metall war ebenfalls unverschlossen und beinhaltete Töpfe und schlanke Behälter aus trübem Glas. Kleinere Glasbehälter, etwa so groß wie ihre Finger, die aber gänzlich verschlossen waren und Flüssigkeiten enthielten, ließ sie einfach liegen. Dass sie nicht die erste Bewohnerin der Höhle war, erkannte sie auch an zwei menschengroßen, blütenblauen Zeichen an einer Höhlenwand. Die wusste sie nicht zu deuten. Sie sprach zwar die Landessprache, konnte aber weder lesen noch schreiben. Das eine war ein Bogen, wie das Hufeisen eines Pferdes, das nach oben öffnete, das andere eine Art Blitz, der schoss von links nach rechts. Beide Zeichen standen nebeneinander und gehörten wohl zusammen: ‚U N‘. Sie deutete das als gut für ihre Zukunft, auch und besonders weil die Farbe, Blau, in ihrem Land die Farbe der Könige und des Glücks war. Gleich darunter errichtete sie auf der umgekehrten Kiste aus Metall eine Art Altar. Sie hockte sich dort gerne mit übergeschlagenen Beinen hin und sprach hauptsächlich zu dem neuen Hausgott, dem Gott ihrer Unterkunft. Dabei war sie überzeugt: „Die Welt in der ich lebe, ist die beste und die einzige“ und dachte das auch für ihr Kind. Als Dank bedeckte sie den Altar mit Kostbarkeiten ihrer Habe, kleinen getrockneten Fellen sowie Früchten und Wurzeln aus der nahen Umgebung. |
Er, sein Name war Vladimir, ging gerne nachts in seinem Garten spazieren, nur ein bisschen auf und ab, weil es sich mehr um ein Gärtchen als um einen Garten handelte. Um den kümmerte sich eigentlich seine Frau und zwar mit persönlichem Einsatz. Für einige Pflanzen hatte sie sogar eine Intensiv eingerichtet. Das hieß bei ihr, nicht nur schonende Pflege, sondern auch morgendliche Begrüßung wie einen liebgewordenen Freund. Vladimir wusste nicht, ob denen das gefiel, und ob es etwas nützte. Heute, in dieser Nacht, ging er wieder an der Kinderschaukel vorbei. Die stand so seltsam ruhig vor dem fast weißen Mond. Eigentlich war es hier viel zu eng für weite Sicht. Er konnte seine Blicke aber nicht zurückhalten und gab den Gedanken freien Lauf, als seine Augen immer wieder in Richtung ‚Mondgebirge‘ wanderten. Da war Weite, da war Größe, und es packte ihn Sehnsucht. Er konnte nicht glauben, dass dort oben schon einmal ein Mensch, so klein wie er, gewesen sein und ihn betreten haben sollte. Dieser sehnsuchtsvolle Ausblick machte ihn frei von dem manchmal erschreckenden Wunsch, diese Welt für immer freiwillig verlassen zu wollen. An der Kinderschaukel hing schon seit Jahren ein kräftiges Seil. Das störte vielleicht, war vielfach etwas im Weg, aber es wurde nicht entfernt. Mit ihm verband er direkt sein Geheimnis. Das blieb zwar in seinem Herzen unter Verschluss, spie aber immer wieder glühende Lava in seine Seele. Seine Frau war liebevoller in ihrer Deutung und behielt, wie er, zwar die Schaukel in ihrem Blick, aber das Auf und Ab waren für sie Mahnungen daran, dass ihm eine Intensiv, wie sie sich ausdrückte, bisher erspart geblieben worden war. Er empfand es als doppelte Belastung, mit seinen Gedanken allein und außerdem krank, sehr krank zu sein, ermahnte sich aber immer, weil Selbstmitleid nicht zu ihm passte. Er benutzte mit Absicht das Wort Belastung und nicht Bestrafung. Wofür auch? In solchen Augenblicken schweifte er ab in eine Phantasiewelt. Die konnte zum Glück nicht durch Medikamente hervorgerufen worden sein. Sein Arzt kannte sich aus. Nebenwirkungen waren ganz anderer Art. Die waren viel unangenehmer. Zu einer Therapie konnte die auch nicht gehören, denn seine Krankheit war unheilbar. Eigentlich wollte er das alles nicht so genau wissen und ließ los und kehrte zurück zu seinem Mondgebirge. Dort sah er sich als Astronaut an einem Kraterrand stehen. Natürlich kannte er sich aus, fühlte sich aber als Fremdling. In seiner Phantasie war er gleichzeitig auf einem Blütenfest, einem Fest, das sich ebenso am Kraterrand ereignete. Es begeisterten ihn die leichtfüßigen Bewegungen einer Körperkünstlerin.. Er war im Raumanzug, und andere, Künstlerinnen und Künstler und viele, viele Menschen, die er jetzt erst wahrnahm, schauten zu. Er selbst hörte keine Geräusche, die Menschen jedoch schienen sich begeistert zu unterhalten. Ein Künstler balancierte auf einem Seil. Das war über den gesamten Krater gespannt. Auf dem Seil konnte der nicht nur das Gleichgewicht wunderbar ohne Balancierstange halten, sondern sich sogar davon lösen und einen Überschlag machen. Der Künstler brauchte dafür keinen Schwung zu nehmen. Es war, als ginge er auf unsichtbarem Seil im Salto weiter, hob sich dafür kaum ab, machte ein paar Luftschritte, die ihn aber nicht weiterbrachten und stand wieder auf dem Seil. Niemand der Leute trug eine Atemmaske oder einen Schutzhelm wie er. In seiner Astronautenkleidung schien er niemandem aufzufallen. Mit seinem Blick folgte er dem gespannten Seil bis ans andere Ende des Kraters. Dort wurde er von einer rotleuchtenden, etwas verhangenen Abendsonne überrascht. Die war sehr nah und stand über einem ruhigen See. Sie blendete Vladimir. Der wollte sich die Augen wischen, schlug aber lautlos mit der Hand an den Helm. Er war bei seinem nächtlichen Spazierengehen gegen einen eisernen Stab der Kinderschaukel gestoßen. Das war nicht das erste Mal, und es tat ihm nichts. Er musste regelmäßig seine Medizin einnehmen. Das wollte er nun tun und ging langsam zurück in seine Wohnung. Vladimir dachte: „Eigentlich habe ich ein überschaubares Leben, und ich bin nicht auf Intensiv. Vielleicht bin ich ein Glückspilz?“ |
Valentina lebte an der Küste. Die umgibt das Land zu weiten Teilen und war und ist für alle Bewohner der Gegend eine ewige Herausforderung. Valentina lebt in einem kleinen, immer noch verschuldeten Kapitänshaus. Dort hatten ihre Eltern, ihre Großeltern und die Generationen davor schon gelebt und waren an den Sorgen meistens zerbrochen oder in wenigen Fällen auch daran genesen. Reich konnte hier trotzdem keiner werden, am wenigsten eine alleinstehende Frau, wie Valentina eine war. Sie wollte unter keinen Umständen zu den Verliererinnen gehören, auch wenn sie anscheinend die letzte war, die den Familiennamen noch trug. Zweimal war sie verlobt gewesen. Beide Männer blieben auf See. Sie hatte sich auch noch zweimal in Männern vertan. Die waren, wie sie wusste, beide verheiratet. Daraus hatten die gar kein Geheimnis machen wollen, aber sie hätte niemals eine Ehe zerstören können. Das hätte sie für immer bereut. Dann eines Tages hörte sie: „Neue Zeiten, neues Glück.“ Das ließ sie aufhorchen, das machte sie neugierig. Sie ließ sich ‚schlau‘ machen, wollte erfahren, was es damit auf sich haben könnte. Sie ahnte nicht, welches Neuland sie damit betreten würde. Es kamen ein junger Mann und eine junge Frau zu ihr in die Wohnung, ihr zu erklären, um was es sich handele. Sie verstand in ihrer Einfalt aber alles falsch. Bis die Dame zu ihr sagte: „Nein, es geht nicht um Sex mit einem fremden Mann, sondern um Geburtenplanung. Das wird sehr, sehr gut bezahlt. Wir nennen es eine Leihmutterschaft, und medizinisch wird die austragende Mutter voll betreut und versorgt. Ihr Kapitänshaus können Sie sich vollständig zurückkaufen und den Garten noch dazu und haben dann immer noch sehr viel Geld übrig. Der ‚Akt‘ an sich wird steril, also ohne Beisein eines Mannes, von einer Ärztin ausgeführt. Es wird ein befruchtetes Ei implantiert. Valentina verstand von all dem nichts. Von Implantieren hatte sie nur im Zusammenhang mit Zahnbehandlungen gehört. Die Frau fuhr fort: „Nach der Entbindung, erfüllen wir unsere Vereinbarung, sie bekommen ihr Geld, und Sie haben einem Ehepaar einen Himmelswunsch erfüllt.“ Das letztere interessierte Valentina eigentlich gar nicht, aber ein Kind, das sie nicht kennengelernt hatte und auch nicht liebgewinnen konnte, anzugeben, schien ihr nicht sonderlich schwer zu sein. Irgendwie hatte sie das Geld auch schon verplant. Sie würde zu gerne den Nachbarsgarten mit dem Wachholderbusch ihr Eigen nennen. Sie äußerte tapfer ihre Bedenken, ob sie denn das Geld auch erhalten würde, und ob alles im mit rechten Dingen zugehe. Ihre Zweifel wurden mit rechtlichen Unterlagen aus der Welt geschaffen. Sie vertraute den beiden und wurde also schwanger, gebar ein Kind, welches sie in all der Eile nicht einmal zu Gesicht bekam und auch nicht liebgewinnen konnte. Nachbarn erfuhren so gut wie nichts von der Angelegenheit, auch weil Valentina in der Zeit das Haus kaum verlassen hatte. Von einem Tag zum anderen wurde sie nun schuldenfrei und etwas vermögend. Sie kaufte den Nachbarsgarten und hatte ihre stille Freude vor allem an dem Wachholderbusch. Warum, konnte sie sich nicht erklären. Ihre Gedanken irrten manchmal über den Alltag hinaus und sie fragte sich: ‚Wie geht es meinem Kind.‘ Dabei empfand sie keine Traurigkeit, vielleicht, weil sie es nicht hatte liebgewinnen können. Nach einem halben Jahr erschienen der junge Mann und die Frau erneut. Bevor die aber etwas sagen konnten, schoss es aus Valentina heraus: „Ich freue mich so, Sie zu sehen. Wie geht es meinem Kind, und ist es ein Junge oder Mädchen, das habe ich nie erfahren.“ Die beiden sahen sich betreten an. Daraufhin Valentina: „Ist es krank? Was ist?“ Die Antwort der Frau begleiteten beide mit einem schüchternen Lächeln: „Das wissen wir nicht. Das können wir wirklich nicht sagen.“ Der Mann sagte dann zu der Frau: „Das war doch ein Mädchen, oder?“ Valentina schlug ihre Hand vor den Mund: „Das wissen Sie nicht? Sie sind doch die Eltern!“ Die beiden baten nun darum, dass sich alle setzen könnten. Dann sagte die Frau: „Wir sind nicht die Eltern, die kennen wir gar nicht. Wo das Kind ist, wissen wir auch nicht. Es ist in sehr guten Händen, das wissen wir, aber weit weg. Es war ganz sicher nicht für uns bestimmt. Wir sind nur die Vermittler zwischen Mutter und Eltern.“ Es kam schließlich heraus, dass die beiden eine weitere Schwangerschaft erfragten, zu ähnlichen Bedingungen wie bei der ersten. Valentina dachte darüber nach. Sie hatte irgendwie die Absicht, hier etwas wieder gut machen zu wollen, aber keine Vorstellung, wie das geschehen sollte. Auf das Geld war sie nicht mehr angewiesen. Schließlich willigte sie, jedoch etwas ratlos, ein. Der Verlauf dieser Schwangerschaft war ähnlich unkompliziert wie bei der ersten. Dieses Mal vertraute Valentina der Gemeinschaft des Ortes ihre Schwangerschaft arglos an und erfuhr, dass in ihrem Land, eine Leihmutterschaft schon lange nicht mehr rechtens und überhaupt verboten sei. Die Papiere für die erste Geburt waren samt und sonders gefälscht. Das Paar wurde wegen des Betruges in Arrest genommen. Valentina bekam ihr zweites Kind, einen Jungen, und mit Hilfe der Gemeinschaft entdeckten die Hüter der Gesetze auch das erste Kind, ein Mädchen. Das wurde aus einem fremden Land unbeschadet zurückgeholt. Valentina hatte nun zwei Kinder und empfand es manchmal als zu viel des Glücks, hatte aber auch eine große Sorge dazu bekommen. Beide Kinder wuchsen zwar in dem neuen Garten heran, und sie spielten am liebsten unter dem Wachholderbusch. Von alters her erzählte man aber, dass Jungen, die unter einem Wachholderbusch als Kinder gespielt hatten, im Erwachsenenalter zur See gehen und nicht wiederkommen. Valentina kleidete den Jungen deshalb bis zum Schulbeginn als Mädchen wie seine ältere Schwester. Er musste bis dahin auch lange Haare tragen. Valentina war nicht abergläubisch, aber sie dachte, man weiß ja nie, und besser ist besser. |
Helene zog in den Süden. Süden, gehörte zu den Worten, die sie beflügelten, wie Glück und Liebe oder manchmal Wärme. Wärme tat ihr immer gut und hatte für sie stets mit Blumen und Blüten zu tun. Rosen mochte sie am liebsten. Sie wollte dort sein, wo das Blühen blühte, wo sie Rosen pflanzen, lieben, atmen und berühren konnte. Sie hatte Glück, nicht nur mit dem Kauf eines Reihenhauses, sondern vor allen Dingen mit der Erde vor und hinter dem Haus, denn überall, auch auf anderen Grundstücken, wuchsen die prächtigsten Rosen. Die waren nicht so klein, wie bei ihr im Norden, sondern üppig. Sie gediehen wie von alleine. Wenn man sie auch noch zu pflegen wusste, machten sie zwar Arbeit und wehrten sich mit all ihren Möglichkeiten, kleinen und großen Dornen, und ihrer Suche nach Sonne mit langen Ranken, dankten das Bemühen aber mit immer neuen Knospen und Blüten fast über das ganze Jahr. Am Boden gab es viel zu fegen und zu reinigen. Früher hatten die meisten Rosen einen aufwendigen Duft, der zu Liedern, Geschichten und Gedichten verführte. Davon kannte sie viele, und die liebte sie auch. Duftrosen waren aber inzwischen eine Seltenheit, und man behauptete, dass die Rosen ihre Düfte nur zurückhielten, weil das Interesse der Menschen an ihnen so flüchtig und oberflächlich sei. Aus ihrem Heimatort hatte Helene einige Rosen mitsamt eigener Erde im Gepäck gehabt und gleich vor und hinter ihrem Haus eingepflanzt. Es entstanden in weniger als einem Jahr zwei auffällige Rosengärten. Die waren zwar voneinander getrennt, bildeten aber ein Ganzes. Vorne und hinten führten Wege vorbei. Die Pflanzen gediehen und hatten anscheinend ihr Zuhause gefunden. Sie wuchsen mit blauer und weißer Klematis um die Wette. Helene kannte ihre Rosen mit Namen. Selbstverständlich sprach sie morgens und abends mit ihnen. Diese Gespräche beschränkten sich allerdings auf einfache Begrüßungen, die sie immer selbst beantwortete. Sie bewunderte die Blütenpracht von Rot über Rosa bis zu Weiß und ganz besonders in warmem Gelb. Wenn sie Glück hatte, erreichte sie der Hauch eines Rosenduftes. Dann hielt sie mit allem inne und genoss diesen Schatz, als hätte jemand ihr ein leichtes Sommerkleid übergeworfen. Es kamen immer öfter Spaziergänger vorbei. Die machten einen Umweg, um das „Rosenhaus“ zu bewundern. So hieß es inzwischen ganz allgemein unter den Nachbarn. Vorne waren zwei Kletterrosen vorbei am Küchenfenster und weit über das Obergeschoss hinaus gewachsen. Sie erreichten die Regenrinne, gelangten dann weiter bis aufs Dach und schienen sich endlich ausruhen zu wollen. Die Blüten lagen Tags in der prallen Sonne. Für Helene stand die Welt in diesem Augenblick still, nicht jedoch für einen starken Arm. Der war auf dem Weg zu ihr. Die Rosengärten, die ein mittelgroßer, sportlicher Mann im Vorbeilaufen immer wieder bewundert hatte, aber besonders die schöne Gärtnerin, hatten es ihm angetan. Er fasste sich ein Herz und kam bescheiden und etwas verschwitzt an ihre Gartenpforte. Die hielt sie leicht mit der Hand ins Schloss gedrückt. Er sagte zu ihr: „Ich bin Herzensbote und komme mit eigener Botschaft.“ Das ließ sie aufhorchen, und sie öffnete das Pförtchen ein wenig. Er atmete immer noch schnell, drängte sich aber nicht vor, sondern reichte ihr die Hand, dass sie die annehmen musste. Darauf legte er ihr einen Handkuss. Das fand sie süß, musste aber verschmitzt lachen. Das wiederum irritierte ihn, und er fragte: „Warum musst du lachen?“ Sie antwortete: „Du siehst doch, dass ich barfuß bin. Da ist ein Handkuss ganz schön witzig. Aber ich mag das. Und wieso, wo ist deine Botschaft?“ Da sagte er: „Wenn ich darf?“ und gab ihr, über die Pforte gelehnt, einen hin gewehten Kuss. Das irritierte sie sehr, und sie sagte: „Ich kenne dich doch gar nicht.“ Er darauf: „Ich bewundere deine beiden Rosengärten, ihre Knospen und Blüten und dich als die schönste davon.“ In einem Atemzug, und weil ihn sonst der Mut verlassen hätte, sagte er noch: „Ich habe mich in dich verliebt. Du wohnst schon so lange in meinem Herzen, dass ich es dir sagen musste.“ Helene erkannte die Ernsthaftigkeit seiner Worte und seine liebe Art. Sie blieb aber zögerlich und sagte: „Das geht mir zu schnell, aber wenn du heute Abend Zeit hast, will ich dir vielleicht einen anderen, einen dritten Rosengarten zeigen.“ Er war so sehr erleichtert über ihre Worte, aber noch mehr über sich, dass er anscheinend die richtigen Worte gefunden hatte. „Ich komme gerne, wann immer ich darf.“ Sie sagte: „Ich bin Helene und dein Name“? „Peter,“ antwortete er. Es war ein warmer Sommertag, der mit enorm viel Aufregung für beide sich seinem Ende zuneigte. Peter überlegte, wo sie wohl den dritten Rosengarten angelegt haben könnte. Abends wartete sie tatsächlich wieder an der Gartenpforte und ließ ihn ohne Umschweife ein. Er begrüßte sie mutig mit einem echten Kuss. Der tat ihr gut und verwirrte nicht, sondern sie spürte, dass ihr unbekannte Himmel geöffnet wurden. Sie gingen einander zugeneigt ins Haus und blieben dabei an Rosenarmen links und rechts des Einganges hängen. Darüber lachten sie und befreiten sich gegenseitig. Drinnen setzten sie sich zusammen. Helene schob ihren Kopf und ihr rechte Schultern langsam und eng an seine Seite und sagte: „Du bist nun bei mir, Peter.“ Sie sah ihm mit Herzen in den Augen in sein stoppeliges Gesicht. Da erkannte er in ihnen die offene Pforte in den dritten Rosengarten. Mit ihren Armen und Händen ließen sie sich liebevoll schlanke, zarte und kräftige Ranken um Leib und Nacken wachsen. Die waren ohne Dornen. |
Den Namen, Honigweißer Duft, habe ich ihr gegeben. Als wir uns das erste Mal begegneten, erstaunte ich über ihre weiche, liebliche und gleichbleibende Schönheit. Sie war eine junge Frau und ich sofort in sie verliebt. Sie war mir ein Engel im Gesicht. Das wusste sie und sagte in den ersten Minuten unserer Begegnung: „Sag mir bitte nicht, wie schön ich bin. An mir ist alles Ebenmaß und Ausgeglichenheit. Das sagt man mir, seit ich auf der Welt bin. Ich freu mich immer sehr, dass ich willkommen bin und man mich gerne sieht.“ „Für mich,“ erwiderte ich gleich, „bist du Sonne. Du gehst auf, wenn du erscheinst. Du bist Honigweißer Duft für mich. Du bist mir ein Geschenk.“ Ihr Lächeln gab mir so viel freien Raum, dass ich glaubte, fliegen zu können. Eigenartige, neue Gefühle weckte ihr Anblick. Ich ließ sie nicht aus den Augen, solange sie in meiner Nähe war, und überließ sie völlig sich selbst, sobald ich fürchten musste, mich an ihr zu verlieren. Ich fragte: „Darf ich dir wenigstens erzählen, warum ich, Honigweißer Duft, für dich so richtig finde?“ und begann: „In meinem wirklich kleinen Garten wächst ein Flieder. Den hüte ich in einem größeren Tontopf. Der darf nicht bewegt werden, er könnte zerbrechen. Wenn dieser Flieder, nach den aufregenden Tagen des Entstehens der Knospen beginnt, weiß in Doppelblüten zu blühen, lass ich mich von dem honigweißen Duft überraschen und verführen, dass ich einem Jäger gleich, jedes Duftwölkchen erhaschen möchte. Er bringt mir den Frühling. Das begeistert mich ungewöhnlich, ja es regt mich zu kleinen Luftsprüngen an. Die noch nicht zu schweren Dolden hängen an fingerdünnen, hauchgrünen Ärmchen vor einer Feldsteinmauer. Darauf steht eine niedrige ebenfalls weiße Gartenlampe. Links befindet sich ein kleiner Zaun, der ist ein süßes Kleidchen für alles und ist ganz niedrig. Das ist so, damit alles andere größer und einiges zarter erscheint. Sobald aber die schweren Dolden ihren honigweißen Duft verschwenderisch verschenken, ihn sich ausweiten und unsichtbaren, süßen Wölkchen gleich, überquellen lassen, entdecke ich die Wohltat dieses Geschenkes. Ich befinde mich dann in der Lust es in den Arm zu nehmen und für immer zu bewahren. Es ist mein Frühling, mein Beginn, mein tägliches neues Glück.“ Ich sagte dann noch: „Ich habe mich so sehr in dich verliebt.“ Sie sah mich lange an, schließlich antwortete sie und hielt mir gleichzeitig den Zeigefinger auf die Lippen: „Ich bin verheiratet und habe zwei Kinder, liebe Mädchen. Mein Mann, kann mit meiner Schönheit nicht gut umgehen. Er misstraut mir enorm und ist immer eifersüchtig. Ich lernte einen süßen, aufgeweckten Studenten kennen, dem sollte ich Nachhilfeunterricht geben. Das verstand er gar nicht, hat mich bis zu ihm verfolgt und seine Wohnungstür eingetreten. Er hat das später sehr bereut, aber es war geschehen. Wenn er mich sieht, wird er allerdings sehr umgänglich.“ Weiter erzählte sie mir nichts. Wahrscheinlich hielt sie innerlich den Atem an, um zu sehen, wie es mir erging. Ich hatte mich in der Tat nicht auf etwas Derartiges eingestellt und war verwirrt, denn mit einer verheirateten Frau wollte ich unter keinen Umständen etwas beginnen. Mein Kommentar war entsprechend verhalten. Ich sagte nur: „Dann bist du also nicht frei,“ und „vielleicht lerne ich deine beiden Mädchen ja mal kennen.“ Das schien sie zu überraschen. Sie sagte mir in sehr freundlichem und liebevollem Ton: „Das kann ich mir nicht vorstellen, denn beide sind Papamädchen. Die lassen keinen anderen Mann in meine Nähe.“ Darüber musste ich ein wenig schmunzeln, sah aber auch, dass meine neue Freundin mir ihre Grenzen beschrieb. Umso überraschter war ich, als sie mir beim Abschied sagte: „Für diese Woche bin ich auf einem Fortbildungsseminar ganz in der Nähe. Heute spät, also ganz spät, könnte ich dich noch einmal besuchen. Du lebst so herrlich ungestört. Es ist wie Urlaub bei dir.“ Was hätte ich darauf antworten können? Einen Augenblick schwieg ich betreten und sah zu Boden. Ich dachte, dass meine Körpersprache Antwort war und gab ihr einen flüchtigen Kuss, allerdings auf den Mund. Sie war nicht stolz oder überheblich, sondern zog meinen Kopf an ihr Gesicht und ließ mich alle warmen und weichen Gefühle einer liebenden Frau empfinden. Ich sagte dann aber doch: „Ich freue mich. Ruf vorher an, oder?“ Etwas nach Mitternacht klingelte es an meiner Wohnungstür und sie trat mit ihrem Engelsgesicht wieder vor mich hin. Ich war in Nachtkleidung und führte sie in mein kaum beleuchtetes Wohnzimmer. Sie ging direkt zum Schlafzimmer und fragte: „Wo schläfst du? Links oder rechts?“. Es war dort noch dunkler. Bevor ich antworten konnte, hatte sie sämtliche Kleidungsstücke fallen lassen und lag unter einer der Bettdecken meines Doppelbettes. Ich legte mich zu ihr, und wir waren den Rest der Nacht, bis zum frühen Morgen, einander sehr zugetan. Es war unser beider Bett. Am frühen Morgen stand sie auf und ging sich fertig zu machen. Ich fragte, ob sie frühstücken wollte. Das verneinte sie. In der Wohnungstür verabschiedete ich sie mit einem richtigen, längeren Kuss, weil ich ihren Mut bewunderte. Noch viel stärker aber empfand ich darüber Freude, meine Vorbehalte überwunden zu haben. Sie sagte, mit leicht schräg gehaltenem Kopf, als wäre sie ein kleines Mädchen: „Ich war eigentlich nur gekommen, um in den Arm genommen zu werden.“ Sie rief nicht wieder an und ließ auch sonst nichts mehr von sich hören. Eines Tages allerdings bekam ich eine umfangreiche Briefsendung von ihr. Nach kurzem Anlesen entpuppte sie sich als eine Art Tagebuch über einen sehr großen Zeitraum. Die gesamte Sendung schickte ich ihr mit Tränen in den Augen und der Bemerkung zurück: „Mein weißer Flieder hat seinen honigweißen Duft verloren.“ Ich denke oft, und oft und oft an „Honigweißer Duft.“ |
Die Reise, die ich antrat, währte lange, sehr lange und führte mich aus der Abgeschiedenheit meines nunmehr beendeten Lehrberufes, aus einem ruhigen Meisterbetrieb, fort in eine unbekannte Welt. Ich dachte dabei oft an einen Ismael, den Erzähler in Melville‘s Moby Dick, der sein eigenes Schicksal als Matrose, mehr und mehr aber auch das jedes einzelnen an Bord bedachte, und der das, was um ihn herum geschah, oft genug körperlich erleben sollte. Zum Beispiel fragte er sich unter all dem Abschlachten der Tiere, wie Wale wohl im offenen Meer sehen und hören könnten: Ist es nicht merkwürdig, daß ein so ungeheuer großes Geschöpf, wie der Wal, die Welt durch ein so kleines Auge sehen und den Donner durch ein Ohr hören muß, das kleiner ist, als das eines Hasen? Aber wenn seine Augen so groß wären, wie die Linse von dem großen Teleskop Herschels, und die Ohren so geräumig wären, wie die Säulenhallen der Kathedralen, würde er dann besser sehen oder schärfer hören können? Doch wohl kaum! Warum wollt ihr denn euren Geist erweitern? Sucht ihn zu verfeinern! *) Wie mochten diese Tiere die Welt erblicken, fragte sich Ismael, und verstand, dass jedes Wesen mit den eigenen Augen alles anders sieht als ein kleiner Mensch. Nun, das aber sollte ich selbst erst einmal lernen zu verstehen. Zu Beginn meiner Reise war ich zwar reich und hatte viel Geld, sehr viel Geld in meinem Gepäck, war aber eigentlich ein armer Teufel, der nichts von der Welt verstand. Wenn jemand es nicht besser weiß, ist die Welt, in der er lebt, nicht nur die einzige, sondern auch die beste. Meine Welt war die allerbeste. Das viele Geld hatte ich mit meiner Hände Arbeit verdient, und mein Meister hatte es in gründlicher Ehrlichkeit für mich all die Jahre zusammengehalten. Ich brauchte nie Geld bei ihm, weil ich Wohnung, Essen und Trinken ohne Entgelt erhielt und mich um andere Ausgaben auch nicht zu kümmern brauchte. Nach wenigen Tagen meiner Reise begegnete ich einem Mann. Der war mir fremd, und ich war neugierig: „Guter Mann womit verbringst du deine Tage?“ „Ach“ antwortete der, „ich habe zwei Gesichter. Ich bin seit fünfundvierzig Jahren Tierpfleger und kümmere mich nur und einzig um den Elefantenbullen. Zu ihm bin ich wie eine Krankenschwester in einem Säuglingsheim. Für ihn und nur für ihn bin ich da. Andererseits habe ich das Talent, ihn immerzu zu zeichnen. Darin bin ich so perfekt, dass meine Bilder ihn zeigen, als stünde und bewege er sich direkt vor mir. Das tut er ja auch. Aber wenn ich Pause habe, muss ich mir die Bilder anschauen. Alle vorangegangenen Bilder sind dann nichts mehr wert, nur das letzte ist das wahre und einzige.“ Damit zog er aus einer Schatulle eine schneeweiße Papierrolle und öffnete sie. Heraus rollte die Zeichnung eines majestätischen Elefanten, so groß, dass sie von einer anderen Person mit zwei Händen hochgehalten werden musste, um sie ausgiebig betrachten zu können. Der Elefant war nicht in Bleistift, sondern in Rötel gezeichnet. Er hatte seinen langen Rüssel weit erhoben, und man spürte geradezu die Vorsicht und Geschicklichkeit der Bewegungen des Organs. Er riss wohl Futter von einem Baum, weil Zweige heruntergezogen wurden. Die Landschaft um ihn herum war der Phantasie entsprungen, denn es gab keine Gitter und keine Türen. Freiheit schien das umfassende Thema des Bildes zu sein. Die sanften roten und rötlichen, leicht staubigen Farben beinhalteten warme und tiefe Töne und verschmolzen so geschickt in Dunkelheit und Helligkeit, dass das Auge des Betrachters das umgebende Grün der Gräser, das Braun der Äste, das Grau des Tieres und leichte wie tiefe Schatten als Wirklichkeit empfand. Das Bild gefiel mir sehr, und ich fragte, ob er es mir geben würde. Der Tierpfleger war nicht verlegen und antwortete, was ich denn für ihn hätte. Da fiel mir nichts ein, und ich sagte: „Leider bin ich nicht so begabt wie du. Ich habe nichts weiter als Geld.“ Er sagte nur: „Wenn es reicht, sollst du das Bild haben.“ Er nahm mein ganzes Geld und sagte noch: „Du bist der einzige, der nun ein Bild des Elefanten aus meiner Hand erhalten hat. Freu dich dazu. Es wird dir vielleicht Glück bringen.“ Das konnte ich zwar nicht verstehen, aber sein Wunsch gefiel mir. Ich hütete das Bild wie einen Schatz, bis ich unweit vom Aufenthalt des Tierpflegers in völlig freier Wildbahn auf eine merkwürdige Frau traf. Die erzählte mir begeistert aus früheren Tagen: „Damals war ich Leittier einer Elefantenherde. Das hört sich fremd an, ist es aber nicht, jedenfalls nicht aus dem Erleben der Tiere. Ihnen bestimmte ich das Futtersuchen, Tränken finden, Baden in ungefährlichen Gewässern, solange bis eine Leitkuh von der Herde in die Führung gedrängt wurde. Damals hätte ich gerne ein Tagebuch geführt, aber es blieb leer.“ Sie holte es aus einem Täschchen und reichte es mir. Es war tatsächlich unbeschrieben und hatte viele Seiten. So etwas kannte ich nicht, und ich war davon über alle Maßen angetan, weil es mir die Möglichkeit einräumte, mein Leben festzuhalten. Das war mir völlig neu, daran hätte ich niemals gedacht. Sie liebte es aber auch und wollte es eigentlich behalten. Da fiel mir meine Elefantenzeichnung ein. Die zeigte ich ihr, und sie war begeistert wie in einem kleinen Glücksrausch. Sie wollte jetzt zu gerne mit mir tauschen. So erhielt ich das Tagebuch mit den wunderbar leeren Seiten. Das war zwar Glück für mich, ganz so wie es der Tierpfleger vorhergesagt hatte, aber es kam ein wenig anders als ich es gedacht hatte. Einige Wochen später nämlich war ich abends zu Gast bei Freunden in einer kleinen Küche und erfuhr von der Hausfrau Besonderheiten. Sie war in der Lage durch Klopfen an eine Küchenleiste eine Spinne hervorzulocken. Sie sei mit ihrer Familie vor drei Jahrzehnten hierhergezogen, und in der gesamten Zeit sei ihr dieses gelungen. Warum, wieso die Spinne erschiene, wollte sie nicht erklären. Ich erzählte ihr dann von meinem Tagebuch. Da wurde sie sehr neugierig und hätte gerne ihre Erfahrungen in dieses Büchlein geschrieben. Bei einem Tausch, bot sie an, würde sie mir das Geheimnis, warum die Spinne nach so vielen Jahren immer noch erschiene, verraten. Ich war sehr gespannt und zum Tausch bereit. Da brachte sie mich in einen Nebenraum, der lag gleich hinter der Küche und war mit ihr durch Ritzen in den Holzvertäfelungen verbunden. Sie zeigte auf einen Kokon mit kleinsten Spinneneiern: „Darin wächst ihr Nachwuchs. Den schütze ich solange, bis eine der Kleinen den Platz der Mutter einnimmt. Die erziehe ich wie die Spinnenmama und gewöhne sie an die Küche. Immer, wenn ich ans Holz klopfe, erscheint sie. Füttern darf ich sie nie, ich wüsste auch nicht wie und womit. Aber wir leben so seit Jahrzehnten zusammen, und ich möchte das Tagebuch dazu benutzen, das alles niederzuschreiben. Vielleicht kann es einmal wichtig werden.“ Wir waren uns also einig. Am Ende dieser Zeit fühlte ich mich vom Leben reich beschenkt und belohnt. Ich glaube, dass es dem bettelarmen Matrosen, Ismael, einst erging wie mir heute. Ich hatte verstanden, dass jeder Mensch wie jedes Wesen, die Welt mit anderen Augen sieht, auch wenn diese bei einem Wal dort sitzen, wo sich bei uns Menschen die Ohren befinden. Ich fühlte mich unbeschwert und frei und dankbar über so viel Glück. Das hatten andere für mich bereitgehalten. *) Projekt Gutenberg, Die weltweit größte kostenlose
deutschsprachige Literatursammlung. |
Ein fürstlicher Gewalttäter, der sich in seinem Palast als König in Reichtum und Glanz von entmündigten Untertanen feiern lässt, trifft in seinem Anspruchsdenken wie Menschenentwürdigung, Folter, unrechtmäßiges Wegsperren von Unliebsamen und Andersdenkenden, Mord und Polizeigewalt sowie Frauenhass und Verfolgen von andersgeschlechtlichen Menschen scheinbar nur auf Gleichgesinnte. Wichtig ist ihm eine heroische Selbstdarstellung in antiken Uniformen und eleganten Maßanzügen, umgeben von Wachsoldaten, die marionettenhaften Zinnsoldaten gleich, ihn zu beschützen haben. Immer hält er Ausschau nach Gleichgesinnten. Er beschließt im Übermut, einen Angriffskrieg gegen das nächstgelegene Nachbarsland. Das lebt ohnehin seit geraumer Zeit in Angst und Sorge vor ihm, sucht nun aber händeringend nach starken Helfern. Es hat keine echten Verbündeten, die aus Verpflichtung heraus hätten helfen müssen. Und die, die helfen, sind dabei halbherzig. Sie tun dies aus Egoismus, einem gewissen Selbstschutz und Selbstzweck, denn der Angreifer ist für sie langjähriger Lieferant von Erdgas aus unermesslichen Vorkommen tief unter der Erde. Das ist die lodernde Flamme ihres Wohlstandes. An den haben sie sich gewöhnt, den sehen sie plötzlich bedroht, und den möchten sie auf keinen Fall missen. Der Angreifer verhindert mit seinem Krieg auch gewohnte Lieferungen des Angegriffenen von Mais und Weizen an sie und viele weitere Länder. Die sind aber bedeutsam und wichtig. Das ist nun plötzlich alles anders oder sogar vorbei, Not breitet sich rasend schnell aus. Das Nachbarland hat einen redlichen Führer. Der misstraut allen Worten des Angreifers. Dieser verspricht Rückzug, wenn, ja wenn der Nachbar Land und Leute, Hab und Gut aufgibt. Aufgeben kommt für den aber niemals in Frage. Vielmehr beruft er alle wehrhaften Menschen seines Landes, ihren ganzen Mut zusammen zu nehmen, und für ihre Heimat zu kämpfen. Das scheint einigen von ihnen, angesichts der Übermacht, reichlich naiv. Die Mehrzahl aber hat Einsehen und wie ihr Führer einen unbeugsamen Willen. Es darf auch auf keinen Fall ein Gegenangriff entstehen, denn dann stünden das Land und alle Länder bald in Flammen. Seine Mitmenschen sind zwar einsichtig, werden aber weiter vom Feind gedemütigt und zu den schrecklichsten Opfern gezwungen. Viele werden namenlos getötet oder verschleppt. Der Führer des Nachbarlandes tut alles ihm Mögliche und bereist nicht nur Freunde mit der Bitte um Unterstützung, um größeres Unheil zu verhindern, sondern geht auch zu jedem seiner Mitbürger und vor allen Dingen Mitbürgerinnen und deren Familien und macht ihnen in ihrer Verzweiflung Mut: „Wer schlägt den Löwen, schlägt den Riesen, wer zwinget jenen und auch diesen. Das tuet nur einer, der sich selber zwinget!“ Mit diesem Leitspruch, den er aus einem Lesebuch seiner Grundschule erinnert, wendet er sich an alle Bürger und Bürgerinnen seines Landes. Sie leiden wie selten zuvor und müssen Selbstverständliches, wie Wasser, Heizung, Brot und Licht oft völlig entbehren. Plötzlich wird ihm aber zugetragen, dass der Tyrann von einem Tag zum anderen seine Kampfhandlungen eingestellt habe. Niemand würde den Grund kennen und dem Gerücht oder der Nachricht trauen. Der Feind zog sich tatsächlich und langsam vollständig zurück. Er hinterließ verbrannte Erde und beendete sämtliche Kampfhandlungen. Aus geheimsten Berichten geht viel später hervor, dass dem Angreifer bei einem Frontbesuch eine gefangene Partisanin übergeben worden sei. Er ließ sich über die Umstände der Gefangennahme informieren. Sie war nicht bewaffnet und sprach in seiner Sprache. Gespräche mit ihr wurden schnell zur Unterhaltung. Sie war einerseits sehr zurückhaltend, andererseits aber war er sofort ihrem Charme und ihrem Feingefühl in jedem ihrer Worte und ihrer Gesten erlegen. Die Partisanin zeigte eine ganz besondere Art. Ihre Hände und sogar die einzelnen Finger entließ sie als kleine Tänzerinnen und flinke Darstellerinnen auf einer unsichtbaren Bühne. Was sie erzählte und schilderte war wie illustriert in klangvollen Farben, voller Ebenmaß und lieblicher Melodien. Das wiederum hat ihn so bewegt, dass er über die Bewunderung ihres Kampfgeistes hinaus einer aufkommenden Liebe zu ihr nicht widerstehen konnte und wollte. Klugerweise gab er sich ihr gleich zu erkennen und gestand ihr seine junge Liebe. Dabei bedrängte er sie nicht und wollte ihr Zeit geben, seine Worte zu bedenken. Das war jedoch nicht erforderlich. Sie erwiderte diese Ehrlichkeit und gab ihre aufrichtigen Gefühle der Zuneigung und Liebe für ihn zu. Sie verließen die Front und reisten unter großen Schwierigkeiten zurück in sein Land. Der Angreifer pries sie in von nun an in allem was er sagte, und welch eine kluge Ratgeberin er an seiner Seite habe. |
Mein kleiner Garten ist nur ein Balkon. Der hängt als Schwalbennest an steilstem Hang der hohen Häuser. Er ist einer von Tausenden. Er hat kleine Nischen, darin wohnen manchmal, man glaubt es kaum, Vögel. Aus fernen Ländern kenne ich Geschichten, z.B. wie ein Mann sich Kolibris an seine Hauswand lockt und für sie mit ruhigen Händen zu jeder Tageszeit süßen Saft bereithält. Sie schwirren um ihn herum, bis sie die richtige Position haben und stoßen dann vorsichtig mit ihren langen und spitzen Schnäbeln in dünnste Trinkröhrchen. Die hält der Mann immer parat oder sie hängen wie Blüten an der Wand. Die Tiere lassen sich nicht erschrecken. Ihre Nester haben sie ganz woanders. Keiner weiß so recht wo.
An einem völlig vergessenen Holzgerüst meines Balkons, das trocknen Ästen gleicht, finde ich unerwartet ich ein winziges Nest mit klitzekleinen Eiern. Das lasse ich ganz in Ruhe und freue mich an den bunten Elternvögeln. Die fliegen emsig mit Gräsern und manchmal Federchen im Schnabel dort hin und sind beschäftigt. Eines Tages aber sehe ich einen viel größeren Vogel auf dem Geländer sitzen und alles genau beobachten. Er hat gesprenkeltes Gefieder und ich lasse ihn gewähren. Meinen Balkon denke ich mir als Felsvorsprung in einer riesigen Wald- und Wiesenlandschaft. Dafür habe ich seine Wände dunkelgrün angestrichen und verführerische blaue und gelbe Blumen, hellgrüne Zweige, weiße Birkenstämme und dunkelrote Hagebutten darauf gemalt. So gefällt es mir.
Vorsichtig und auch zufällig entdecke ich in dem Nest ein auffällig größeres Ei neben den anderen, inzwischen drei, daumennagelgroßen Eiern. Das ist für mich sehr auffällig, aber die Vogeleltern bebrüten alle ohne Unterschied.
Wenig später liegen nacheinander drei der gerade geschlüpften Jungvögel auf dem Zementboden und sind tot. Nur eines ist noch übrig. Das wächst prächtig und schnell heran und ist bald größer als die Elternvögel. Die bleiben eifrig und füttern ohne Unterbrechung den ganzen Tag. Bald sitzt der junge Vogel außerhalb des Nestes und sperrt nur noch den Schnabel auf. Die Eltern müssen, um ihn zu erreichen, sich selbst recken und strecken. Er ist schier unersättlich. Dann entdecke ich ihn an einem sonnigen Tag in den Zweigen eines weiter entfernten Baumes, und er wird dort weiter gefüttert.
In diesem Sommer höre ich vom nahen Friedhof laut und klar einen Kuckuck. Ich liebe seinen Ruf und schwöre mir, niemandem von meinen Erlebnissen auf dem Balkon zu erzählen.
Heute schäm ich mich ein wenig, aber als wir dich begraben lassen wollten, sah es anders aus. Du warst nur einen Tag zuvor verstorben, es war bitterkalt, die Erde fest gefroren, und wir trafen an einem Samstag ein. Selbst das Rathaus in dem kleinen Nest öffnete für uns die Türen. Wir brauchten etliche Papiere, einige Erlaubnisse und stille Helfer. Man hatte uns am Telefon gesagt, dass wir es nicht mehr schaffen würden. Trotzdem machten wir uns auf den Weg. Du lagst jetzt kreideweiß in deinem Bett. Eine nette Helferin hatte dir ein dünnes Drahtgestell unter den Kiefer geklemmt, der verschloss so den Mund. Das hatte ich noch nie gesehen. Auf dem Nachtisch stand ein herziges Marienbild. Das hättest du zu Lebzeiten an die Wand geklatscht. Doch jetzt war alles recht und gut gemeint. Deine Tochter mit Ehemann und ihre Kinder waren eingetroffen. Wir waren insgesamt nur wenige und kamen alle von sehr weit her. Die Kinder waren selbst schon sehr erwachsen, einige wie du, Eltern. Du hattest beide Großen Krieg überstanden, fiel mir ein und vieles miterleben müssen. Auf einiges hättest du sicher gerne verzichtet. Im Zweiten damals warst du eine reife Frau. Darüber aber, und über vieles andere hast du nie geredet. Wir sprachen sehr würdelos mit dem Friedhofspersonal, obwohl das bemüht war, Andacht zu bewahren. Die übertrug sich nicht auf uns. Wir wollten möglichst schnell zurück, nach Hause. Einmal mussten wir übernachten, dann kam die Beerdigung. Am Grab stellten die Helfer den geschlossenen Sarg neben einen Erdhügel. Die Erde und die Luft waren gefroren. Frost stand in den Zweigen und auf dem Boden. Der Himmel war strahlend blau. Niemand bewegte auch nur eine Schaufel. Ein Grabträger sagte: „Ausheben machen wir später. Dafür kommt ein kleiner Friedhofbagger.“ Dein Sarg wurde nun ebenerdig neben einer Stelle abgesetzt. Die war mit einer grünen Folie abgedeckt. Alles andere würde also später folgen, wenn die Maschine für den Erdaushub gekommen wäre. Dann aber, das war sicher wären wir schon wieder abgereist. Du wolltest keine Reden, hattest dir nur ein schlichtes Kreuz aus Holz gewünscht und auch kein Vaterunser. Das hatten wir dir versprechen müssen. Ich sprach statt dessen in meinem Kopf einen Kinderreim: „Komm Herr Jesus, sei unser Gast...“ Mehr fiel mir nicht ein. Einer der Sargträger machte trotz allem einen Versuch und begann ein Vaterunser. Die Tochter winkte ab: „Das hätte meine Mutter nicht gewollt.“ Wir legten unsere Blumensträuße auf den Sarg und sprachen untereinander übers Wetter: „Ganz schön kalt, oder?“ „Es soll bald wieder wärmer werden.“ Wegen unserer Eile trugen wir keine Trauerkleidung. Wir mussten uns darauf verlassen, dass die Leute dich später, wahrscheinlich viel später oder erst morgen, ohne unser Beisein in die Erde lassen konnten. Wir äußerten kein Bedauern wegen dieses Umstandes. Im nächsten Ort kehrten wir ein. Es war kein Hotel, kein Restaurant, kein Imbiss und keine Gaststätte, sondern ein warmes Kaffeehaus. Wir waren nicht die einzigen „Trauergäste.“ Wir hatten Durst und Hunger und wurden versorgt. Bei der Herfahrt vom Friedhof habe ich noch das Ortsschild gelesen. Den Namen habe ich während der Rückfahrt schnell gespeichert und dahinter „Mutti“ geschrieben. |
Von ihrer Nachbarschaft, in der sie beide lebten, wussten und erfuhren sie nur wenig, eigentlich war man sich fremd, obwohl es rundherum oft dörflich zuging. Kaum, dass irgendwann etwas Ungewöhnliches passieren könnte oder sogar würde. Ihre Namen, er, genannt der Prinz, und sie Ariadne, waren auch nicht Voraussetzung für engeres Miteinander und Zusammenleben. Er nahm ihretwegen, weil er davon einst gelesen hatte und sich über Antikes ereifern konnte, einen neuen Namen an und taufte sich in Theseus um. Sie sahen auch in einer überraschenden Einladung eines Ehepaares, das sie nicht einmal kannten und welche plötzlich in ihrem sonst leeren Briefkasten lag, mehr ein Versehen und ein Missverständnis als Aufmerksamkeit. Es war die Einladung zu einem Festabend. Bei näherem Hinsehen bzw. Nachlesen entdeckten sie jedoch angenehm freundliche Worte. Sie blieben trotzdem skeptisch. Sie sollten sogar mit einem Fahrzeug abgeholt werden, und es würde jedem der Gäste im Laufe des Abends ein vielleicht gewinnbringendes Geschenk in Form eines „Steines“ zuteil. Ein Stein, was konnte das sein? Vielleicht ein unangebrachter Scherz. Theseus erkundigte sich telefonisch und fragte nach. Man bestätigte ihm gern, dass sie sehr wohl gemeint seien, und sich die „Herrschaft“ über ihr Erscheinen freuen würde. Jemand käme rechtzeitig, um sie abzuholen. Man gab noch den Hinweis, dass dieses das Fest der Feste sei, allerdings im kleinen Kreis, vielleicht mit zwölf Personen. An jenem Abend brachte sie ein Wagen zu einem märchenhaft großen Anwesen mit einem herausragenden Schloss, das anscheinend auch noch ganz in ihrer Nähe gelegen war. Der Wagen fuhr ziemlich lange, bevor das Haupthaus nach der eisernen Eingangspforte erst in der Ferne, dann in unüberschaubarer Größe auftauchte, und sie es erreichten. Davon hatten sie noch nie gehört und es auch nie zu Gesicht bekommen. Es stand plötzlich vor Ihnen wie hingezaubert. Die beiden waren aufgeregt in leichtem Fieber der Begeisterung und mit viel Neugier. Sie fühlten sich für den unbekannten Anlass zwar irgendwie nicht richtig gekleidet, weil ihnen auch jede Erfahrung zu solchen Anlässen fehlte, aber andre Paare hatten sich, ebenso wie sie, in schlichte und dezente Eleganz gehüllt. Das schien hier wirklich nicht wichtig. Beide wurden persönlich und auf das herzlichste wie langjährige Freunde begrüßt. Ariadne trug eine zweireihige, im irisierenden Lüster matt glänzende, blassgelbe, fast weiße, Perlenkette der toten Mutter ihres Theseus auf der roseweißen Chiffonbluse. Kette und Bluse verschmolzen zu einer lieblichen Aufführung auf kleinster Bühne. Durch ihre Schulterbewegungen und das Spielen mit den offenen Händen schuf Ariadne ungewollte Aufmerksamkeit und stellte ihre kleine Bühne so unter aktive Regie. Die Bluse war mädchenschüchtern etwas eng am Hals geschlossen und doch auch fraulich dekolletiert. Der Stoff verschleierte die Arme und lief bis zur Taille über ihre enge, schwarze Hose. Die Kette war so lang, dass Theseus sie ihr, wie in antiken Zeiten, sogar hätte um die Hüfte binden können. Er war dann gerne in ihrer Nähe und ließ die Kette spielerisch durch seine Hände laufen. So war Ariadne, glaubte er, vor etwaigen Belästigungen sicher. Theseus trug einfache Jeans. Das hatte anfangs den Unmut von Ariadne geweckt, aber sie fand es schließlich mit dem weißen T-Shirt und seiner Golddoublekette am Hals attraktiv und besann sich auf ihr eigenes Aussehen. Nach einem mehrgängigen, aufwendigen Essen und der ungewohnten Aufmerksamkeit einer Dienerschaft, erschienen Hausherr und die Hausherrin in feiner und nicht strenger Kleidung und der Bitte an die Gäste, sich einander vorzustellen und zu tanzen, nach Belieben. Das war allen recht. Auch Ariadne und ihr Theseus zeigten unbeschwert im Tanz Verliebtsein in Umarmungen und heimlichen Küssen. Für andere Paare in ihrer Nähe hatten sie kaum ernsthafte Blicke, vielleicht, weil sie zu sehr mit sich beschäftigt waren. Auch das Paar, das eingeladen hatte, war sich einig und schaute ohne Heimlichkeit zu anderen: die einen ließen sich nicht aus den Händen, die anderen daneben tanzten in großem Abstand und sahen sich dabei tief in die Augen. Ariadne, und ihr Theseus suchten gegenseitiges Berühren, hatten süße Pfeile füreinander, Herzchen in den Augen. Das fiel auf, und einige der Gäste schoben es auf die enorme Jugend dieser beiden. Spät, zu fortgeschrittener Stunde, rief die Hausherrin zu enger Runde, und, ob alle etwas Neues kennenlernen wollten, nämlich einen Schicksalstanz. Das hörte sich verwegen an und klang gefährlich. Etwas Zukunftsangst rief leises Zögern wach und barg vielleicht auch Zweifel. Sie erklärte, dass die Paare sich zu Anfang trennen müssten. Jeder einzelne sollte nun mit einem andren Partner tanzen. Zuvor aber würden an jeweils ein Paar zwei gleichfarbige Edelsteine in der Größe von Taubeneiern verteilt. Jedem der Gäste stockte irgendwie der Atem, denn jeder der Steine schien sofort einen unermesslichen Wert auszustrahlen. Es machte ein anerkennendes, aber auch ungläubiges Raunen die Runde. Alle hörten noch aufmerksamer auf die Worte der Gastgeberin um zu erfahren, was diese weiter sagen würde. Wenn die Paare zum Ende wieder Eins wären, sollte die gleiche Farbe der Steine das symbolhaft bezeugen. Die Musik würde das Tanzen dreimal nacheinander unterbrechen. Alle Tänzerinnen und Tänzer dürften dabei erst mit drei, dann zwei und schließlich mit nur einem Schritt in jede Richtung, die sie wollten, aber in den Armen eines wechselnden Partners oder einer wechselnden Partnerin gehen, mit der Absicht, erneut zum eigenen Partner zurückzufinden. Dann würde schließlich alles Licht gelöscht werden, und auch das Fest der Feste sei vorbei. Der Tanz begann, und schon beim ersten Stopp sah Ariadne wie ihr Theseus sich in die Galaxien einer fremden Frau entfernte. Sie erblasste. Schlimmer noch, gleich, nach der zweiten Unterbrechung, stürzte ihre Liebe tief in die Verliese der Verzweiflung, als sie ihn nicht mehr erblicken konnte. Weglos, ohne Halt, verlassen, sank sie still zu Boden. Theseus aber, eine Handbreit hinter ihr, hatte die Perlenkette in seiner Hand und erreichte sie mit seinem letzten Schritt. Er fing sie auf. Aus ihren beiden Händen fielen dabei gleichfarbige, rosa Edelsteinkugeln und rollten in die Dunkelheit davon. Dann hüllte Finsternis alle und alles ein. |
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100 Jahre Buße, Brief an eine Redaktion
In unsrem „Kircheblättle“ las
ich die Einleitung oder das Vorwort mit der Überschrift „Grüß Gott“. Ich wäre
nicht daran hängen geblieben, wenn mir eine derartige Überschrift nicht
besonders naiv vorgekommen wäre, also ich fühlte mich sofort in eine
hinterwäldlerische Zeit versetzt und persönlich verunglimpft, eigentlich
betroffen. Der Autor brüstete sich noch in einigen Passagen mit vergangenen
Zeiten. Die waren mir nicht nur nicht mehr gegenwärtig und in Erinnerung,
sondern in keiner Weise erhellend oder gar prägend geblieben und gewesen. Er
schrieb: „…tatsächlich zurückblicken und staunen über das Gelungene und
Geschaffene, über das Schöne und Erfüllte.“ Der Autor musste meiner Meinung
nach im Keller gelebt haben, wenn alles, was mich derzeit aufwühlte, so spurlos
an ihm vorbei gegangen war. Sein Text ging dann hurtig weiter:
„…denn jetzt blicken wir öfter über den Tellerrand der
Seelsorgeeinheit, ja unserer unmittelbaren Heimat hinaus und versuchen für Sie
ein Magazin in Form einer Wundertüte zu machen: überraschend, ausgefallen,
abweichend, anders.“
So viel Langweiligkeit und Überheblichkeit können mich
sehr verärgern, und eine gewisse Zeit möchte ich alle unguten Gefühle
unterdrücken. Es kommt dann aber immer wieder in mir hoch, und ich denke, dass
der Autor zu mindesten eine Antwort verdient, die ihn zwar freundlich, aber
bestimmt in die Wirklichkeit zurückzuholen versucht. Ich warte also zwei Tage
und hoffe, dass sich meine Wut oder mein Ärger gelegt hat. Doch ich kenne mich
nur zu gut. Ich kann warten und warten, aber es baut sich ein immer größerer
Druck auf. Dann habe ich einen Einfall, der mich zu milden Worten befähigt. Mit
der Bitte, meine E-Mail an die Redaktion weiter zu reichen schreibe ich also:
Sehr geehrte Redaktion, danke für Ihren
nachbarschaftlichen Gruß durch das Verteilenlassen
des „Kircheblättle“. Neugierig habe ich Ihren Beitrag
„Grüß Gott“ gelesen. Dazu muss ich gratulieren. Es ist für mich bemerkenswert,
dass Sie es mit vielleicht schönen Worten fertigbringen, Ihr Blättle als überraschend, ausgefallen, abweichend, anders
darzustellen. Alles, was geschrieben wurde, würde meiner Meinung nach dem
Anspruch gerecht werden, wenn die Überschrift wäre: „Die Gabe mit Zungen zu
reden, und nicht die Gabe der prophetischen Rede.“ Ein kleiner Text von mir
soll wie ein Gleichnis sein:
Die siebenjährige Enkelin war mit ihrer vierjährigen
Schwester aus der Großstadt in dem 7000-Seelenstädtchen bei ihren Großeltern zu
Besuch. Der Großvater und die Enkelinnen, gingen gemeinsam spazieren. Die
jüngere der beiden klebte mit der Nase an einem mit Kinderschuhen gefüllten
Schaufenster und fand helle Begeisterung an Figuren und der kindlichen Deko.
Der Großvater und die ältere Enkelin kamen nun an ein Wegkreuz. So etwas kannte
sie nicht. Sie fragte:
„Opi, was ist das“.
Der Großvater: „Das ist eine Stelle, an der man beim
Spazierengehen anhalten und Luft holen und an Gott denken kann“.
Sie, nach einem Augenblick des Nachdenkens: „Opi, glaubst
du an Gott“?
Bei Kindern ist man eigentlich auf eine Frage
vorbereitet, die mit „Warum“ beginnt. Dann hat der oder die Gefragte noch einen
winzigen Augenblick Zeit zur Besinnung. So aber antwortete der Großvater
spontan: „Ja“. Jetzt kam ihre eigentliche Frage, die lautete natürlich:
„Warum“? Nun war der Großvater aber nicht verlegen, sondern sogar ganz froh und
antwortete spontan: „Weil ich so nie alleine bin“.
Tatsächlich wurde meine E-Mail an die Redaktion weiter
gereicht und mir das auch bestätigt. Es ließ mich aber unzufrieden zurück, und
ich erkannte, dass nicht die Redaktion mein Problem war, sondern dass die
Umstände in denen ich und viele andere Menschen leben, das Problem zu sein
scheinen, und komme schnell zu der neuen Erkenntnis, dass auch die Umstände
nicht das Problem sind, sondern, dass mein Verhalten unter den herrschenden
Umständen für mich zu einer unlösbaren Aufgabe geworden ist.
Inhaltlich war das Kircheblättle
bemüht, einen Abriss von Selbstdarstellungen „guter“, „braver“ Bürgerinnen und Bürger
und vor allen Dingen der wohlmeinenden Institutionen des Gemeindewesens sowie
deren allgemeine Anerkennung und Akzeptanz wiederzugeben. Das war für mich aber
ohne wesentliches Interesse.
Mir fiel in dieser Not ein Zeitungsartikel in die Hände. Der
Mann und die Frau, die sich darin äußern, haben einen Weg gefunden, den ich
beschreiten möchte. Er kann sicher kein Rezept sein, aber vielleicht die
Richtung vorgeben.
100 Jahre Buße
In jener Nachricht las ich den Bericht des Mannes und der
Frau. Sie riefen laut zu 100 Jahren Buße auf. Sie schworen reine Wahrheit, und
in ihrer Not beriefen beide sich auf Gott.
Sie schrieben: „Alle kirchlichen Gemeinden, ihre höchsten
Obrigkeiten und die Allerniedrigsten und die davor, davor und die davor,
verstießen und verstoßen endlos gegen die Gebote Gottes, ohne Wissen oder ganz
absichtlich, immer schweigend als ein Schattenchor. Nun soll es 100 Jahre Buße
geben mit den Bitten um Vergebung und Versöhnung. Alle reden nur mit eigenen
Worten, um sich zu erbauen, keine, keiner spricht bekennend und baut die
Gemeinde auf.
Männer wie die Frauen sollen gleich sein vor dem Herrn,
denn sie verstießen gleichermaßen, und als Zeichen ihrer Buße sollen beide 100
Jahre jeden Prunk und jeden Reichtum von sich weisen, sich in Demut hüten vor
Begünstigung und Willkür.
Nur die Liebe sollen sie behalten, denn der Mensch ist
ohne Liebe nichts. Er wäre nur ein tönendes Erz, ohne Herz, und eine klingende
Schelle an einer Schwelle“.
Von meiner Redaktion wünsche ich mir nicht unbedingt eine
Antwort, aber aus meinem Herzen.
100 Jahre „Kafka“, eine herrenlose Fundsache Ich sitze im Vorortzug und schaue aus dem Fenster. Auf dem Gegengleis setzt sich ein superschneller Transrapid in Bewegung. Sekundenlang bin ich verwirrt und weiß nicht, wer oder was sich tatsächlich wie bewegt. Dann sehe ich an einem herabhängenden Richtungsschild, dass es mein Zug ist. Wir beginnen eine ruhige Reise. Es befinden sich kaum weitere Fahrgäste in meinem Wagen. Über der Tür schaltet sich eine Schrifttafel ein. Ich lese: „Sie sind aufgefordert, sich beim Fahrdienstleiter im vordersten Wagen zu melden. Halten Sie bitte Name, Geburtsort und -datum bereit. Es ist wichtig.“ Wem gilt diese Schrifttafel? Es wurde anscheinend nur von mir bemerkt. Kein anderer Fahrgast scheint sie wahrzunehmen. Ich bin ein gewöhnlicher Mitfahrer und habe nichts zu verbergen. Schuld und Unschuld gehören zu meinen bewegendsten Gefühlen. Ich trage Schuld in mir und Unschuld. Beide tausendfach. Zum Beispiel, wenn ich erkranke, und andere Menschen Gefahr laufen, durch mich angesteckt zu werden, ist das eine große Schuld, die mich betrifft. Da hilft der Gedanke an meine Unschuld wenig. Dazu kommt noch ein schlechtes Gewissen. Wenn ich an die vielen Bettelbriefe denke, die mich erreichen und nur darauf abzielen, meine Unschuld in schlechtes Gewissen zu verwandeln. Ich lasse die, oft angefüllt mit reichlich Geschenken, sorglos liegen. Sollte ich sie aber annehmen, mache ich mich mitschuldig, verwerfe ich sie, lade ich Schuld auf meine Unschuld. Häufig sind die Geschenke so aufwendig, dass ich berechne, ob es einen Gegenwert dafür geben könnte. Ich soll ja schließlich Spenden. Einmal war in dem Umschlag ein Stick mit dem Versprechen, dass eine eingebaute K.I. mir sämtliche Antworten auf alle Fragen geben würde. Das Freischalten war bereits erfolgt als Dankeschön für eine großzügige Spende. Solche Briefe mildern mein schlechtes Gewissen, erzeugen aber Unwillen, und der in mir vorhandene Wunsch zu helfen, wird völlig infrage gestellt. Ein anderes Mal sollte ich einen einfachen Schreibstift mit besonderen Fähigkeiten benutzen dürfen. Der war wiederum mit einem Chip versehen: „Wenn Sie diesen Stift sicher in Ihre Hand nehmen, wird er völlig selbständig alle Grafiken für Sie erledigen, die Sie nur in Ihrem Kopf haben“. Auch er war freigeschaltet und ein Dankeschön für eine großzügige Spende usw. usw. Beide Gegenstände waren in einem Land gefertigt wo das Wort „Unschuld“ von der Obrigkeit durch das Wort „Gehorsam“ ersetzt worden war. Nein, dieser Arm reicht nicht bis zu mir. So lasse ich mir kein schlechtes Gewissen einreden und mir meine Unschuld nicht stehlen. Ich gehe also auf die Tür zum nächsten Abteil zu und will nach ganz vorne. Die aber ist verschlossen. Dahinter steht ein Mitarbeiter in Uniform. Zwischen uns sind zwei Fenster in zwei Türen, so dass wir uns gut erkennen können. Er winkt mich gelangweilt ab. Ich soll mich wohl besser setzten. Aber ich habe doch einen Auftrag vom Fahrdienstleiter. Sicher irrt sich der Uniformierte, und er kann mich ja auch nicht kennen. Ich gehe also erneut hin und zeige durch die Gläser meine Ausweispapiere. Er winkt noch einmal ab und ist auch mit anderen Sachen sehr beschäftigt. Er blättert immerzu in einem Buch. Nun zeige ich ihm meine Fahrkarte. Die ist als Download auf meinem Handy. Er schaut kaum auf und öffnet auch nicht die Tür. Ich bin jetzt niedergeschlagen und setze mich zurück auf meinen Platz. Draußen nähern wir uns einem Bahnhof, ohne dass der Zug zu bremsen beginnt. Ich kann einige Schilder, vielleicht Werbung gut lesen. Es stehen dort Sätze und Namen zu lesen wie „Entlobung mit Felice“ oder „Reise von Leitmeritz nach Aussig“. Ich weiß nicht, ob das Theaterstücke oder Ausstellungen sind. Dann kommt ein übergroßes Plakat: „LiMo erwirbt Mäusebrief“. Hinter allen stehen irgendwelche Öffnungszeiten. Wir verlassen den Bahnhof, und die Schrifttafel zeigt immer noch an. Ich denke weiter, dass nur ich gemeint sein kann und gehe noch einmal zum Ausgang. Ich fasse den Türdrücker an. Der ist eiskalt für mich, aber ich lasse nicht los. Der Uniformierte dahinter steht immer noch da und ist mit seiner Blätterei in seinem Buch beschäftigt. Vielleicht hat er ja jetzt Zeit, mir die Türen zu öffnen. Er gibt mir ein Zeichen. Vielleicht will er sich für mich einsetzen und nach vorne gehen und sich erkundigen. Dann kommt er bestimmt mit einem Bescheid zurück. Ich bin zufrieden und gehe zurück an meinen Platz. Der Uniformierte verschwindet in den nächsten Wagen. Es überkommen mich viele Zweifel, was, wenn ich gar nicht gemeint bin oder was ist, wenn ich doch Schuld habe oder noch schlimmer, meine Unschuld ein Irrtum ist. Unschuld hat für mich immer etwas mit persönlichem Versagen und mit Verwaltung zu tun. Wenn es heißt, Sie sind unschuldig, dann heißt das auch für mich, dass ich mich zwar um etwas bemüht, aber nichts erreicht habe: „Wir können nichts weiter für Sie tun.“. Ich kann also nur abwarten und verhalte mich ruhig. Ein freundlicher Mann steht auf und kommt auf mich zu. Er stellt sich vor: „Brod“ und gibt mir die Hand. Ich weiß nicht wer er ist, und was er von mir will, aber sein angenehmes Wesen lässt mich irgendwie hoffen. Ich weiß nicht auf was und auch nicht warum. Er spricht mit mir über das Wetter und über Familie, ob ich eine habe. Ich erzähle ihm nichts von meinem augenblicklichen Problem, denn er scheint wirklich nicht mit dem Aufruf gemeint zu sein. Ich erzähle ihm, dass mich der superschnelle Transrapid so verwirrt habe. Dann berichte ich noch, dass ich viel und rastlos schreibe und keine Leser finde. Das erweckt sein Interesse sehr. Ich begeistere mich und erzähle ihm, wie grausam es ist, zu schreiben und zu wissen, dass das Geschriebene keine Leser findet. „Wissen Sie, ich schreibe nicht, um gelesen zu werden, sondern für die Gegenwart, für meine Gegenwart, die mich so bedrängt und die mir Angst macht. Aber das können Sie wohl kaum nachvollziehen“. Er widerspricht sofort: „Sicher kann ich das nicht nachvollziehen wie Sie es erleben. Trotzdem verstehe ich sehr gut und glaube, dass es sich bei Ihnen um das Festhalten gelebten Lebens handeln könnte. Das zu verlieren kann Angst machen, denn es ist sehr traurig zu glauben, dass gelebtes Leben für niemanden und nichts zur Fundsache werden könnte.“ Ich sagte noch: „Meine Texte gebe ich lieben Menschen zu Lesen, und meine Koffer sind voll davon. Doch obwohl ich sie denen oder einem Verlag vor die Füße lege, stolpert niemand darüber.“ Der Zug fuhr den nächsten Bahnhof an, und ich wunderte mich nicht, dass er auch hier nicht zu Bremsen begann. Keinen der anderen Fahrgäste schien das zu stören. Ich sah wieder nach draußen. Es tauschte ein neuer Schilderwald auf: „Meine Liebe zu Milena“, „Zürau: Briefe an Ottla“, dann in kurzer schneller Folge: „Der Bau“, irgendetwas mit „…Akademie und Klaus Kammer“ und danach mit „…Prozess“ und dann kaum noch lesbar “…Urteil“ und „…Landarzt“. Der Bahnhof endete, und der Zug war erneut auf freier Strecke. In der Ferne, auf einer Landstraße bewegte sich eine Demo. Wahrscheinlich auf dem Weg zu einer Versammlung, denn hier, am Straßenrand stand kein einziger Zuschauer. Man trug lesbare Plakate. Den Grund konnte ich denen gut entnehmen. Ganz offenbar wurden Systemfehler der Gesellschaft angeprangert. Das erste war ein riesiges Stofftransparent auf weißem Stoff mit der Aufschrift: „Bürokratisches System und Machtstrukturen“, dann folgten Pappplakate, „Bürokratische Alptraumwelt“ und „Individuum vs. Machtstrukturen“. Danach wurden rote und blaue Fahnen mit den Aufschriften „Absurdes und Sinnlosigkeit“ sowie „Feministische Interpretationen“ geschwenkt. Es demonstrierten auch Kinder und Jugendliche. In dem Fenster zwischen den Wagen erschien der Uniformierte wieder. Jetzt hatte er eine strenge Mütze auf dem Kopf. Daran sah ich Abzeichen und bunte Schnürbänder. Er salutierte mit der Hand in meine Richtung, dass ich sofort aufsprang und auf ihn zuging. Er würde jetzt bestimmt aufschließen und den Durchgang freigeben. Ich stützte mich an dem kalten Handgriff ab. Der Uniformierte schien mit mir sprechen zu wollen. Er hielt ein kleines Papier an seine Scheibe. Darauf stand: „Der Zugführer wartet noch auf einen Bescheid von höherer Stelle. Solange muss gewartet werden“. Damit drehte er sich um und ging in den anderen Wagen. Dort geriet er aus meinem Blickfeld. Es kam die dritte Station und ich hatte nicht die Hoffnung, dass hier ein Halt vorgesehen war. Ich hätte den Zug ja eigentlich noch nicht verlassen wollen. Andererseits waren alle Stationen angesagt und zum Halt vorgesehen gewesen. Zu meiner Überraschung fuhr er nun immer langsamer und hielt schließlich an. Niemand wollte ihn verlassen. Ich aber dachte an einen Kaffee und wollte zunächst die Länge des Aufenthaltes erfragen. Die Wagentür war aber fest verschlossen und die automatischen Drücker standen auf Rot. Es ließ sich keine der Türen öffnen. Es wollte auch niemand zusteigen. Auf dem Gegengleis kam ein Transrapid und fuhr ungebremst an uns vorbei. Von dort drinnen sahen einige Menschen blicklos zu uns. Er verschwand mit hoher Geschwindigkeit in einem Tunnel. Ich dachte, dass darin der Grund für die ungeöffneten Türen zu suchen sei, dass dieser Schnellzug vorbeizulassen gewesen sei, sie also zum Schutz der Passagiere nicht zu öffnen waren. Die Türen blieben aber weiterhin geschlossen, bis sich unsere Wagen erneut in Bewegung setzten. Ich schaute mich im Wageninneren um. Mein Blick fiel zur Kontrolle auf das Laufband der Anzeigentafel. Es war keine Anzeige mehr zu sehen. Dann erkannte ich hinter den Türen den Uniformierten, der mir fleißig zuwinkte. Diesmal öffnete er sie und sagte: „Der Fahrdienstleiter hat inzwischen einen Bescheid bekommen. Er bittet um Ihr Verständnis, aber die Verhältnisse haben sich so geändert, dass Sie weiterhin warten müssen“. Ich fragte: „Welche Verhältnisse betreffen mich und den Fahrdienstleiter? Ich möchte ihn sprechen, um das zu klären. Sagen Sie ihm das bitte“. Die Antwort war: „Ich weiß nicht, ob ich ihn noch einmal bei seiner verantwortungsvollen Tätigkeit stören darf. Aber er hat die Erlaubnis erteilt, dass Sie während der Reise die nächsten beiden Wagen betreten dürfen“. Damit öffnete er die Durchgangstüren ganz und ließ mich eintreten. Ich kam in einen dunklen Raum. Im Mittelgang war eine Haltestange aus gelbem, blank geputztem Metall. An der konnte ich mich gut festhalten. Links und rechts waren die Sitzreihen mit durchgehenden Glasscheiben vom Durchgang hermetisch abgeriegelt. Es war kein Durchgreifen oder Hineinlangen in die Abteile möglich. Darin lagen und saßen verwundete und verbundene, offenbar hilflose, verletzte Menschen. Ob es sich um Kriegsopfer oder um Menschen aus Erdbebengebieten handelte, war völlig unklar. Es lagen hauptsächlich Kinder mit ebenfalls verletzten Frauen auf den heruntergeklappten, zweistöckigen Sitzbänken. Die Frauen waren vielleicht die Mütter. Ich vermochte, außer den Fahrgeräuschen, nichts zu hören. Die Luft war stickig und es roch nach Medikamenten, Jod und Desinfektionsmitteln. Die Fensterscheiben waren mit Pappe oder Zeitungspapier verklebt. Viele der Verbände waren blutig und sahen unhygienische aus. Es gingen einige Personen in weißen Kitteln von Abteil zu Abteil und sprachen mit den Patienten. Von denen weinten oder schluchzten viele. Hören konnte ich sie nicht. Den Raum wollte ich schnellstens verlassen, hatte aber auch das Bedürfnis, zu erfahren, was die Ursache war, und ob ich irgendwie helfen konnte. Der Uniformierte nahm die Mütze ab und wie ein Soldat Haltung vor mir an: „Sie werden nicht helfen können. Diese unglücklichen Menschen sind so für uns nicht zu erreichen“. Damit setzte er die Mütze etwas schräge auf und ging in den nächsten Wagen. Ich ging nun so schnell ich konnte zurück und tastete mich an der Halterung bis zur Wagentür. Die war aber verschlossen und ich konnte nicht durch. Ich dachte an mein Gepäck und dass ich eine Geschäftsreise zu machen hatte. Wir würden nie pünktlich ankommen, wenn ich überhaupt Gelegenheit fände an meinem Zielort auszusteigen. Zuvor müsste ich unter allen Umständen den Fahrdienstleiter sprechen und erfragen, welche Verhältnisse mich und ihn beträfen. Der Uniformierte war auch nicht mehr auffindbar, dass ich ihn hätte fragen können. So zog ich mich nun den langen Weg an der Haltestange Hand für Hand in anderer Richtung entlang und kam an die zweite Ausgangstür. Durch sie konnte ich bereits in den nächsten Wagen blicken. Der war strahlend hell erleuchtet und machte den Eindruck eines kleinen Festsaales. Ich wurde neugierig und war vorsichtig beim Versuch, die Türen zu öffnen. Es war ganz leicht. Ich ging hindurch und stand in einem langen Wagen. In ihm saßen an jeder Seite bis zu zwanzig Frauen an Bildschirmen und hielten in jeder Hand einen beweglichen, kleinen Stick wie zu einer Play-Konsole gehörend. Alle Frauen waren in Zivil, trugen Kopfhörer mit integrierten Mikrofonen und schienen sehr beschäftigt. Sie waren wie einfache Hausfrauen gekleidet, trugen Strickjacken, die meisten von ihnen lange Hosen und hatten die Haare zurückgesteckt, manche zu einem Pferdeschwanz gebunden. Auch hier waren alle Fenster völlig verdunkelt bzw. mit lichtschluckenden Stoffen verhängt. Der Uniformierte tauchte plötzlich aus dem Nichts auf und sagte: „Das ist unsere Flugabwehr. Von hier aus werden Drohnen in das feindliche Zielgebiet geführt und gelenkt. Es gibt auch Kontakte zu einzelnen Soldaten und Soldatinnen. Die sind als Kundschafter und Beobachter unterwegs und müssen regelmäßig berichten. Zurzeit haben wir Verluste und Vermisste. Wenn sich von den letzteren einer oder eine wieder meldet, atmen wir enorm auf. Denn solche Einzelkämpfer sind manchmal entscheidend. Oft genug aber erhalten wir auch Meldungen, die uns überraschen, aber in keiner Weise weiterhelfen. Über einen Lausprecher kam in dem Augenblick eine Ansage, und es wurde der Bericht eines Vermissten von einer K.I. vorgelesen. Es war wie gewöhnlich eine emotionslose, teilnahmslose und monotone Wiedergabe. Ich konnte das Gesprochene sehr gut verstehen: “Ich bin Soldat 1624 und berichte aus 1769. Mit meinem Bericht kann ich leider der Aufforderung, als Soldat nur Gesehenes und Gehörtes konkret mitzuteilen, nicht nachkommen. Ich befinde mich zu Zeit in einer anderen Welt. Ich halte mich hier alleine auf und habe niemanden, der für mich da ist. Für mich ist alles tot, auch weil ich meine Weisungen und Anweisungen von mir unbekannten Menschen, vielleicht auch K.I. aus unbekanntem Land und unbekannter Stadt erhalte. Vielleicht von Frauen, die einen Halbtagsjob machen. Das darf ich deshalb sagen, weil ich diesmal die für einen Soldaten nicht greifbare Anweisung erhielt, Ausschau zu halten nach einem „Etwas“. Trotzdem blieb ich unermüdlich wachsam für lange Zeit in welcher wirklich nichts meine Aufmerksamkeit erregte. Dann geschah eine einzige Ausnahme. Ich wurde ich in den tiefen, feuchten Wäldern auf leise Geräusche und sanfte Bewegungen aufmerksam. Etwa hundert Meter von mir entfernt, bemerkte ich ein lichtdurchflutetes, übergroßes und menschenüberragendes, rosafarbenes Gebilde. Es pulsierte als Herz. Es schien nach Umhüllung Ausschau zu halten, obwohl es, wie ich, von feuchtwarmer Luft umgeben war. Es löste sich ohne Gerüche, ohne Schatten, ohne äußere Einwirkung vor meinen Augen auf. Um es genauer zu sehen und möglicherweise zu fotografieren, lag ich lange auf der Lauer. Meine Meldung erfolgte sofort. Oft habe ich in meiner Heimat an der Rettung wilder Tiere teilgenommen und half gerne verirrten Meeresbewohnern sich neu zu orientieren. Dabei habe ich viel gelernt, aber dieser neue Eindruck hinterließ mich völlig handlungsunfähig. Es geht mich ja auch weiter nichts an. Meine Aufgabe ist erfüllt, und ich bitte nun um meinen berechtigten Rückruf in die Heimat“. Der Uniformierte sagte dann zu mir: „Mehr darf ich Sie nicht wissen lassen“. Die Frauen waren sehr in ihre Arbeit vertieft und sahen kaum auf. Sie hörten mit geneigten Köpfen sehr aufmerksam zu. Während des Verlesens verharrten sie in ihren Bewegungen. Es waren also offenbar kriegsversehrte Kinder und Frauen, die in dem zweiten Wagen lagen. Mich überkam große Traurigkeit und Angst. Ich bezweifelte nun auch, dass ich in einen normalen Reisezug eingestiegen war. Mir fiel das kurze Gespräch mit dem Herrn aus dem ersten Wagen ein und dass er mir ein Festhalten an gelebtem Leben nachsagte. Ich dachte jetzt darüber nach. Unser Zug hielt an einem Bahnhof, der nicht angesagt war, und die Wagentüren nach draußen öffneten sich ohne mein Zutun. Ich hatte Panik und wollte unbedingt den Zug verlassen, vielleicht nur um Durchzuatmen. Ich stieg, so schnell es ging, aus. Der Bahnhof war menschenleer. Niemand stieg ein, und außer mir hatte anscheinend keiner der Reisenden den gleichen Wunsch wie ich. Ich hatte aber kaum den Bahnsteig betreten, da schloss sich die Tür meines Wagens. Im letzten Augenblick, klemmte sich der Uniformierte, der jetzt mein Aufseher zu sein schien, dazwischen und schrie laut: „Warum steigen Sie hier aus. Wir fahren weiter“. Ich stand auf dem Bahnsteig, neben dem Zug und sagte aufgeregt: „Ich muss unbedingt den Fahrdienstleiter erreichen und ihm meine Frage stellen, welche Verhältnisse sich zwischen ihm und mir geändert haben“. Der Aufseher rief erneut, und seine Stimme wurde ein wenig leiser: „Warum steigen Sie hier aus. Wir fahren doch weiter“. Ich ging zurück zu ihm, so dicht und so eng ich konnte. Er stand auf einem Treppchen und beugte sich zu mir herab. Ich hob den Kopf und sprach gerade in sein Ohr als hätte ich Angst, dass etwas verloren gehen könnte: „Ich wollte nur gelesen werden, nur gelesen werden“. Der Zug setzte sich aber erneut in Bewegung, und der Aufseher verschwand hinter der sich endgültig schließenden Tür. Ich taumelte beim Rückwärtsgehen und fiel verzweifelt und weinend auf die grauen Gehwegplatten des Bahnsteigs. Auf mein Gepäck musste ich verzichten. Es war jetzt eine herrenlose Fundsache. Alles, was ich über Tanja weiß, hat man mir mitgeteilt auf Facebook, über E-Mail und per SMS. Sie saß in einem komfortablen Vorstandszimmer und war eingestellt als rechte Hand des Chefs. Ihm oblag die Verantwortung für die Reparaturen von Flugzeugen. Die kamen aus aller Welt und waren in wunderbaren Farben angestrichen. Bevorzugt waren großflächiges Weiß mit goldener Schrift, Rot mit schwarzen Schrift und Blau mit weißer Schrift. Oft standen bis zu zehn dieser riesigen Wunderwerke gleichzeitig in der Halle. Alle hatten, nur für Montagezwecke, lange Zugangsleitern mit zwei Geländern zu den geöffneten Eingangstüren. An jedem Leiteranfang hing ein bis zu zwei Meter langer Papierstreifen. Der war wie ein Kassenbon vom Supermarkt eng und voll beschrieben und überschrieben und wurde dauernd von jemandem erneut begutachtet. Auf diesem Papierstreifen waren sämtliche Mängel des Flugzeuges aufgelistet. Über die scheinbar unumgänglichen Reparaturen wurde sehr oft sehr lange diskutiert, denn keine der Maschinen hatte so viel Zeit mitgebracht, um die Reparatur aller Mängel in Ruhe erledigen lassen zu können. Es fand also ein dauerndes Verhandeln statt. Tanja erwies sich an dieser Stelle als ein Geschenk des Himmels. Sie verstand es, die wirklich notwendigen Arbeiten von denen zu trennen, die getrost bis zur nächsten Inspektion warten konnten, ohne dass darüber Streit oder Unfrieden entstand, oder ein Sicherheitsproblem unerledigt geblieben wäre. Dazu trug und trugen nicht nur ihre Stimme bei, sondern besonders die tänzerischen, Geschichten erzählenden Bewegungen, ihrer Finger und Hände, die ihr Gesagtes auf eigene Art veranschaulichten. Die Gesprächspartner waren davon sehr oft mehr angetan und überzeugt als von den Sachvorträgen der Monteure oder deren Meister. Das sprach sich herum, und Tanja gewann damit auch die Herzen ihrer Mitkolleginnen. Ihr selbst war das natürlich in keiner Weise bewusst. Ihr war zwar klar, dass sie keine Anwärterin auf einem Schönheitswettbewerb war, die sich behaupten wollte, spürte aber wohltuend die große Sympathie, die ihr glaubhaft entgegenschlug. Anfangs traute sie sich nur wenig zu und war doch vorgesehen als die Frau, die hinhält, abwehrt, bucht, organisiert und immer einen guten Vorschlag unterbreiten können sollte. Wer hier Schule machen wollte, musste selbst geschult und fest gefügt sein und auch handeln, ohne dass der Chef es prüfen musste. Dafür wurde sie zunächst trainiert. Der Chef betrachtete sie bald als eine seiner engsten Vertrauten. Sie kam also gut voran, und nach nur einem Jahr stand sie den meisten anderen Frauen in der Direktionsetage vor. Sie hatte sich insgeheim ein Versprechen abverlangt. Sie wollte niemals zu jemandem „Nein“ sagen müssen. Daran hielt sie eisern fest. Was sie entscheiden ließ oder entschied, das wurde unauffällig und mit Spaß getan. Teamarbeit war überall angesagt. So ging sie selbst, um sich ein Bild zu machen, behutsam eine steile, verzinkte Metalltreppe mit mehr als 60 Stufen von den höher gelegenen Büros hinunter in die „Kathedrale“, wie sie die gigantische Montaghalle nannte. Hier standen die einzelnen Maschinen, hier wurde Hand angelegt, hier wurden die großen Piloten schnell zu Bittstellern, weil denen zu oft Mängel am Herzen lagen, die mehr die Befriedigung eines persönlichen Wunsches zu sein schienen, als sachliche Notwendigkeit. So kam es immer wieder vor, dass an erster Stelle die klemmende Eingangstür zum Kabinenraum der Piloten in Ordnung gebracht werden sollte, oder endlich eine funktionierende Entlüftung der viel zu kleinen Toiletten für die Crew geschaffen würde. Sie war noch ziemlich jung, um die sechsundzwanzig, und wagte, weil der Chef es wollte, sich mit ihm zu duzen. Das war gar nicht so schlimm und später sogar gut, es hatte etwas Familiäres. Das tat ihr besonders wohl, auch wenn sie glaubte, dadurch ein Stückchen notwendiger Distanz und sogar etwas von ihrer Fraulichkeit aufzugeben. Ihr Chef war ein attraktiver Mann um die vierzig. Zu große Nähe empfand sie zunächst als hinderlich, schob den Gedanken aber sehr schnell wieder beiseite, denn es ereigneten sich Einschnitte in ihrem Leben, die alles überschatten und zu Unwichtigkeiten werden lassen sollten. Zunächst jedoch fing ihr Chef Feuer, als er so von ihren Fortschritten überrascht wurde. Ein wenig stolz war er auch auf sich, denn er hatte Tanja eingestellt und einarbeiten lassen. In einem gewissen Übermut suchte er das Gespräch mit ihr und sagte abschließend: „Jetzt müssten wir unsere Kunden nur noch dazu bringen, schnell und ohne Reklamationen zu zahlen. Unser bisheriger Weg ist zu umständlich, weil oft erst Wochen nach der Fertigstellung eine Rechnung erstellt und versendet wird. Hast du eine Idee wie das anders gehen könnte?“ Ihr lag ein „Nein“ auf den Lippen. Doch sie erinnerte sich an ihren Schwur und sagte: „Vielleicht“. Das machte ihren Chef neugierig, aber er erwartete keine richtigen Einfälle, denn andere hatten sich schon zu lange den Kopf darüber zerbrochen. Immerhin kam Tanja wenig später mit einem Vorschlag auf ihn zu: „Die Gesellschaft sollte sofort nach Beendigung der Arbeiten sich diese vom Piloten quittieren lassen und ihm eine Abschlussrechnung aushändigen. Erst dann sollte das Flugzeug die Kathedrale verlassen. Dafür hätten sicher alle volles Verständnis, weil es normal wäre.“ Tatsächlich wurde diese einfache Regelung eingeführt und erwies sich als sehr hilfreich, denn mancher Kunde sah bis dahin in einer nicht vorliegenden Rechnung die Gewährung eines Kredites. Tanja war schier beflügelt und wollte endlich auch den längst überfälligen Besuch bei der Betriebsärztin absolvieren. Den hatte sie immer wieder verschoben. In ihrer Firma hatte jeder Mitarbeiter und jede Mitarbeiterin die Gelegenheit, sich regelmäßig einer Ärztin vorzustellen, und Vorsorge zu betreiben. Die untersuchende Ärztin hüllte sich zunächst, nicht ganz unauffällig in Schweigen, ordnete noch „weitere“ Untersuchungen an und besprach schließlich „Befunde“. Tanja hatte bisher über keine gesundheitlichen Probleme geklagt und war entsetzt über das, was ihr die Betriebsärztin im Beisein einer weiteren Kollegin so schonend wie möglich mitteilte: „Die Untersuchungen haben leider Befunde gezeigt, die wir zwar noch genauer identifizieren müssen, die aber auch so schon ein schlimmes Bild abgeben. Wir haben an einigen Gewebestellen Tumorzellen festgestellt. Davon sind wesentliche Organe betroffen.“ Tanja verstand die Zusammenhänge nicht und fragte nach: „Was heißt das, wesentliche Organe?“ Die Antwort war so verheerend, dass sie sich nur an ihren Schwur erinnerte, niemals „Nein“ zu sagen und fügte für sich hinzu, „und ich gebe niemals auf. “ Die Ärztinnen sagten ihr dann, dass man im Gewebe ihrer linken Brust, in den Knochen, in der Leber und im Gehirn Metastasen nachgewiesen habe und dass dieser Zustand derzeit nicht mehr behandelbar sei. Sie fasste sich und stellte die einzige Frage, die ihr noch einfiel ohne sich über deren Bedeutung im Klaren zu sein: „Wie lange?“ Sie erfuhr als Antwort: „Ein oder zwei Monate.“ Damit war diese Sitzung beendet. Tanja bemühte sich um Einsicht und hinterfragte, warum sie keinerlei Schmerzen verspürt hatte und verspürte. Der Schock war viel zu groß, als dass sie alles was man ihr erklärt und erläutert hatte, verstanden hätte. Sie befragte ihren Chef. Sie erwartete natürlich keine erklärende Antwort, sondern hatte einfach Vertrauen zu ihm. Sie hatte zwar einen Freund, aber der war in diesem Augenblick für sie nicht erreichbar, und sie musste unbedingt mit jemandem sprechen. Ihr Chef und ihr Freund hatten sich vor einiger Zeit kennengelernt. Sie hatten eine zögerliche Männerfreundschaft begonnen. Ihr Chef hatte sich mit Krankenhaus und Sterben überhaupt noch nie befasst und fühlte sich von ihren Worten zutiefst betroffen, völlig überfordert, er wusste keinen Rat, gab auch keinen Trost und erschlaffte in seinen sonst sprunghaften und schnellen Bewegungen. Tanja erschrak darüber und bekam zu ihrer Überraschung Schuldgefühle. Sie sagte spontan: „Das darfst du nicht persönlich nehmen“, und „Ich bleibe doch der Gesellschaft erhalten. Ich werde weiter arbeiten, bestimmt.“ Zuhause besprach sie mit ihrem Freund das Geschehen, und er konnte sie mit beruhigenden Worten davon überzeugen, dass bestimmt eine Art der Behandlung in Frage käme und fand es auch nicht hilfreich, dass Tanja keinen Plan für externe Untersuchungen mitbekommen hatte. Sicher erwartete man einfach von ihr, dass sie von nun an jede Initiative selbst in die Hand nehmen würde. Einen Befund, der allerdings für beide keine besonderen Erklärungen beinhaltete, hatte die Betriebsärztin Tanja mitgegeben. Darin waren aber hauptsächlich verschiedene Merkmale einer Kennzeichnung festgehalten. Es waren z.B. große Buchstaben T, N, und M mit verschiedenen angehängten Zahlen vermerkt. Sie lasen nicht weiter. Tanja kam ein wenig zur Ruhe und hatte den Wunsch ihren Chef, dessen Frau und ihren Freund am Freitag zu einem Essen im kleinen Kreis in einen Gasthof einzuladen. Ihr Freund war sehr dafür und freute sich, dass Tanja nicht zusammenbrach, sondern richtig Mut zeigte und bewies. Die Einladung wurde gerne angenommen. Das Restaurant jedoch nahm zunächst nur vorbestellte Plätze, so dass sie sich eine gewisse Zeit an der Bar aufhalten mussten. Dann bekamen sie ihre Plätze zugewiesen und erfreuten sich alle guter Laune. Der Anlass der Einladung wurde mit keinem Wort erwähnt und die beiden Frauen sahen es als gewinnbringend an, dass ihre Männer so gut zueinander fanden. Die Frauen waren gut, aber einfach gekleidet. Beide trugen Jeans und einfarbige Blusen. Tanjas Bluse war rosa und am Hals unauffällig geknöpft, hatte aber hatte einen tiefen Rückenausschnitt. Dort war auf ihrer Haut ein handtellergroßes Tattoo zu sehen. Das zeigte eine zweifarbige Rose, hauptsächlich in Rot aber auch Schwarz. Es war gestochen und nicht temporär oder abwaschbar. Es war mit enormen Feinheiten, wie kleinen Dornen und Blütenblättern, die die Knospe trugen, gearbeitet. Die Frau der Chefs trug eine weiße Chiffonbluse und um den Hals, an einem braunen Faden hängend, eine gut daumennagelgroße, getrocknete Rosenknospe. Die war offenbar hauchdünn in Harz getaucht und getrocknet, denn sie schien transparent und durchscheinend wie Bernstein. Sie lenkte den Blick auf ein sonst dezentes Dekolleté. Tanja erschien als Sonnenschein, den alle genossen und den niemand durch Bemerkungen infrage stellen wollte, obwohl bestimmt jedem mache Frage auf der Zunge brannte. Durch die Speisekarte wurden alle vier abgelenkt, denn die Auswahl war zum Teil übermäßig und beschrieb einige Gerichte, die völlig neu und ungewöhnlich, ja geradezu überzogen zu sein schienen. So wurden T-Bone Steak vom Kobe-Rind im Blattgoldmantel, Schwalbennestersuppe und Jakobsmuscheln in der Schale gebacken, angeboten, aber auch gut bürgerliche Speisen wie Schnitzel, Spaghetti, Spargelcremesuppe usw. Die Frauen aßen schließlich Salat mit Rindfleisch- bzw. Hühnerfleischeinlage und die Männer traditionellen Elsässer Wurstsalat mit Brot. Es herrschte ein freundlicher Umgangston, sie unterhielten sich entspannt, tranken aber keinen Alkohol, sondern nur Wasser. Das Wochenende verging. Am Montag jedoch kam Tanja nicht zur Arbeit. Es lag keine Abmeldung vor, so dass die Frage im Raum stand: „Wo bleibt Tanja.“ Sie war trotz ihrer Krankheit bisher immer noch pünktlich erschienen. Der Chef machte sich am späten Vormittag an die Arbeit, die sonst Tanja zugefallen war und begann selbst E-Mails zu lesen. Dabei fiel ihm sofort eine schlimme Nachricht auf. Die kam von Tanjas Freund: „Tanja ist Sonntagnacht im Krankenhaus verstorben.“ Der Freund hielt sich sonst völlig bedeckt und teilte nur noch mit, dass sie Beerdigung schon am Dienstag der nächsten Woche, am Vormittag, stattfinden würde. Der Chef ging allein, ohne seine Frau, zur Beisetzung und stand das erste Mal in seinem Leben an einem offenen Grab. Zu einer Grabrede war er nicht in der Lage und hatte diesen Gedanken und den Wunsch dazu auch gar nicht gehabt. Er kämpfte mit großen Schwierigkeiten seine Tränen nicht schon vor seiner Frau zu zeigen. Am Grab
begegnete er seit der Einladung zum ersten Mal wieder Tanjas Freund. Der war
ungewöhnlich gefasst und gab sich große Mühe, den Chef seiner Freundin zu
trösten. Das fiel dem auf und er schämte sich für sein Verhalten. Verwandte
gab es anscheinend keine, so blieb der Kreis der Trauernden auf eine Handvoll
Menschen beschränkt. Es gab eine Ansprache von einem bestellten Trauerredner.
Den hatte wohl der Freund arrangiert. Selbst an Blumenschmuck hatte Tanjas
Chef nicht gedacht. Es lagen aber weiße Rosen am Grab. Die wurden zusammen
mit einer Schaufel Sand auf den Sarg geworfen. Das gab ein schrecklich hohles
Geräusch. Die beiden Männer verließen den Friedhof gemeinsam und versuchten
ein Gespräch. Das war beschwerlich, weil beide wieder zur Arbeit wollten.
Schließlich trafen sie aber vor dem Auseinandergehen ein Übereinkommen. Sie
verabredeten sich, die Pflege des Grabes zu übernehmen und als erstes um
einen Grabstein zu kümmern. Spontan wollten sie statt eines Kreuzes eine
aufblühende Rose über ihren Namen in den Stein setzen lassen. Zwischen den
Männern begann so eine Art ungewisser Freundschaft. |
Künstler, Künstlerinnen und Moral, Essay Zur Erinnerung: Zeit ist die
Wahrnehmung eines Ereignisses. Fehlt die Wahrnehmung, gibt es keine Zeit und kein
Ereignis. Eine Ausnahmestellung unter den unterschiedlichen, aber stets besonderen Arten der Wahrnehmung in meiner eigenen Zeit, bilden Künstler. Selbst die Menschen, die ohne ihr wissentliches Zutun Kunst produzieren, gehören zu dieser fantastischen Gruppe. Es heißt, dass die größten Künstlerinnen und Künstler sowieso im Verborgenen blühen. Es ist müßig aufzuzählen, welche Arten der Kunst ich im Kopf habe oder auch nicht. Letzteres erspart es mir, beteiligte Künstlerinnen und Künstler verschiedener Gruppen der Scharlatanerie zu verdächtigen. Aber auch die könnte eine bestimmte Kunst sein. Künstler, denen ihre Begabung bewusst ist, leben nicht immer nur in der Wahrnehmung von Ereignissen in ihrer eigenen Zeit und sind darum von sich begeistert, sondern betätigen sich in der Regel auch als raffinierte Zeitdiebe. Z.B. rauben sie Musen, Modellen, Gleichgesinnten, der Natur, Gönnern usw. usw. ohne Unterlass durch Wahrnehmungen von Auffälligkeiten in eigener Zeit alles, was ihrem künstlerischen, psychischen und physiologischen Trieb nützlich sein könnte. Da sie in dieser Absicht selten zerstörerisch sind, und ihre Opfer meistens keine diesbezüglichen Wahrnehmungen von Ereignissen in ihrer Zeit oder ihrer eigenen Zeit haben, fällt ihr Handeln nur nicht immer nicht auf, sondern wird sehr oft wohlwollend gesehen, beschmunzelt und sogar unterstützt. Alle Künstler neigen zum Moralisieren, das heißt für sie, jede Art ihrer Kunst verkörpert Moral, ist Orientierung, die ordnet, und zwar für sie ebenso wie für alle anderen. Schlimmer jedoch und viel brutaler ist die Ausbeute, die Künstler zu oft an sich selber durch Wahrnehmungen in ihrer eigenen Zeit an ihrem Ich durchführen. Auf Selbstzerstörung wird nur selten Rücksicht genommen. Die eigenen Bedürfnisse, wie Hunger, Verdauung, Durst und die Sorge um Mitmenschen werden dann vernachlässigt. Sex dagegen und Gewinn werden bei Künstlern großgeschrieben. Diese Ausbeute ist für Künstler in fast allen Fällen die Performance eines Selbstopfers, also die Zurschaustellung einer gewaltigen Demoralisierung, denn moralisch sein, heißt für Künstler beispielhaft gut sein und Gutes tun. Demoralisierung bedeutet für sie also nicht unmoralisch zu sein. Für sie ist Demoralisierung immer der Kampf mit sich selber, unmoralisch zu sein aber würde Niedergang und Untergang bedeuten. Ihr Ego soll dauerhaft und sich mehr und mehr bereichernd, zufrieden gestellt werden. Enttäuschungen sind dadurch vorprogrammiert. Nichts ist ausreichend, und die Schuld liegt zu oft bei den anderen, wenn es nicht nach ihren Vorstellungen geht. Wer ihnen nicht gleich zu Füßen liegt und nicht vor Bewunderung, die sehr oft angemessen wäre, aber aus Unwissenheit und Verständnislosigkeit nicht erfolgen kann, begeistert ist, wird abgewertet und aus ihrem Dunstkreis und wieder zurück in ein Allerweltsgeschehen verbannt. Andererseits werden Claqueure zu Busenfreunden und Mäzene sowie Gönner erst recht. Abgeklärte Künstler geraten dann schon einmal in die wohlwollende Auffassung, Wahrnehmungen in anderer Zeit, so dumme Sprüche wie: „Das ist aber schön,“ oder „Ist es für Sie anstrengend, so begabt zu sein?“ sich auf diese Weise in ihre eigene Zeit einverleiben zu wollen. Damit belügen sie zwar die Maxime, dass Kunst eigentlich wertfrei sein soll, aber es ist ja eine Wahrnehmung in hochgradig ihrer eigenen Zeit und fällt niemandem auf. Die Gefahr, die hier lauert, könnte sein, dass der Ideenreichtum des Künstlers und seine künstlerische Unabhängigkeit gefährdet werden. Das schreckt viele von solchen Vorhaben ab. Hinzu kommt, und das wissen Künstler auch, dass das alles nur solange währt wie diese von ihnen bestohlenen Menschen ihrerseits keine Wahrnehmung minderwertiger Art in eigener Zeit oder anderer Zeit gegen sie kundtun. Damit würden sie für den Künstler wertlos, eigentlich bedeutungslos. Ein Künstler möchte, dass seine Werke von anderen wahrgenommen werden und zwar als deren eigene Zeit und zu Bestandteilen deren eigenen Ichs mutieren. Insofern ist es naheliegend, die eigene Zeit eines Künstlers, mit der eines Diktators zu vergleichen. Wird dies nicht erreicht, bzw. nicht vom Publikum angenommen, erfährt der Künstler aus seiner Sicht: „Unmoral regiert die Welt“. Künstlerinnen schreckt eine solche Denk- und Vorgehensweise meistens ab. Für sie gibt es in Sachen Kunst in erster Linie die Frage nach dem Überleben ihrer Kunst, d.h. ihre Werte sind herausragend Wahrnehmungen in ihrer eigener Zeit. Es gilt das Horchen auf ihr Ich, und sie sehen darin eine Bestimmung, nicht immer ihre Begabung. Morbide Blumenbilder, verwelkende Tulpen zu malen, wird für Künstlerinnen häufig zur Alltagsmelodie und Selbstbestätigung. Beides, besonders aber Begabung halten sie ohnehin zu oft für fraglich, zerbrechlich und nicht unbedingt für beständig. Künstlerinnen sind sehr geneigt durch Wahrnehmung neben ihrer eigenen Zeit, also dem Horchen auf ihr Ich, auch eigene Zeit, das sind Wahrnehmungen von Spiegelungen der Ereignisse ihres Seelen- und Künstlerinnenlebens in ihrer eigenen Zeit festzustellen und festzuhalten. Zeitdiebstähle sind nicht ihre Sache. Eine Gratwanderung, zwischen Fangen und selbst gefangen zu werden, scheint ihnen dabei wohlmöglich zu gefährlich. Die damit verbundenen Risiken sind vielleicht zu groß. Sie kümmern sich selten um die Wahrnehmung von Ereignissen in anderer Zeit auch wenn sie noch so oft dazu verleitet werden. Künstlerinnen
stellen in ihren Arbeiten nur selten die Frage nach einem moralischen
Stellenwert. Dieser manifestiert sich zu oft außerhalb der Leinwand und
hinterlässt auf ihr nur seine Schatten. |
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