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Harald Birgfeld, Webseite seit 1987/ Website since 1987 …da liegt mein Herz, Geschichten aus Niemandsland
2022 -2024 (im Entstehen) z.B.: 100
Jahre „Kafka“, eine herrenlose Fundsache (neu) |
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– olympische Spiele! |
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Lyrik, Prosa und Ingenieurarbeiten |
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„Die Tätowierungen der jungen Tanja W.“ lebt literarisch vom
Wechsel des Erzählenden in die Ichform der Hauptperson und inhaltlich von
Selbstsuche und Selbstfindung einer jungen Frau. |
Die Tätowierungen der jungen Tanja W. Harald Birgfeld 3. Auflage Jetzt direkt online bestellen sowie im Buchhandel, 132 Seiten, Format A5. € 7,99 inkl.
MwSt. Zum Buchshop ISBN 9783752841961 „Die Tätowierungen der …“ ist auch in den USA, Großbritannien und Kanada unter obiger ISBN und bei abweichenden Preisen bestell- und lieferbar. Auch als E-Book, € 4,99 Zum Buchshop ISBN 9783752854077 |
Der Autor,
aus dem Inhalt und Inhaltsverzeichnis
Copyright 2018 beim Autor, Harald Birgfeld, alle Rechte vorbehalten. Kein Teil dieser
Veröffentlichung darf ohne schriftliche Erlaubnis des Herausgebers, Harald
Birgfeld, reproduziert werden. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen,
Übersetzungen, Verfilmung und Einspeicherung sowie Verarbeitung in
elektronischen Systemen.
Harald Birgfeld. e-mail:.
Harald.Birgfeld@t-online.de
Harald Birgfeld, geb.
1938, lebt seit 2001 in Heitersheim im Breisgau. Von Hause aus Dipl.-Ingenieur,
befasst er sich seit 1980 mit Malerei, Lyrik und Prosa. Seine Gedichte
erscheinen seit Jahren z.B. in den Lyrikeditionen
der Frankfurter Bibliothek der Brentano – Gesellschaft sowie der „Bibliothek
deutschsprachiger Gedichte“.
Hat sie
sich insgeheim mit der Einmaligkeit dieser Körpermalerei schön gemacht, um sich
damit zu bestrafen? /
Geschlossene
Augen zu zeichnen oder zu malen ist sehr, sehr schwer./
So wie sie
jetzt schaute, zog sie ein schauspielerisches Training ab./
Ich kann nicht
sagen, wie lange ihr Anfall diesmal gedauert hat, aber wenn er vorüber ist,
schnappt sie sich immer den Hund und heult in sein Fell. Ist das nicht rührend?
Das ist doch süß, oder?/
Sie bewegte
den ganzen Körper, wenn sie sprach./
'Seit wann
schenkt denn ein Mädchen einem Mann rote Rosen?' 'Warum denn nicht? Ich lieb'
ihn, und das soll er wissen.'/
Was Tanja
nicht wusste und was ihr immer verborgen bleiben würde, war die ungewöhnliche
Ausstrahlung ihres Gesichtes, dieser Sonne, die sie mit sich herumtrug und die
jeden berührte./
Ich sagte zu ihm: "Streichel
mich." Ich
bekam einen Orgasmus.
IX. Es
fing ganz harmlos damit an |
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I.
Mit
meinem Bild, das ich Zuhause begonnen hatte, kam ich nicht voran. Ich war
abgelenkt. Das kam von dem Aussehen eines Mädchens, an das ich immerzu denken
musste. Es war ein erwachsenes Mädchen. Ich schätzte es auf achtzehn Jahre; naja,
wahrscheinlich war es sehr viel jünger.
Als ich
mir nämlich kürzlich, um die Mittagszeit, in der Kantine unserer Behörde einen
Platz suchte, einen möglichst ungestörten Platz, fiel mein Blick auf dieses
Mädchen. Es saß einer älteren Frau gegenüber, die ich kannte. Sie arbeitete in
derselben Behörde wie ich und war in der Registratur tätig. Diese Frau
erinnerte ich als angenehm gesprächig.
Sie
hatte mir einmal erzählt, dass sie privat Bienen züchtete. Das hat mich
interessiert. Eine Frau, die in der Behörde sitzt, in der Registratur, einem
der verstaubtesten Plätzchen überhaupt und Zuhause Bienen züchte, das war doch
etwas. Ich hatte sie dabei nach allem möglichen befragt, woraus sie sofort
entnahm, dass ich von Bienenzucht nun wirklich keine Ahnung hatte. Das war
nicht schwer zu erkennen. Was konnte ich schon von Bienenzucht wissen. Für
meine Unwissenheit zeigte sie Verständnis und schilderte mir ausführlich, wie
sie eine Königin machte.
Ihre
Erzählung war für mich ein richtiges kleines Märchen mit allen Grausamkeiten,
die dazu gehören.
Eine
Königin machte sie, indem sie über einer ausgewählten Biene ein hauchdünnes,
grobmaschig gewebtes Tuch so lange hin und her schob, bis von dem kleinen Tier
beide Flügel durch die Maschen des Stoffes hindurch reichten. Die Biene durften
dabei nicht verletzt werden. Das konnte ich verstehen. Ich verstand auch aus
ihrer Schilderung, dass sie außerordentlich sorgfältig mit diesem kleinen
lebenden Wesen umgehen musste, um es auf gar keinen Fall zu verletzen.
Wenn die
Frau alles so hatte, wie sie es sich dachte, oder wie es sein musste, dann
schnitt sie der Biene trotzdem einfach von außerhalb des Tuches die Flügel ab.
Von nun an hatte das kleine Tier nur noch eine einzige Überlebenschance: es
musste von seinem Volk als Königin angenommen werden.
Die Erzählung interessierte mich mit einer fast an
Verwirrung grenzenden Erregung. Ich verspürte in mir eine beginnende Hitze, die
sich nach außen ausbreitete und dort wieder verebbte. Die Menschen selbst, die
so etwas erzählen, bleiben mir meistens unerschlossen, weil das, was sie
erzählen, einerseits brutal und andererseits selbstverständlich ist.
Ich
sollte das an einem anderen Beispiel deutlich machen.
Sehen
Sie, in meinem Beruf komme ich sehr häufig in Schulen, um dort die
Arbeitsplätze der Lehrerinnen und Lehrer zu besichtigen.
Ich habe
es gelernt, für dieses Völkchen, Lehrer und Erzieher, eine uneigennützige Liebe
zu entwickeln. Sie sind sozusagen meine Kinder, um die ich mich zu kümmern
habe.
Einigen
von ihnen sieht man an, dass sie auf verlorenem Posten stehen. Sie haben
resigniert oder verbreiten unerschütterlichen Gleichmut. Andere aber, die in
ihrem Beruf aufgehen, strahlen über das ganze Gesicht, und es macht Freude
zuzuschauen, wie sie mit ihren Kindern umgehen. Von allen gemeinsam aber wird
der kleinste Eingriff von außen als Störung empfunden, und man tut gut daran,
sich möglichst zurückzuhalten.
Eine
ganz andere Gruppe hat sich in der täglichen Arbeit bereits so zerschlissen,
wegen dauernder Überforderung und Überlastung, dass sie Mitleid erregen. Auch
aus diesem Grund traut sich kein Außenstehender an sie heran oder dort
irgendwie einzugreifen, und er tut auch hier gut daran.
Von
einer solchen Gruppe nun, Lehrerinnen, eigentlich Erzieherinnen, soll mein
Beispiel handeln.
Sechs
oder acht dieser Frauen, hatten mehrfachschwerstbehinderte Kinder im Alter von
vier bis acht Jahren zu betreuen.
Sie
erzählten mir von der Arbeit an den Kindern, von den Aufgaben, die sie sich mit
diesen Kindern stellten. Das waren Aufgaben, die sie in drei Worten
zusammenfassten: „Wir können keine erzieherischen Aufgaben mehr erfüllen.
Verstehen Sie, wir machen täglich stundenlanges Esstraining und müssen
zuschauen, wie die Kinder manchmal gar nichts von dem Essen bei sich behalten
können.
Wir sind
gezwungen, mit ihnen ebenso langatmig Toilettentraining zu machen, und von
Erfolgen können wir dabei auch nicht reden. Als Fernziel, nach jahrelangem
Bemühen, erhoffen wir uns, mit dem einen oder anderen Kind einen Körperkontakt
aufnehmen zu können. Das bleibt wirklich nur ein Fernziel und wird bei den
wenigsten Kindern erreicht. Die Behinderungen der Kinder sind dafür zu groß,
für uns zu unüberwindlich“.
Ich
fragte nach: „Wie groß sind denn die Gruppen der Kinder?"
Eine
Erzieherin antwortete: „Normalerweise habe ich sechs, aber heute sind es nur
vier“.
Und dann
kam die Zusatzbemerkung, um deren Willen ich die ganze Geschichte erzähle:
„Zwei sind wohl krank, ich glaube, die haben Schnupfen oder sind erkältet“.
So etwas
rührt mich. Das beschert mir eine Gänsehaut. Diese wirklich kranken Kinder sind
in den Augen der Erzieher also erst dann krank, wenn sie einen Schnupfen oder
eine Erkältung haben. Das, finde ich, ist brutal und verständlich zugleich.
Ich
musste dabei an die Bienenzüchterin denken. Die Biene durfte nicht verletzt
werden, um Königin zu werden, und ihr wurden aus demselben Grund die Flügel
abgeschnitten. Welch ein Wahnsinn und wie sinnvoll.
Ich
empfinde diesen Widerspruch körperlich, als elektrisches Gefühl in meinem
Magen, das von dort nach überall ausstrahlt. Ich bin erregt und denke, dass
eine Auflösung, ein gutes Ende der Geschichte folgen muss. Das ist aber nicht
der Fall. So ein Ende kann es gar nicht geben.
Ich
selbst sage auch nichts dazu, ich horche nur nach innen, ob sich dort etwas
tut. Dort schreit es. Es schreit so laut, dass ich denke, jeder in meiner Nähe
müsste es hören. Er ist ein Stummschrei, den ich nicht unterdrücken kann. Es
ist mein Stummschrei oder die Entdeckung meines inneren Raumes.
Mein
Mund ist geöffnet, als wäre ich ein Kind zu Füßen eines Märchenerzählers.
Dem kann
ich mich nicht entziehen.
Ich
frage dann Einzelheiten nach und möchte die kleinsten Kleinigkeiten ganz genau
wissen: „Was passiert mit den abgeschnittenen Flügeln. Zucken die noch? Werden
die gesammelt? Warum macht man das so? Machen die Bienen das unter sich auch
so?" Die Frau konnte mir das nicht erklären: „Das wird nun 'mal so
gemacht. Alle machen das so. Einer muss es doch tun, oder?" Und dann noch:
„Meistens funktioniert es ja auch“.
Ich
fragte zurück: „Was heißt denn das: meistens“.
"Ja,
meistens heißt, dass die Biene nicht eingeht, also nicht stirbt. Sie muss nur
als Königin angenommen werden, sonst allerdings geht sie zugrunde“. Wieder so
ein Märchenstück, das grausam endete.
Die Frau
erkannte schnell, dass ich Phantasie und Wirklichkeit nicht immer auseinander
hielt.
Sie
sagte: „Ist nicht so schlimm, wenn eine stirbt. Man kann immer noch eine andere
zur Königin machen“. Das alles fiel mir ein, als ich die Frau vor dem Mädchen
am Tisch sitzen sah.
Das
Mädchen hatte Tätowierungen auf den Armen.
Ich weiß
nicht ob man das nachvollziehen kann, aber die Entdeckung der Tätowierungen,
der Anblick der Frau und die Tatsache, dass es sich bei dem tätowierten Körper
um den eines für mich blutjungen Mädchens handelte, waren die bildliche Darstellung
dieses Märchens von der Bienenkönigin.
Die Frau
brauchte das Mädchen gar nicht zu kennen. Es konnte ihr wildfremd sein und ihr
durch einen Zufall gegenübersitzen. Für mich war sie aber die Biene, die,
gestutzt durch die Tätowierungen, Königin werden sollte.
Nein,
wie absurd, wie schön und wie unendlich zufällig.
Die
Gedanken in meinem Kopf waren entsprechend märchenhaft: ‚Wird sie angenommen
als Königin oder muss sie zugrunde gehen’. Ohne Inhalt war dabei die Frage nach
deren Bedeutung.
Ich
fragte mich: ‚Wie geht sie mit den Tätowierungen um, warum hat sie die. Sind
sie der persönliche Ausdruck von Zerbrechen?' Den schlimmsten Gedanken wagte
ich gar nicht zu Ende zu denken: ‚Gibt sie mit den Tätowierungen bereits
sichtbare Zeichen? Ist sie schon am Ende? Hat sie sich insgeheim mit der
Einmaligkeit dieser Körpermalerei schön gemacht, um sich damit zu bestrafen?
Stellte sie ihren Körper deswegen zur Schau? Betrieb sie eine besondere Art der
Prostitution? Wollte das Mädchen nur auffallen, um sich selbst, einem Freund
oder sonst jemandem etwas zu beweisen?' Diesen Drang, seinen verletzten Körper
einerseits anzuprangern, andererseits aber die Tätowierungen Andere als
Schönheit empfinden lassen zu wollen, löste in mir das Gefühl aus, dass es in
dem Mädchen sehr, sehr schlimm aussehen musste.
Das
Mädchen wollte sicher imponieren. Aber hätte es dafür nicht ganz andere und
bessere Mittel gehabt? Mittel, die nicht so unwiderruflich für alle Zeiten
waren?
Mit dem
Essenstablett in der Hand ging ich auf die beiden zu. Sie saßen an einem großen
Tisch, der für acht Personen vorgesehen war. Außer ihnen saß dort aber niemand.
Meine
Neugier wuchs. Ich ging an den Tisch. Ich hätte mich einfach hinsetzen können.
Ich hätte auch fragen können, ob noch Platz frei ist. Das ist in einer so
großen Kantine aber unsinnig. Der Platz war ja frei. Wenn man aber fragt, ob
noch frei ist, und man sich dabei an jemanden wendet, den man kennt, dann heißt
das ganz klar, dass man eben wegen dieser bekannten Person und in der ganz
entschiedenen Absicht, mit dieser Person zu reden, um den Platz bittet.
Die
Antwort kann schroff sein, zum Beispiel: „Hm, was? Ach so, ja. Ist ja noch
frei," und Schluss. Dann kommt man nicht ins Gespräch.
Sie kann
aber auch lauten: „Ach Sie sind es. Nehmen Sie doch Platz", usw. usw. Das
ist dann gut.
Ich habe
ehrlich gesagt nicht lange darüber nachgedacht, sondern gleich gefragt: „Darf
ich mich setzen, ist noch frei?" und mich auch schon niedergelassen.
Die
beiden Frauen haben uninteressiert aufgeschaut, und nur die aus der Registratur
schien mich wiederzuerkennen.
Sie
sagte: „Ach, Sie, setzen Sie sich ruhig zu uns“.
Das
klang sehr vertraut, fast so, als ob sie mich einbeziehen wollte in eine kleine
Gemeinschaft.
Es gab
etwas Gemeinsames zwischen den beiden, das war sicher. Mein Essen wurde
unwichtig. Ich stocherte nur darin herum, aß wenig und schielte immer wieder
auf die nackten Arme des Mädchens mit den Tätowierungen. Die befanden sich
sogar noch auf den Schultern. Blaue Hautzeichnungen überall.
Nicht
gerade eindrucksvoll als Zeichnungen, reichlich einfach und vordergründig
sogar, aber als Tatsache machten sie mich betroffen.
Ich
dachte angestrengt darüber nach, wie ich mit denen ins Gespräch kommen, wie ich
diese Körpermalerei ins Gespräch bringen konnte. Ich entschloss mich, es über
die Frau neben mir zu versuchen und sprach sie mit einer Lappalie an: „Arbeiten
Sie eigentlich ganztags, Frau W.?"
Sie
antwortete mit unendlichen Traurigkeit in ihrer Stimme: „Nein, schon lange
nicht mehr. Ich gehe doch zweimal in der Woche noch in ein Altersheim. Hatte
ich Ihnen das nicht 'mal erzählt? Wahrscheinlich nicht. Ist auch nicht so
wichtig“.
Das
Mädchen an der anderen Seite stocherte ebenfalls in seinem Essen herum. Wie es
so am Tisch saß, erinnerte es mich an ein Tier, an einen Vogel. Ich dachte an
die Bewegungen einer Taube, die das Köpfchen in die Federn steckt und hier und
dort etwas zurecht zupft. Ich dachte an die Bewegungen eines Huhnes, das sich
in eine Sandkuhle gelegt und die Flügel ganz unnatürlich von sich weggeschoben
hat.
Es wäre
leicht, ein solches Tier zu fangen.
Das
Mädchen gab sich einer trägen Lustlosigkeit hin mit dem Ausdruck, dass ihm
ziemlich alles egal war. Die Arme lagen so auf dem Tisch, dass sie eigentlich
von der Tischkante hätten herunterrutschen müssen. Es war ihr offenbar viel zu
schwierig und zu umständlich, sich bequem aufzulehnen. Die Arme stützten das
Mädchen nicht ab. Sie bewahrten den Körper aber immerzu gerade noch vor dem
sicheren Abrutschen.
Das
Mädchen saß auch nicht aufrecht, wie es meistens junge Mädchen in dem Alter
tun, um ihre Figur zu zeigen, oder weil es ihnen anerzogen ist: „Ein Mädchen
sitzt gerade am Tisch und nicht krumm wie ein Fiedelbogen".
Ihre
Mundwinkel waren etwas nach unten gezogen, zeigten Geringschätzigkeit und
gleichzeitig kindliche Unzufriedenheit. Das mochte gar nicht ihre Absicht sein,
stand ihr aber gut.
Der Mund
war schön geformt, so richtig zum Zeichnen. Die Schultern waren auch zeichnens-
und auf jeden Fall zeigenswert. Darüber trug sie einen dünnen, ärmellosen,
schwarzen Pullover. In Gedanken verfolgte ich mit den Augen die Konturen
darunter, wie bei einem Aktmodell.
Schöne
Schultern haben einen ganz besonderen Verlauf. Er beginnt nämlich schon am Hals
und fällt ein ganz klein wenig nach außen ab. Er wandert als eine Erhebung über
ein leicht fleischiges Schultergelenk, schwingt danach, dort wo der Oberarm
beginnt, mit dem Hauch einer Empfindung nach außen und stürzt, weil es nun so
sein muss, nach unten in den weiteren Verlauf des Armes. Schöne Schultern sind
ein wunderbares Geschenk und ein Abenteuer für das Auge.
Die Haut
spielt dabei eine ganz große Rolle. Trotzdem ist der Verlauf der Formen viel
wichtiger. Schultern, die ein Knochengerüst zeigen, werden zum Kleiderständer.
Die muss man ja nicht unbedingt allen zeigen oder zeichnen wollen.
Schöne
Schultern haben leider nicht immer einen schönen Körper im Gepäck, auch wenn
eigentlich jeder Körper irgendwo seinen unerwarteten Reiz hat. Das Auge eines
Zeichners sucht ja nicht nur den Reiz des Schönen, sondern viel öfter den des
Ausdrucksvollen, die Überraschung.
Reizlose
Körper sind nicht von Hause aus reizlos sondern nur, weil sie so reizlos
gezeigt werden.
Da wird
der Zeichner mit seinen Augen zum Dieb. Seine Augen suchen und finden und
stehlen den Reiz für seine egoistischen Zwecke.
Das ist
ihm nicht verboten. Er darf sich aber bei diesem Beobachten nicht ertappen
lassen, wie mir es schon passiert ist.
Zweimal
hatte ich völlig selbstvergessen Frauen zugeschaut, die mir in der Bahn mit
ihrem Strickzeug gegenübersaßen.
Einmal
war es eine ältere und einmal eine sehr viel jüngere. Sie hatten beide die
Blicke unter ihren niedergeschlagenen Augen auf die Arbeit in ihrem Schoß
gerichtet. Beste Gelegenheit für mich zum genauen Betrachten.
Ich war
dabei recht schamlos vorgegangen und schaute auf alles. Mir entging keines der
kleinen Hautfältchen, keine Bewegung der Finger. Ich schaute genau in die
Falten der Kleider und auf die Sonnenhärchen ihrer Wangen, der Oberlippen, des
Kinns und unter den Ohren.
Jede der
Frauen war aber plötzlich wortlos aufgestanden und, ohne mich eines einzigen
Blickes zu würdigen, zu einem anderen, weit entfernten Platz gegangen und hatte
sich dort hingesetzt. Dort haben sie mit den gleichen gesenkten Augenlidern
ihre Handarbeit fortgesetzt.
Es waren
die niedergeschlagenen Augen gewesen, die mich so sicher hatten werden lassen.
Das hatte ich aber falsch eingeschätzt.
Auch
dieses Mädchen in der Kantine, mir gegenüber, hatte den Blick gesenkt. Das
Gesicht drückte Gleichgültigkeit aus. Vielleicht irrte ich mich und es war
Traurigkeit, einfaches Nachdenken, trotziges Vorsichhinbrüten. Vielleicht war
es Betroffenheit, eine persönliche Schwäche, Verlegenheit oder mädchenhafte
Unsicherheit.
Geschlossene
Augen zu zeichnen oder zu malen ist sehr, sehr schwer. Nicht nur, weil man die
Gedanken hinter der Fassade nicht errät, sondern weil sie eigentlich für den
Betrachter keine Aussage machen. Als Zeichner möchte ich mich damit nicht
zufrieden geben. Nein, die geschlossenen Augen müssen blicken.
Um das
zu erreichen, sind zwei Bedingungen zu erfüllen. In der Zeichnung müssen die
geschlossenen Augen gewölbt erscheinen, um eine nicht vorhandene gemeinsame
Blickrichtung vorzutäuschen. Das ist in Wirklichkeit zwar nicht der Fall, weil
die Augen geschlossen sind. Das Auge des Betrachters aber verlangt das.
Nur so
ist es für den Betrachter richtig.
Er würde
auch sofort feststellen, wenn hier irgendetwas nicht stimmte. Die Augen im Bild
würden ihm zu schielen scheinen. Das wäre furchtbar. Wenn alles stimmen soll,
müssen die geschlossenen Augen also eine einzige Blickrichtung haben.
Das
zweite wesentliche, das noch viel wichtiger ist als die Blickrichtung, ist
etwas, das nur Kenner begeistert. Das wird nur von den Menschen richtig
verstanden, die sich selbst schon einmal um die Lösung dieses Problems bemüht
haben. Andere können es zwar nachempfinden, aber nicht begründen. Sie erkennen
die Ursache nicht.
Das, von
dem ich nun spreche, ist das Malen oder Zeichnen von geschlossenen Augen, die
trotzdem gucken, schauen, die voll auf den Betrachter gerichtet sind. Das waren
zum Beispiel die Augen der beiden Frauen aus der Bahn gewesen. Die haben auf
mich geschaut, ohne mich angesehen zu haben. Die hatten mich durch ihre niedergeschlagenen
Augenlider beobachtet. Zu zeichnen, wie die den Beobachter beobachten, und, dem
Betrachter eines solchen Bildes, dieses Gefühl hautnah zu vermitteln, das ist
das allerschwierigste.
Die
Frauen an meinem Tisch kamen mit dem Essen genauso wenig voran wie ich.
Ich
wagte einen neuen Vorstoß und wandte mich an die Jüngere. Ich blickte dabei
unverwandt auf ihre Schultern, wo der Pullover eine der Tätowierungen etwas
verdeckte. Der Pullover hatte zwar keine Ärmel, begann also direkt auf den
Schultern, ließ aber noch ein Stückchen einer Tätowierung herausschauen. Ich
hätte nicht sagen können, was ich sah, aber ich meinte, wenigstens zwei Farben
unterscheiden zu können. Mir kam es auch nicht auf das ‚Was‘ bei den
Tätowierungen an, sondern auf die Tatsache, dass ich sie sah.
„Entschuldigen
Sie bitte, wenn ich Sie so einfach frage, aber mich interessiert es... Wissen
Sie, ich kann mir das nicht anders erklären... Sagen Sie mir bitte, sind die
Tätowierungen echt?" Ich sah deutlich, dass es nicht die einzige Malerei
auf ihrer Haut war, und meine Frage war mir selbst dumm und unangenehm genug.
Es war ganz offensichtlich, dass es hier nichts Unechtes gab.
Das
Mädchen sagte nur: „Stimmt. Sind echt“, und schaute dabei nicht hoch. Sie
schämte sich nicht etwa, sondern sie war von meiner Frage gelangweilt.
Die
Frau, ihr gegenüber gab bessere Auskunft: „Das ist meine Tochter. Die
Tätowierungen sind unser größtes Problem. Meine Tochter wünscht sie sich alle
wieder weg. Sie weiß nur nicht wie. Übrigens“, zu ihrer Tochter, „das ist ein
Kollege, ist Ingenieur bei uns“.
Die
Tochter schaute kurz hoch, mir in die Augen, und als ob sie dort etwas
Erfreuliches gefunden hätte, sagte sie: „Wissen Sie, wenn ich mich irgendwo
vorstelle, trage ich sonst ein kleines Jäckchen mit langen Ärmeln, damit man
nichts sieht. Wenn ich dann den Job habe, muss ich den Kollegen langsam
klarmachen, wie ich am Körper aussehe. Die meisten verstehen das ja nicht.
Können sie auch nicht. Das geht noch. Aber sobald ein Chef etwas mitbekommt,
denkt der nur noch an seine Kunden, die vielleicht mal ins Büro kommen können.
Dann flieg' ich entweder gleich wieder 'raus, oder der kommt jeden Morgen und
sieht nach, ob ich die Jacke mit hab'. Ich ertrag das alles bald nicht mehr“.
Die
Mutter: „Das sind ihre Jugendsünden. Fragen Sie nicht, wie ich darunter
gelitten habe. Das kann sich kein Mensch ausmalen. Und nun soll alles wieder
runter“.
„Wie
weit geht denn die Malerei. Ich meine setzt sie sich am ganzen Körper
fort?"
Die
Frauen sahen mich ein wenig fassungslos an. Ich schämte mich nun richtig. Das
Mädchen hätte meine Tochter sein können, und ich stellte Fragen, scheinbar mit
einer derartigen Begehrlichkeit, als wollte ich das Mädchen ausziehen und mir
alles an ihr ansehen und das gleich, gleich hier am Tisch und beim Essen.
Ich warf
ein: „Nein, nein. Es interessiert mich zwar, aber entschuldigen Sie bitte meine
Neugier“.
„Sie
glauben doch nicht, dass ich nur das bisschen habe, was Sie sehen, oder?"
Die
Mutter stimmte zu: „Wenn es nur das wäre. Nein, nein, das geht schon weiter“.
Ich
sagte: „Dann gibt es jedenfalls an Ihrem Körper viel zu entdecken“.
Beide
lächelten müde.
Ich
sagte: „Körpermalerei ist die älteste Kunstform, die man sich denken kann.
Kinder lernen sie als erste, wenn sie ihren eigenen Körper mit Farbe verfremden
dürfen“.
Das
hatte ich nur aus Spaß gesagt, um die beiden aufzuheitern. Ganz offenbar hatten
sie das aber noch niemals in ihrem Leben gehört und diesen naheliegenden
Gedanken noch niemals gehabt. Sie waren völlig überrascht davon.
Die
Tochter sagte sofort: „Stimmt das wirklich?"
Und die
Mutter sagte: „Dann sind deine Tätowierungen vielleicht sogar noch Kunstwerke“.
Mir fiel
auf, dass die beiden ungehemmt und in ganz normaler Lautstärke über die Bilder
auf ihrem Körper sprachen. Kein Geheimnis, nichts Verborgenes lag in ihren
Stimmen und dass ich mich mit ihnen darüber unterhalten konnte, war für mich
ganz ungewöhnlich und mir neu.
„Früher
hatte ich noch Hemmungen, die Tätos offen zu zeigen. Die durften nur meine
Freunde sehen. Nur mit denen habe ich darüber gesprochen“, kam von der Tochter.
Die
Gelassenheit, die das Mädchen jetzt an den Tag zu legen schien, kam mir
unglaubwürdig vor. Für mich war es ein Kokettieren mit ihrer Schamhaftigkeit.
Ich konnte mir sehr gut vorstellen, wie sie hin und her pendelte zwischen
braver Wohlerzogenheit, einem sich lieber einmal zu viel Artigbedanken, einem
unterwürfigen Knicks beim Dankeschön sagen, und einer gewöhnlichen,
verletzenden, Türen schmeißenden Ver- und Unerzogenheit. Beidem lag dieselbe
Koketterie zugrunde.
Beides
mochte ohne innere Beteiligung, als ein Spiel, als eine Laune über sie kommen,
beides mochte sie als eine Art schauspielerisches Tun an sich ausprobieren.
Hier am
Tisch probierte sie sich aus. Einmal legte sie einen umgänglichen Ton in ihre Stimme,
während sie mit ihrer Körpersprache und Körperhaltung andere, beleidigende Töne
anschlug.
Ich
traute ihr zu, dass sie, ohne Ankündigung und ohne Grund aufstehen und uns den
Tisch mit allem Essen und Trinken über den Schoß kippen konnte. Solche Gefühle
kannte ich selbst, die waren mir geläufig.
Mit
diesen Gedanken sah ich zu ihr hinüber. Sie blitzte in demselben Augenblick aus
schmalen Augen so scharf und verletzend zurück, dass ich mich bestätigt fand.
So wie sie jetzt schaute, zog sie ein schauspielerisches Training ab.
Die
Übung hieß: ‚Augenlider hoch, direkt anschauen, sehen, ob Verunsicherung
möglich ist, Verführung ins Spiel bringen und, falls Gewinn in Aussicht, Gegner
mit allen Mitteln, möglichst mit Blickwiederholung und dem gleichen Augenaufschlag,
vollständig und gründlich vernichten’.
Die
Übung hieß weiter: ‚Bei Verführung: Sieg über den Gegner bis zu seiner
Niederlage anstreben’. Das ist ein heißes Spiel, ein Spiel mit persönlichem
Einsatz. Aus der Übung kann schnell Ernst werden, und wer sich darauf einlässt,
muss bei eigener Unversehrtheit auf immer neue Angriffe gefasst sein, solange
jedenfalls, bis das Interesse der anderen Seite nachlässt, in diesem Fall das
nachlassende Interesse des Mädchens am Schauspielern selbstverständlich und nicht
am zu vermutenden Interesse an seinem Gegenüber. Diese Vermutung meinerseits,
dass das Mädchen nämlich ein Interesse an mir hätte haben können, wäre in ihren
Augen schon der Sieg über mich gewesen. Hat sie bei ihrem Gegenüber erst einmal
das Interesse an sich geweckt, dann ist das für sie natürlich die Bestätigung
einer guten theatralischen Leistung. Ihr Interesse an der Person ist damit
vorüber, abgekühlt und auf null. Schafft sie das alles aber nicht, sondern hält
der Gegner ihren Angriffen stand, so wie ich, dann rettet er sich vielleicht
auch ihr Interesse, mit der Aussicht, wirklich mit ihr ins Gespräch zu kommen.
Und das war meine Absicht.
Das wäre
der Augenblick, an dem es für sie Ernst, für sie gefährlich werden könnte. Sie
würde dann einem anderen, als ihrem schauspielerischen Interesse, ausgeliefert
werden. Weil das aber nicht ihre Absicht war, kann es schnell zu
Kurzschlusshandlungen führen. Ihr Blick war also als eine Drohung zu verstehen.
Ich sollte mich nicht weiter für sie interessieren. Er war ein Befehl. Ich
verstand ihn so und machte sie damit für einen winzigen Augenblick zu meiner
Partnerin. Das mochte sie beruhigen, vielleicht aber auch verunsichern,
vielleicht sogar dazu führen, dass sie sich erst recht angegriffen glaubte. Das
wollte ich auf gar keinen Fall. Ich wollte sie ja nur ein wenig befragen
dürfen.
Mit der
Aufmerksamkeit, mit der sie mich belauerte, ihrer Unrast, ihrer Sucht zu
verletzen und Suche nach Verletzungen, erkannte sie, was ich vorhatte, und tat
von nun an alles als für sie ohne jedes Interesse ab.
Von ihr
war augenblicklich nichts mehr zu erfahren. Aus ihr war nichts mehr
herauszubekommen.
Ihre
Arme machten eine überflüssige Bewegung. Ihr Kinn war fast ganz in den Winkel
des angezogenen rechten Oberarmes und des rechten Unterarmes, der auf dem Tisch
lag, gesunken und drückte ihn langsam auseinander. Schlaffheit wurde
demonstriert, Beobachten, Belauern, Wirkung und Auswirkung von Annähern an ein
fremdes Tier, nämlich an mich, ausprobiert.
Ihre
Augen signalisierten: ‚Vielleicht kann ich dich doch noch irgendwie klein
kriegen. Im Moment habe ich zwar keine Lust, aber wer weiß’.
Ihre
ganze Schauspielerei war mir sehr willkommen. Sie steigerte mein Interesse. Ich
hoffte nun auf eine Bemerkung der Mutter. Die kam aber nicht. Das vermisste ich
sehr. Es hätte gut in meine Erwartungen gepasst.
Einmal
nur noch stöhnte die Mutter plötzlich auf, als müsste sie einen schweren
Gedanken beiseiteschieben.
Die
Tochter sagte darauf zu ihr: „Lass das doch“. Nichts weiter. Ich verstand
selbstverständlich nichts.
Die
Mutter sah mich an, als ob sie mir etwas erklären wollte, ließ es aber bleiben
und sah wieder zu ihrer Tochter hinüber. Die saß immer noch schlaff am Tisch
und betrachtete ganz aufmerksam die kleinen Härchen an ihrem Arm.
Ich
versuchte es noch einmal mit meinem Mittagessen. Es war ganz kalt geworden.
Ich
hörte also auf, nahm mein Tablett, wünschte den beiden noch guten Appetit,
sagte: „Mahlzeit" und ging weg, um es auf ein Laufband zu stellen. Das war
weit entfernt.
Von dort
versuchte ich zurückzuschauen und hoffte, die beiden zu erkennen. Das war aber
nicht möglich. Mein Herz schlug heftig und hart, was ich mir nicht erklären
konnte. Früher hätte ich es hingenommen, als ein Gefühl von Erregtheit, im
harmlosesten Fall von Aufgeregtheit. Jetzt war es aber wegen einer
Unentschlossenheit, nein, eigentlich einer Angst.
Ich
brauchte keine Angst zu haben, und doch hatte ich sie.
Ich
dachte daran, welche Schwierigkeiten ich haben würde, um wieder mit dem Mädchen
ins Gespräch zu kommen, etwas über es zu erfahren. Es war mir klar, dass sie
nur heute und nur zufällig und sicher nur dieses eine Mal in der Kantine saß.
Die Mutter hatte vielleicht etwas von ihr gewollt und sie eingeladen. Und
selbst, wenn sie hier ein zweites Mal erscheinen würde, wäre es undenkbar, dass
ich ihr gerade in der Zeit wieder begegnen würde.
Das war
beklemmend. Wie sollte ich mehr über sie in Erfahrung bringen, viel mehr,
alles, was es in Erfahrung zu bringen gab, wenn ich sie nicht sprechen, nicht
fragen konnte.
Gewiss
gab es die Mutter, die jederzeit von mir angesprochen werden konnte. Aber würde
die mir letzten Endes sagen wollen und können, wie es in ihrer Tochter aussah?
Das war doch kaum zu erwarten. Das ließ mir keine Ruhe, davor bekam ich Angst.
Mein
Alltag sah nun so aus: wenn ich arbeitete, konnte ich mir fremde Gedanken gut
vom Leibe halten. Ich dachte nicht an meine begonnenen Bilder und nicht an
dieses Mädchen. Ich war ganz bei der Sache, so sehr, dass man mich manchmal
ansprach, ob ich denn wirklich meine Arbeit so sehr liebte, dass ich darin
aufzugehen schien. Das machte mich stutzig, weil ich doch wusste, dass ich mich
damit nur vor den anderen Gedanken, an meine Bilder und an das Mädchen rettete.
Und das konnte nur klappen, wenn ich mich ausschließlich um meine Arbeit
kümmerte. Näherte sich aber der Feierabend, so erfuhr ich meine innere Unruhe
neu. Sie ließ mich wieder an meine begonnenen Bilder denken. Saß ich
schließlich zu Hause am Brett, an einem Bild, einer Zeichnung, dann kam ich
nicht voran, weil ich an dieses Mädchen denken musste. Vor den Gedanken an das
Mädchen floh ich am nächsten Tag in die Arbeit, von dort am Abend wieder in
meine Bilder, zu denen ich wegen meiner Gedanken an das Mädchen nicht kam und
deswegen wieder an den nächsten Tag dachte und so weiter und so weiter.
Immer,
wenn ich mir über diesen Kreislauf Klarheit verschafft hatte, kam das
Herzklopfen dazu. Ich konnte es nicht verstehen. Eines war sicher, meine innere
Enge wuchs, und ich musste den wohl unbequemeren Umweg über die Mutter gehen
und versuchen, durch sie an das Mädchen heranzukommen.
Es
vergingen etliche Wochen der Warterei, weil ich erfahren hatte, dass die Mutter
sich im Urlaub befand. Gleich nach dem Urlaub wäre sie zwar für mich erreichbar
gewesen, inzwischen hatte mich aber der Mut, sie zu fragen, wieder verlassen.
Eine
kleine Aussicht hatte ich dennoch, nämlich ein bevorstehendes Weihnachtsfest
sollte in den Räumen der Behörde stattfinden. Dort könnte ich sie ansprechen,
dort könnte ich ihr auch erklären, dass mich an dem Mädchen so ungewollt viel
beschäftigte, und dass ich voll unruhiger Neugier mit der Tochter in ein
Gespräch kommen wollte. Diese Aussicht beruhigte mich ein wenig.
Die
Feier rückte näher. Ich war immer noch sehr unentschlossen. Meiner Absichten
war ich mir selbst immer noch nicht sicher, und es war unklar, wie ich sie der
Mutter gegenüber formulieren sollte.
Eigentlich
brauchte ich sie ja nur nach der Adresse des Mädchens zu fragen. Eine
scheinbare Begründung musste reichen: ‚Ich möchte Ihre Tochter nach den
Tätowierungen befragen, nach den Gründen dafür, und so weiter, aus reiner
Neugier. Ich möchte Sie im Grunde nur als meine Fürsprecherin gewinnen’. Ja,
das hörte sich gut an, so könnte ich es machen.
Am
späten Nachmittag fand die Feier statt. Die Mutter war mit Handreichungen und
allem möglichen unentwegt beschäftigt, so dass ich sie in nichts verwickeln
konnte. Plötzlich aber, als hätte sie ein Engel dahin geschoben, setzte sie
sich völlig ermattet direkt neben mir auf einen Stuhl. Ich sah die erhoffte
Gelegenheit, mit ihr ins Gespräch zu kommen und versuchte es auch sofort.
„Frau
W., ich hatte schon seit längerer Zeit vor, sie noch ein wenig nach ihrer
Tochter auszufragen. Sie wissen doch, dass ich so sehr neugierig auf die Gründe
für die Tätowierungen bin“.
„Ach das
sind doch ganz fürchterliche Geschichten. Ich wünschte zu oft, dass es die gar
nicht gäbe“.
„Wissen
Sie, wenn es meine Tochter wäre, würde ich sicher ganz genau so darüber denken
wie Sie, aber so, als Außenstehender, finde ich das alles auch hoch
interessant“.
„Das ist
nicht interessant, sondern das ist für uns mit der Tatsache verbunden, dass wir
uns bemühen müssen, dieses Kind langsam ernst zu nehmen“.
Das
erstaunte mich sehr. Ich wäre doch nicht auf den Gedanken gekommen, dass die
Eltern dieses Mädchen nicht ernst nehmen konnten. Die Mutter fuhr fort: „Und
erst recht, wo sie doch nicht mehr bei uns wohnt“.
Ich sah
meine Gelegenheit, sie nach der Wohnung des Mädchens zu befragen: „Meinen Sie,
dass ich sie 'mal anrufen und vielleicht in ihrer Wohnung besuchen könnte,
vielleicht sogar mit Ihnen?"
„Sie
haben eine ganz falsche Vorstellung. Die hat keine Wohnung. Wir wissen nicht,
wo sie sich aufhält. Wir wissen nur, dass sie mit einem verrückten Österreicher,
so einem ‚charmingboy' zusammenlebt. Der ist auch noch elegant und sehr
freundlich. Den will sie heiraten. Also für uns ist das alles ganz, ganz
schrecklich. Wir sind richtig unglücklich“.
Die Frau
hatte eine weiße Bluse an. Die war bis oben zu, vorne geknöpft, ganz niedlich,
mit einem Hauch von Hausfraulichkeit, weil der Stoff so gut gebügelt zu sein
schien. Sie war ziemlich durchsichtig aber wieder nicht zu durchscheinend. Es
war vielleicht besonders dünnes Leinen oder eine besondere Art Kunstfasergewebe.
Ich wurde durch sie irritiert. Normalerweise sieht man durch dünne weiße Blusen
die Unterwäsche. Irgend so ein Trägerchen schimmert immer hindurch. Das war bei
dieser Bluse nicht der Fall. Sie hatte einen groben, spitzenbesetzten Kragen.
Dazu trug die Frau eine kleine Kette am Hals. Daran war ein Anhänger.
Ganz eng
am Hals hatte sie noch eine Perlenkette. Ein Schloss konnte ich nicht erkennen.
Die Bluse hatte lange Ärmel. Das nahm ihr viel vom Reiz. Ich konnte kein
Hemdchen durch die Bluse hindurch schimmern sehen. Andererseits musste sie
Unterwäsche tragen, weil ich nichts von der Brust der Frau durch den Stoff
erkennen konnte. Ich hatte meine Logik und verstand hier etwas nicht. Während
unseres Gespräches musste ich immer wieder darüber nachdenken und hinschauen,
und wurde davon ständig aus dem Konzept gebracht.
Ich fing
neu an: „Im Grunde genommen möchte ich Sie gerne als Fürsprecherin bei Ihrer
Tochter für mich gewinnen“.
Darauf
ging sie nicht ein, das schien sie sowieso als selbstverständlich angenommen zu
haben.
Sie
fragte deswegen auch nicht nach. Ich glaube, dass sie einfach froh war, dass
sich jemand für ihre Probleme interessierte. Das hatte ich aber gar nicht vor.
Obwohl sie als Frau eher unattraktiv war, strahlte sie während der Unterhaltung
viel Wärme, Persönlichkeit und Eigenart aus. Das nahm mich mehr und mehr von
ihr gefangen. Ihr Äußeres wurde immer unwichtiger. Wenn nur nicht die Bluse
gewesen wäre. Immer wieder musste ich darauf schauen. Selbst wenn sie
hautfarbene Unterwäsche getragen hätte, müsste doch wenigstens, bei derartig
dünnem Stoff, eine Einschnürung auf der Schulter, im Rücken oder aber oberhalb
der Brust zu sehen gewesen sein. Ich konnte aber keine finden. Ich musste der
Mutter klarmachen, dass mein Interesse in erster Linie ihrer Tochter galt und
nicht ihr selbst.
Ich
fragte deshalb so spontan, wie möglich: „Wie alt ist eigentlich Ihre
Tochter?"
„Die?
Die ist jetzt zweiundzwanzig“.
Das
hatte ich nicht vermutet. Da hatte ich mich neulich in der Kantine, ganz schön
verschätzt. Das sagte ich der Mutter aber nicht. Ich sagte nur: „Das ist ja
noch recht jung“.
„Ja, das
sollte man denken. Sie hat aber für ihr Alter einen ziemlichen Verschleiß an
Männern. Das sind wir von ihr so gewohnt. Deswegen haben wir sie auch nicht so
recht ernst genommen. Dass sie den nun aber heiraten will, zwingt uns, sie
ernst zu nehmen. Das schlimmste ist, dass er so viel älter ist als sie. Sie
sagt, und das muss man sich mal vorstellen, dass sie das Gefühl hat, dass der
sie wirklich braucht. Sie sagt, wissen Sie, ich mag das gar nicht aussprechen,
weil es so banal klingt, weil es wie aus einem schlechten Roman zu kommen
scheint. Sie sagt: ‚Ich glaube, jetzt weiß ich, dass ich mein ganzes Leben nur
für ihn da sein möchte’.
Sie
möchte nur noch für ihn da sein. Und das muss ich mir anhören. Sie betreibt das
mit einer Sturheit, die wir an ihr nicht kennen. Er ist immerhin schon
sechsunddreißig“.
Mir
schien er ein junger Springer zu sein, weil ich an mein eigenes Alter denken
musste. Der Mutter aber musste ich einen größeren Abstand zu den Dingen
bestätigen. Sie sah ganz klar, dass dieser Mann für ihre Tochter zu alt war.
Die Mutter hegte ganz andere Vorstellungen.
Ich
sagte: „Ich habe den Eindruck, dass ihre Tochter“.
„Sie
heißt Tanja“.
„Aha,
ein schöner Name. Tanja also“.
Ich war
wieder aus dem Rhythmus gekommen. Diesmal hatte es aber einen anderen Grund.
Ich musste einen Augenblick über den Namen nachdenken. Eine Tanja hatte ich als
Braut gekannt. Nicht als eigene sondern als fremde. Das Brautpaar hatte parallel
zu seiner eigenen Hochzeit noch Hochzeitswerbeaufnahmen im Geschäft meiner
Schwester, einem gutgehenden Juweliergeschäft, machen sollen. Daraus wurde aber
nichts. Die Fotos, allerdings von und mit dem Paar, hatte dann mein Sohn
gemacht, und ich hatte mir spontan vorgenommen, von dem Gesicht des Mädchens,
welches er mit wunderbar niedergeschlagenen großen Augenlidern fotografiert
hatte, eine Zeichnung zu machen. Natürlich, da war die Verbindung: Tanja…
niedergeschlagene Augen… zeichnen… Bild.
Die Verbindung
der beiden war aber nach nur einem Jahr der gegenseitigen Verletzungen in die
Brüche gegangen. Die Fotos habe ich noch, und die Augen haben nichts von ihrem
Anspruch und Ausdruck verloren. Was mich begeistert hatte, war ja nicht die
Braut sondern es waren ihre niedergeschlagenen Augen gewesen. Deswegen geriet
ich nun ins Stocken.
Ich
begann noch einmal: „Ich hatte den Eindruck, wenn ich das sagen darf, dass ihre
Tochter nicht gerade ein sehr ausgeglichener Mensch ist, aber wenn ich nun
höre, was sie vorhat, dann ist das doch sehr konsequent und nicht unbedingt
stur“.
„Im
Moment hält sie fest an dem Österreicher. Und der Moment hält schon ganz schön
lange an. Eigentlich viel zu lange für sie, so dass wir es fast mit der Angst
bekommen“.
„Hat sie
denn einen Job?"
„Sie hat
einen Beruf, ja, den übt sie aber nicht aus. Sie ist ganz schlicht ohne
Beschäftigung. Sie hilft ihm. Er hat eine Spielbude mit Kneipe, verstehen Sie,
eine Glücksspielbude. Er macht den Geschäftsführer. Also nicht, dass ihm das gehört.
Ich glaube eher, er bekommt ein Gehalt oder irgendwie Geld dafür, dass er den
Laden leitet. Immerhin leben die beiden davon und von dem, was sie an
Unterstützung bekommt. Darauf sind sie immer noch angewiesen“.
„Will
sie denn nicht in ihrem Beruf wieder Fuß fassen?"
„Wenn
ich das nur andeute, verliert sie schon die Fassung“.
„Wieso
das denn?“
„Das
können Sie sich von dem lieben Mädchen nicht vorstellen, nicht? Wenn wir davon
reden, wird sie zur Türen schlagenden, ordinären Marktfrau. Dann schmeißt sie
mir und ihrem Vater Wörter an den Kopf, dass wir uns schämen, und kein Wort
mehr sagen können. Aber glauben Sie ja nicht, dass sie das beruhigt. Nein, es
wird immer schlimmer. Sie gerät völlig außer sich und wirft mit allem, was ihr
in die Quere kommt nach uns, an die Wände, gegen Bilder und Schränke, und
wendet sich gegen alles, was sie sieht“.
Das
hörte sich zwar schlimm an, aber ich horchte in mich und war auf eine
merkwürdige Weise erfreut über diese Beschreibung. Nicht nur, dass mein erster
Eindruck bestätigt war, sondern ich bemerkte auch, dass ich mir das insgeheim
so von ihr gewünscht hatte. Gleichzeitig dachte ich: ‚Das ist doch eine
schlimme Seite in mir, mich darüber freuen zu können’. Woher mochte das nur
kommen?
Ich
dachte, dass das Mädchen bei seinen Wutanfällen bestimmt nicht wütend sondern
voller Lust war und von Auftrittssucht beherrscht wurde.
Die
Mutter fuhr fort: „Wenn sie nach so einem Tanz verschwindet oder trotzdem sogar
noch bei uns übernachtet, ist sie hinterher am Telefon oder in unserer
Gegenwart am nächsten Tag nicht nur wie ausgewechselt, sondern es ist, als ob
der liebe Gott einen Engel in unser Haus gesandt hätte, so lieb ist sie,
gefällig, freundlich, hilfsbereit. Sie verbreitet dabei nicht etwa den
Anschein, irgendetwas wieder gutmachen zu müssen. Ganz im Gegenteil. Sie ist,
so wie sie sich gibt, der reinste, unschuldigste Sonnenschein. Man möchte ihr
das eigene Leben schenken dürfen. Sie macht dann jeden zum glücklichsten
Menschen. Sie ist dann buchstäblich bis in die Fingerspitzen hinein fröhlich
und glücklich. Sie versteht es, eine Gefälligkeit von uns als Geschenk
anzunehmen, obwohl doch eigentlich sie etwas in Ordnung zu bringen hätte. Der
Gedanke kommt aber weder ihr noch uns. Sie bleibt über den ganzen Tag sonnig
und auch am Abend ist sie unser Mittelpunkt. Man kann sich nicht vorstellen,
dass sie sich von der einen Sekunde zu anderen so völlig verändert“.
„Na, das
hört sich ja wild an“.
„Sie hat
mir erzählt, dass sie sich bei einer Firma hatte vorstellen müssen, weil man
ihr einen richtigen Job angeboten hatte. Bei denen musste sie sofort anrufen.
Das hat sie auch getan. Dann hat sie mir erzählt, wie es war: ‚Das ist kein Job
für mich gewesen. Hab' ich dem am Telefon gesagt. Damit bin ich aber nicht
durchgekommen. Ich musste mich persönlich bei dem Typen sehen lassen‘. Als mein
Mann und ich davon hörten, waren wir zuerst froh und dann erschüttert, richtig
entsetzt von ihrem Versuch, abzusagen. Als wir aber danach hörten, dass sie
nicht nur hatte hingehen müssen, sondern auch wirklich hingegangen war, hatten
wir uns neue Hoffnungen gemacht. Wir wünschten uns so sehr, dass sie über diese
wackelige Brücke von dem Österreicher loskommen würde. Sie hat dann ganz
aufgeregt weitererzählt, wie das gelaufen war:
Bei dem
Chef der Firma hatte sie ihr Jäckchen an. Die Tätowierungen musste der ja nicht
gleich sehen. Das ist auch nicht zur Sprache gekommen. Der Chef hat sie auf
Englisch angesprochen und sich mit mir unterhalten.
Nach ein
paar Sätzen hat sie ihn auf Deutsch gefragt, ob sie rauchen darf.
Der hat
auf Englisch geantwortet: ‚Yes, if you want, you may smoke’, oder so ähnlich.
Sie hat
ihm geantwortet: ‚Ist mir egal, ich rauche trotzdem’.
Das hat
den nicht gestört. Nach wieder ein paar Sätzen auf Englisch hat sie ihn
unterbrochen und gesagt: ‚Sie können sich ihr ganzes englisches Gerede sparen.
Ich verstehe Sie sowieso nicht. Ich kann nur mein Schulenglisch’.
Das hat
den aber auch nicht aus dem Gleichgewicht gebracht.
Dann hat
sie gesagt: ‚Zu so einen Job habe ich sowieso keine Lust. Ich will jetzt
gehen’.
Da hat
der sie auf Deutsch angesprochen und gesagt: ‚Ich nehme Sie trotzdem’.
Sie hat
ihn aber abblitzen lassen. Zu mir hat sie gesagt: ‚Der war nur ein Angeber und
was der mir geboten hat, war weniger als ein Hungerlohn’.
All unsere
Hoffnungen waren weggefegt“.
Ich
fragte nach: „Was macht sie nun?"
Die
Mutter winkte ab, schaute abwesend zu den anderen Leuten, fand dann aber zu mir
zurück und sagte: „Sie hilft ihm wieder. In seiner Spielbude. Sie können sie ja
dort einmal besuchen. Aber machen sie sich auf einiges gefasst. Die erkennen
Sie nicht wieder“.
„Wenn
ich sie besuchen sollte, ist der Mann gewalttätig?"
„Der?
Nein, überhaupt nicht. Ich sagte doch wie nett und freundlich der ist. Immer
entgegenkommend, höflich, viel zu freundlich. Sie macht da die Bedienung und
läuft entsprechend herum. Ich meine entsprechend wenig bekleidet. Sie soll
richtig eine Anmache abgeben. Alles für ihn, für sein Geschäft, um ihm zu
helfen. Ich kann das nicht begreifen. Und nun will sie ihn auch noch heiraten.
Dabei bin ich fest davon überzeugt, dass das ihre eigene Idee ist. Er macht
natürlich mit. Klar. Warum sollte er nicht. Aber wenn er es sich nun plötzlich
anders überlegen würde, na prost. Dann kann ich mir ausmalen, was passiert.
Zurzeit wohnt sie irgendwie bei ihm, oder sie wohnen irgendwo zusammen.
Manchmal
kommt sie spät abends zu uns und schläft sich zwei drei Nächte hintereinander
aus. Tagsüber ist sie dann auch da. Wenn sie nicht gerade wieder einen
Wutanfall kriegt, ist sie friedlich und außerordentlich bescheiden. Manchmal
schläft sie auf dem Fußboden im Flur, nur, mit einer Decke halbwegs zugedeckt.
Wie ein kleines Mädchen. Aber man darf sie ja nicht richtig zudecken. Das will
sie nicht. Man darf ihr nichts Gutes tun, sie ja nicht bemuttern. Man darf
höchstens ganz vorsichtig aus der Ferne fragen, ob sie etwas möchte. Dann
bleibt sie natürlich und freundlich. Selbst wenn ich ihr Sachen zum Anziehen
oder Gebügeltes anbiete, muss ich schon wieder auf der Hut sein. Ich frage mich
manchmal, wer im Hause eigentlich wem etwas zu sagen hat. Aber was tut man
nicht alles, um des lieben Friedens willen“.
„Aber
den lieben Frieden erreichen Sie ja nicht immer, oder?"
„Das ist
wahr. Ich denke so oft darüber nach, was ich wohl falsch mache. Meinen Sie, ich
könnte mir das erklären?"
Sie
stand auf und half von neuem unter den Kollegen. Als sie zurückkam, sagte sie:
„Ich mach' noch einmal ein paar Tage Urlaub, aber danach versuche ich Tanja zu
erreichen, und sprech' mit ihr. Ich sag' ihr, dass Sie sich mit ihr 'mal
unterhalten wollen. Ist das gut?"
Sie
strahlte mich an, als wäre sie auf einen tollen Einfall gekommen. Ich musste
damit zufrieden sein und hob mein Glas in ihre Richtung, um ihr zuzutrinken.
Die
nächsten Tage vergingen nicht, ohne dass ich mein Telefon im Büro belauerte.
Sicher war sobald noch kein Anruf zu erwarten, aber ich erhoffte einen.
Vielleicht,
so überlegte ich, hat der Zufall seine Hand im Spiel und ich werde schneller an
das Mädchen herankommen, als es mir lieb ist.
Wenn ich
nur irgendwie das Interesse des Mädchens an mir und an meinem Anliegen wecken
könnte. Was hätte es Tanja aber schon bedeuten können, sich von jemandem nach
ihren Beweggründen für die Tätowierungen und damit nach ihrer Vergangenheit
ausfragen zu lassen.
Ich
überlegte auch: ‚Eigentlich hat sie noch gar keine richtige Vergangenheit
aufzuweisen. Was sie im besten Fall hat, sind Erfahrungen, wahrscheinlich mehr
schlechte als rechte. Und wenn ich dem Mädchen gegenüber von Erfahrungen
spräche, würde es mich sowieso missverstehen müssen. Es müsste doch sofort
denken, dass ich es auf seine vergangenen Liebschaften hin aushorchen wollte,
und was das unter Umständen heißen kann, ist ja wohl eindeutig. Sie würde
natürlich denken müssen, dass ich sie für eine Nutte hielt. Tanja würde mir
schon wegen dieser lausigen Frage nach ihrer Vergangenheit ins Gesicht
springen.
Bis
jetzt blieb alles Vermutung. Weder sie noch die Mutter meldete sich bei mir.
Kurz vor
Weihnachten aber wurde ich zu einer weiteren kleinen Weihnachtsfeier
eingeladen. Deswegen rief mich die Mutter an. Sie war zunächst recht förmlich:
„Ob ich Sie einladen darf, ob Sie teilnehmen möchten?"
Natürlich
wollte ich.
„Dann
müssen Sie Geld mitbringen, weil wir jetzt schon die Getränke bestellen müssen.
Wir beginnen nachmittags um drei Uhr. Aber Sie kommen ja immer später, weil Sie
sicher wieder Termine haben“.
„Das
stimmt, aber, ich werde mich beeilen, dass ich nicht zu spät komme. Vielen Dank
für die Einladung“.
Ich
hörte aus dem folgenden, weil sie so bestimmt und so schnell sprach, heraus,
dass sie sich sehr zusammenriss, sich überwinden musste: „Sie sagten doch, dass
ich mit meiner Tochter sprechen sollte. Das hab' ich getan. Sie hat 'mal wieder
bei uns übernachtet. Aber ich habe gar nicht mehr gewusst, was Sie mir neulich
eigentlich erzählt haben, und warum Sie sie überhaupt noch sprechen wollten.
Jedenfalls hab' ich ihr gesagt, dass ich mich um Ihre Telefonnummer kümmern
würde und dann können sie beide ja miteinander telefonieren. Die Telefonnummer
können Sie mir auf der Weihnachtsfeier geben, ja?“
Ich war
herrlich erleichtert, endlich kam etwas in Gang. Ich hätte die Frau durchs
Telefon umarmen können.
„Das ist
ja prima", sagte ich.
Dann bedankte
ich mich noch einmal, auch für ihre Bemühungen und legte auf. Die Frau wusste
anscheinend wirklich nicht mehr, über was alles ich von ihrer Tochter gerne
Bescheid wissen wollte. Bis zur Weihnachtsfeier dauerte es wieder eine
Ewigkeit. Drängen half da nichts. Ich musste mich bescheiden und abwarten.
Meine Termine an dem Tag der Feier waren so eng, dass ich fast nicht mehr
rechtzeitig eingetroffen wäre. Als ich endlich im Büro ankam, wusste ich nicht
mehr, wo das ganze überhaupt stattfinden sollte. Der Gedanke an neue
Nachrichten brachte mich zusätzlich durcheinander. Das Bürogebäude besteht
nämlich aus einem Doppelbau. Will man dort jemanden besuchen, muss man als
erstes erfragen, in welchem Haus derjenige oder diejenige sitzt, Haus H oder
Haus E. So ist das. Draußen, an den Eingangstüren, steht davon nichts. Dort
stehen nur die Hausnummern, Die Regelung H und E ist behördenintern. Niemand
draußen weiß davon. Das Haus in dem ich arbeite, hat zehn Stockwerke, das
andere hat sechzehn. Dazwischen liegt ein Verwaltungsgang. Der ist vielleicht
zweihundert Meter lang.
Als ich
in mein Büro zurückkam, musste ich als erstes im Telefonbuch den Nachnahmen der
Mutter heraussuchen, dann die Hauskennzeichnung herausfinden, und schließlich
die Zimmernummer. An den ersten Zahlen oder der ersten Zahl der Zimmernummer
kann man dann das Stockwerk ablesen und dann hoffen, dass das dort auch
stattfindet. Ich machte mich, so gerüstet, auf den Weg ins andere Haus. Es war,
als ginge ich durch ein stillgelegtes Betriebsgebäude. Aus keinem der Zimmer
waren Geräusche zu vernehmen. Für die normale Arbeit war es schon viel zu spät.
Das war ein großer Vorteil. Leute, die zu einer Feier zusammengekommen waren,
konnte man so, durch das Lachen und auch durch das viele Reden, ziemlich gut
und schon von Weitem hören.
Als ich
im dritten Stock des anderen Hauses angekommen war, vernahm ich nicht nur
Stimmen im Flur, sondern an ihnen auch Ausgelassenheit und eine gewisse
Ungehemmtheit. Hier musste ich richtig sein. Ich klopfte an, ging hinein und
musste mich für einen Augenblick an die fast völlige Dunkelheit gewöhnen. Die
Fenster schienen verklebt worden zu sein, damit kein Licht hineinfallen und
niemand hineinschauen konnte.
Auf dem
Tisch, um den neun Personen wie aus einem finsteren Gemälde saßen, standen zwei
rote Kerzen. Sie flackerten bei meinem Hereinkommen bedenklich zur Seite, so
dass einer der Männer sofort eine Hand schützend um die eine Kerzenflamme hielt
und gleich rief: „Nicht so stürmisch!"
Ich
schloss vorsichtig die Tür. Am Tisch war noch ein einziger Platz frei, direkt
neben der Mutter. Ich hatte sie beim Hereinkommen nicht gleich erkennen können,
weil eine Thermoskanne, die auf dem Tisch sehr dicht an der einen Kerze stand,
einen gewaltigen Schatten auf sie warf. Der verdeckte ihren Körper völlig, fiel
weit über sie hinaus gegen die Registratur in ihrem Rücken und brachte
gleichzeitig zuckende Bewegungen in den Raum.
Dann
schlug die Flamme der Kerze um, und der Schatten gab sie frei. Ich hatte den
Eindruck, in eine Verschwörung geraten zu sein: „Darf ich mich setzen?"
Jemand
antwortete sehr freundlich: „Immer zu".
Dieser
Raum war für mich der Schrecken aller Räume. Es war ein typisches
Behördenzimmer. Hier wurde die Ablage gemacht, hier erstarrte alles Leben zur
Registratur. Es wurden in ihm nicht nur die Lebenden sondern auch die toten
‚Ehemaligen‘ verwaltet. Die mit dieser Arbeit Beschäftigten empfanden es als
normal, auch die Akten der Verstorbenen zu führen. Die wurden dafür kaum
‚bewegt‘. Für mich saßen die Verstorbenen aber als unsichtbare Beobachter auf
jedem der schmalen Hängeordner. Sie schienen sich von dort mit den Lebenden auf
den anderen Akten zu unterhalten.
Die
Toten erklärten den Lebenden tausend unverständliche Sachen: „Außer eurer
jetzigen Pension unterscheidet ihr euch in keiner Weise von uns. Ihr habt genau
wie wir keinerlei Erwartungen mehr. Wir hängen einer wie der andere unbewegt in
den Schränken. Euer Abwarten ist so aussichtslos wie das von uns Toten. Ihr
werdet sehen, wie es ist, wenn ihr eines Tages die Seite wechseln müsst“.
„Und
ihr? Ihr wandert als nächstes von der Registratur in die Ablage, sobald eure
Hinterbliebenen tot sind“.
Die
hüpfenden Schatten machten mir die Sichtbarkeit meiner Gedanken leicht. Sie
gaben ihnen Gestalt und Form. Für Augenblicke schien es mir, als gehörten die
Anwesenden mit zu der Geisterrunde.
Ich
dachte, dass es falsch von mir gewesen sei, hierhergekommen zu sein. Der Raum
zwang dazu, mich mit so unerfreulichen Gedanken zu befassen. Ich fühlte mich
nicht wohl in dieser Runde, und musste trotzdem irgendwie ins Gespräch kommen.
Ich hatte schrecklichen Durst und sagte es.
Fast
dienstbereit stand sofort jemand auf und holte aus privaten Beständen ein
abgekühltes Getränk. Ich spürte, wie die Frische des Saftes mir gut tat und es
mir schnell besser ging. Es beschlich mich sogar eine gewisse Zufriedenheit.
Ich hatte mein Ziel klar vor Augen. Sobald es die Gelegenheit erlaubte, würde
ich versuchen mit der Frau neben mir ungestört zu reden.
In
dieser Runde musste ich aber damit rechnen, dass jedes Wort von mir von allen
auf jeden möglichen und unmöglichen Zusammenhang hin überprüft werden würde.
Die Leute schienen einfach zu neugierig zu sein. Man würde sich sofort über
Neues und Unbekanntes, das ich vielleicht sagte, den größten Spekulationen
hingeben. Das lag daran, dass hier normalerweise wirklich nichts passierte. Bei
diesen Menschen würde es niemals eine Sensation in der Arbeit, niemals
Grundberührung, mit Gefühlen geben können.
Ich
musste also Vorsicht walten lassen.
Ich
beschloss deshalb zu versuchen, in. einem lockeren Gespräch eine allgemeine
Ablenkung zu erreichen und versuchte mein Glück.
Als ob
aber meine Gedanken von allen vorausgeahnt worden waren, schienen sie geradezu auf
meine Versuche zu warten. Bei meinem ersten Wort erstarb jedes weitere
Gespräch.
Die
Augen flogen herum, als ich nur fragte: „Ist der Kuchen selbstgebacken?"
Das letzte Wort flüsterte ich nur noch, so sehr hatte ich mich über die
Aufmerksamkeit erschrocken. Für mich stand fest, solch ein Kuchen konnte nur
selbstgebacken sein. Kein Konditor würde es wagen, Topfkuchen anzubieten, in
welchem die Rosinen sich nur im oberen Drittel des umgestürzten Kuchens
befanden. Das waren eben Hausfrauenart und Hausfrauenmöglichkeit. Für mich war
das Stopfkuchen, aber ich würde mich schön hüten, das zu sagen. Ich ließ mir
ein Stück geben, aß davon und ließ einen großen Rest davon unangetastet. So
brauchte ich mir danach nicht mehr neu zu nehmen. Jede aufmerksame Hausfrau
würde das mit Trauer feststellen. Hier war das aber nicht so. Ich machte noch
einen anderen Ansatz und erzählte vom Wetter draußen: „Es hat zu schneien
begonnen und es regnet gleichzeitig. Es ist ganz schön glatt, feucht und
unangenehm kalt. Meine Kleidung ist ganz nass geworden“.
Ich
erzählte anfangs mit eigener Anteilnahme, weil ich es gerade erlebt hatte.
Meine Hosenbeine waren immer noch durchfeuchtet. Die Aufmerksamkeit der Zuhörer
ging aber so über jedes Maß des normalen Zuhörens hinaus, dass mich das
verunsicherte.
Ich
stand schließlich als Fremder neben mir und hörte auf mein eigenes belangloses
Gerede. Ich wollte herausfinden, was hier eigentlich los war. Ich begann die
Mutter aus den Augenwinkeln zu beobachten.
Sie saß
locker, etwas nachlässig auf ihrem Stuhl und sah in die Runde. Sie betrachtete
einzeln die Gesichter, eines nach dem anderen, mit einem leicht grinsenden,
abwertenden, fast verächtlichen Ausdruck. Ich konnte mir den nicht erklären.
Die
Feier zog sich so über etwa eine Stunde hin. Dann waren die Getränke, ein
Punsch, den man warm trinken sollte, zu Ende oder kalt. Es musste Nachschub
beschafft werden, Reste sollten aufgewärmt werden. Eine allgemeine Unruhe
entstand und meine Nachbarin erhob sich. Sie verschwand hinter den Akten und mir
völlig aus dem Blick. Die Dunkelheit verschluckte sie. Wie es hinten aussah,
konnte ich nicht erkennen. Wenn ich ihr jetzt spontan gefolgt wäre, hätte es
Gesprächsstoff in der Runde gegeben. Deshalb blieb ich sitzen. Ich traute mich
nicht aufzustehen.
Nun
handelte aber die Frau nach ihrer Eingebung und machte sich hinter den
Schränken, dort, wo sie herumhantierte, das Licht an. Jeder hätte, ohne
aufzufallen, zu ihr gehen können.
Ich
sagte halblaut in die Runde: „Mal sehen, ob ich helfen kann", stand auf
und ging hinter die Regale.
Sie war
dort mit Umfüllen beschäftigt und von mir nicht überrascht. Ich kam gleich zur
Sache: „Wie steht's denn mit Ihrer Tochter? Ich habe meine Telefonnummer
aufgeschrieben und Tanja einen Zettel in den Umschlag gelegt“.
„Ja,
gut. Ich werde ihr das geben, wenn sie 'mal wieder bei uns schlafen sollte. Das
wird aber wahrscheinlich sehr lange dauern, wenn sie sich überhaupt bei uns
wieder sehen lassen wird“.
Sie
machte eine bedeutungsvolle Pause. Von den anderen hörte ich kein Sterbenswort.
Sie schienen mit den Riesenohren des Gerüchtes hinter den Schrankecken zu
lauern. Die Frau hatte keine Bedenken. Sie sprach ganz normal, fast ein wenig
zu laut. Wer von den anderen ein wirkliches Interesse an unserem Gespräch
gehabt hätte, musste mühelos wenigstens alles, was die Frau sagte, mitbekommen
können. Ich wartete, weil ich sah, dass sie mit dem Umfüllen beschäftigt war.
Schließlich
war sie soweit: „Sie hat schon wieder Scheiß gebaut“. Es war, als flöge mit
ihrem Satz eine Faust auf meine Kinnspitze. Einmal in meinem Leben habe ich,
aber das war in Wirklichkeit passiert, einen solchen Faustschlag erhalten. Im
ersten Augenblick schmerzte er nicht. Ich empfand ihn damals sogar als eine
wunderbare Erleichterung, sackte zusammen, und das Bewusstsein ging auf Reisen.
Der letzte Gedankenfunke vor der Ohnmacht war gewesen: ‚Du bist hilflos. Du
tauchst ein in ein Nichts. Wunderbare Kräfte heben dich an. Alles ist sanft und
gut. Da siehst du es, Tun und Handeln haben keine Aussicht. Das hättest du
schon viel früher begreifen können‘. Damit war ich weggetreten.
Jetzt
sah ich die Mutter entgeistert an. Ihr erging es beim Erzählen offenbar nicht
viel besser als mir. Sie nahm mir trotzdem den Umschlag aus der Hand und sagte:
„Sie hat einen Unfall gehabt“.
„Oh
Gott“.
Ich
hauchte das nur so hin. Sie sah mir voll ins Gesicht und sah meinen Schrecken:
„Ja, es ist schlimm. Sie war kurz nacheinander ein zweites Mal zu uns gekommen.
Dabei hat sie erzählt, dass sie einen Unfall gebaut hätte. Wir haben nicht
einmal zu fragen gewagt, mit wessen Wagen sie gefahren ist. Dann habe ich aber
einen Fehler begangen.
Als sie
am nächsten Morgen aufgestanden war, nein, sie lag noch auf dem Fußboden unter
ihrer Decke, und ich musste zur Arbeit, habe ich gefragt, ob sie die Polizei
geholt hätte...
Na, das
hätten Sie erleben sollen!
Ich habe
es in meiner eigenen Wohnung keine Minute länger mehr ausgehalten. Ich wollte
ja wissen, ob es Verletzte gegeben hatte, wessen Auto das gewesen war, wer
mitgefahren war und so weiter. Na, Sie wissen ja, was man alles fragen möchte.
Sie war nicht zu bändigen. Unser Hundi ist auch gleich geflohen.
Ich kann
nicht sagen, wie lange ihr Anfall diesmal gedauert hat, aber wenn er vorüber
ist, schnappt sie sich immer den Hund und heult in sein Fell. Ist das nicht
rührend? Das ist doch süß, oder? Also, wenn ich nur daran denke, kann ich ihr
schon nicht mehr böse sein“.
‚Die
Frau macht Gedankensprünge’, schoss es mir durch den Kopf. ‚Anscheinend ist dem
Mädchen aber nichts passiert. Gott sei Dank’. Mir lief ein richtiger Schauer
über den Rücken. Ich stellte mir vor, wie das Mädchen Zuhause vor Zorn tobte
und fünf Minuten später den Hund mit seinen Tränen einnässte. Wenn das nicht
ein Aufschrei nach Liebe war.
„Nach
ein paar Tagen hat ein Mann bei uns angerufen und nach Tanja gefragt. Ich
konnte ihm nicht sagen, wo sie sich aufhält. Eine Telefonnummer hatte ich auch
nicht, und am Telefon gebe ich sowieso keine Auskunft. Das wollte der Mann auch
alles nicht.
‚Lassen
Sie das Mädchen nur wissen, dass der Unfall beobachtet worden ist. Man hat ihre
Fahrzeugnummer festgehalten. Sie ist persönlich als Fahrerin erkannt worden.
Sie hat Unfallflucht begangen’.
Ob sich
Tanja bei uns so bald wieder sehen lassen wird. Ganz schwer zu sagen. Ich gebe
ihr dann den Brief von Ihnen. Man wird sie doch schon an der
Personenbeschreibung wiedererkannt haben. Wie einfältig sie noch ist“.
Die
Mutter schüttelte den Kopf. Sie hätte vielleicht noch mehr erzählt, aber es
waren zwei Gesichter neben uns erschienen, und es wurde gefragt, wie lange das
denn noch dauern würde.
Es fiel
sonst keine Bemerkung darüber, dass ich mit ihr hier hinten gestanden hatte. Es
schien, als wäre es für alle selbstverständlich. So traf ich auch beim
Zurückkommen auf wohlwollende, freundliche, verständnisvolle Gesichter, auf
zustimmende Blicke.
Hinten
wurde das Licht wieder ausgemacht.
Ich gab
mich dieser eigenartigen Stimmung hin und machte keinen weiteren Versuch, mit
ihr zu reden.
Ich
trank noch ein wenig von dem Punsch und fühlte mich unvermutet in diese kleine
Gemeinschaft einbezogen. Trotzdem wurde ich das Gefühl nicht los, in eine
Verschwörung geraten zu sein. Jetzt allerdings mit dem Gefühl, selbst
dazugehören zu müssen.
Tanjas
Mutter hatte bereits ein drittes Mal versucht, mich zu erreichen. Ich erfuhr es
durch Zufall, weil meine Zimmernachbarin aufmerksam gewesen war, und ich an
deren Personenbeschreibung herausbekam, dass sie es gewesen sein musste. Ich
war gleich aufgeregt und hätte am liebsten durchs Telefon gefragt, ob sie
Neuigkeiten für mich hätte. Ich nahm mich aber zusammen und gab nur Bescheid,
dass ich im Büro zu erreichen sei.
Es
dauerte nicht lange, dann kam sie herüber.
Sie
hatte anscheinend nur Dienstliches, was noch im alten Jahr erledigt werden
sollte. Beim Hereinkommen machte sie ein geschäftsmäßiges Gesicht und hatte
eine Akte unter dem Arm, dass mir alle Hoffnungen auf Nachrichten schwanden.
Sie sprach mit einer übertriebenen Hektik von Dingen, die mich nicht sonderlich
interessierten. Ich musste aber trotzdem gut zuhören, um sie später richtig
ausführen zu können. Ob es nun an den augenblicklichen Umständen, an einem
vielleicht zu kärglichen Frühstück oder an meiner nervlichen Überanstrengung
lag, ich kann es nicht beurteilen, jedenfalls wurde mir von einer Sekunde zur
anderen sehr übel. Ich musste mich am Tisch festhalten, um nicht vom Stuhl zu
stürzen. Schweiß stand auf meiner Stirn und sicher sah sie, dass ich kreideweiß
geworden war.
Von
ihrer Tätigkeit im Altenheim her hatte sie es wohl gelernt, mit solchen Situationen
fertig zu werden. Jedenfalls hatte sie im Handumdrehen meine Beine auf einen
zweiten Stuhl gelegt und stützte mich im Rücken wohltuend ab. Zwischen ihrem
Körper und meinem war die Stuhllehne, das spürte ich wohl. Trotzdem durchfloss
mich eine warme Geborgenheit, als ich ihre Arme unter den meinen verspürte. Sie
war sicher Ersthelferin, denn diesen Griff hatte ich selbst häufig genug geübt.
Es trat
für mich eine Sekunde des tiefsten Friedens ein.
Ich wünschte
mir, in einer höchst persönlichen Abartigkeit, jetzt ganz schnell zu sterben.
Wünsche dieser Art gehen nicht in Erfüllung. Das weiß ich. In Erfüllung geht
aber die Befriedigung, die man in solchen Augenblicken herbeisehnt.
Schutzbedürftigkeit und Liebessehnsucht spielen dabei die größte Rolle.
Wenn ich
wünschte, so sterben zu können, dann war das gleichzeitig die Sehnsucht, in
einen weiblichen Schoß sinken zu dürfen, in nie erlebte kindliche Gefühle
entfliehen zu können. Nie erlebt bei mir deshalb, weil das Verhältnis zwischen
mir und meiner Mutter aus Berührungslosigkeit und Schlimmerem bestanden hatte.
Als Kind
hatte ich nicht ein einziges Mal einen Kuss von ihr bekommen. Ich konnte mich
an nicht eine einzige Umarmung von ihr erinnern. Meine Mutter trug zu allem
Überfluss, und das wurde für mich zu einem schlimmen Teil unauslöschlicher
Erinnerung, ihre heißgeliebte Wildlederjacke zum Ausgehen. Diese Jacke
verursachte bei mir aber bei der kleinsten Berührung, ja schon bei dem
Gedanken, aus Versehen an sie zu geraten und viel schlimmer noch, bei dem
Gedanken an die Jacke selbst und damit an meine Mutter, die ich bald mit der
Jacke verwechselte, eine Gänsehaut, ein schroffes Nichtanfassenmögen. Das wurde
von meiner Mutter mit mir unverständlichem Gelächter beantwortet. Meine Mutter
berührte mich niemals liebevoll. Meine Geschwister und ich wuchsen in
innerlicher Verwahrlosung auf. Nur so kann man es mit der heutigen Einsicht
eines Erwachsenen beschreiben.
Eine
Befriedigung meiner körperlichen Sehnsucht nach Berührung erreichte ich nicht.
Es entstand eine Gier nach Weichheit, Wärme, Anmut, ruhigen und beruhigenden
Worten. Ich übte mich in dem vergeblichen Bemühen mit allen Menschen, die mir
nahe standen, in enge körperliche Beziehung zu kommen. Es entstanden dabei
schreckliche Missverständnisse und das Missverhältnis eines ungelenken Umganges
mit körperlicher Nähe, der Liebkosung des Körpers eines anderen, eines
geliebten Menschen, und der gleichzeitigen Übertriebenheit im
Allesnehmenwollen, endlich Besitzenkönnen einer Zuwendung, und der bitteren
Erfahrung, dass Liebe nur geschenkt werden kann. Immer wieder musste ich diese
Grenze, das Abgewiesenwerden, erfahren.
Mit dem
Verstand, dass sich Liebe nicht erzwingen lasse, erfuhr ich den Umgang mit ihr
dennoch nicht anders, als dass ich sie mir zu erkämpfen hatte. Ich erlernte
keinen anderen Umgang, als Liebe kaputt zu lieben, blutig zu lieben.
Unter
diesem Widerspruch litt ich unsäglich. Die Einsicht für das Falsche meines Tuns
reichte eben nicht aus. Ich vermochte auch nicht, aus dieser Schraube alleine
herauszufinden. Mein Körper reagierte anders als ich es von ihm wünschte. Das
wiederum führte zu zunächst hölzernem und dann zu viel zu starkem Liebestun im
Zusammenleben mit meiner Frau. Das führte zu übertriebener Zärtlichkeit zu
meinen Kindern. Das führte zu einem krankhaften Bedürfnis, etwas Unbestimmtes
wieder gutmachen zu müssen, ohne zu wissen, was es denn sei oder wo dafür der
Anfang war. Das führte zu persönlicher Erniedrigung, zu Selbstbestrafung durch
unnötigen Verzicht auf schöne, süße Sachen.
Es
führte zu quälerischer Eifersucht.
Meine
Nächte entwickelten mit drangvollen Träumen ein Eigenleben. Gerade vor den
Nächten hatte ich Angst.
Ich traf
mit meiner Frau, ohne ihr das Warum großartig zu erklären, die Vereinbarung,
dass sie mich nachts, wenn ich im Schlaf um Hilfe schrie, was sie oft nur als
unartikulierte Laute wahrnahm, wecken musste.
Sie
musste mir so, wie ich sagte, ‚das Leben retten'.
Ihre
berechtigten und neugierigen Fragen: „Sag' mir wenigstens was oder wovon du
geträumt hast“, oder „wovor hast du bloß diese Angst“, konnte und wollte ich
nicht beantworten. Über die Gründe war ich mir ja auch nicht sicher. Sicher war
nur meine dauernde Angst.
Erlebte
ich nun dieses Aufgefangenwerden, wie im Büro durch Tanjas Mutter, dann wurde
das Gefühl des Verlassenseins übermächtig. Es schlich sich einerseits der
Wunsch ein, endlich zu leben und angenommen zu werden, wie ich es immer ersehnt
hatte, und andererseits bauten sich die bitteren Erfahrungen, die
Enttäuschungen und das eigene Unvermögen davor auf. Das Schöne dieses
Erlebnisses war nicht zu bewahren und nicht in die Zukunft hinüber zu retten.
Ein schöner Tod bietet sich so als das Erhabenste an, was es zu erlangen gilt.
Die Verantwortung dafür lege ich außerdem in andere Hände und zwar, oh höchstes
Glück, in die Hände einer Frau. Sie mache ich zu meiner Mörderin. So nehme ich
gleichzeitig Rache und verteile Schuld.
Dieser
genussvolle Augenblick der Geborgenheit ist gleichzeitig Strafe für lebenslangen
Liebesvorenthalt, unter dem ich gelitten habe und vielleicht noch leide. Diese
Strafe trifft mich selbst, sie ist süße Selbstquälerei, weil sie das Entbehrte
spürbar macht.
Tanjas
Mutter stand in meinem Rücken und sagte, ohne mich weiter nach meinem Befinden
zu fragen: „Sie wollten doch so viel von Tanja wissen. Ich kann Ihnen ja
einiges aus ihrer Vergangenheit, ich meine aus ihren Aufenthalten bei uns zu
Hause, erzählen. Im Moment habe ich etwas Zeit“.
Sie
musste bemerkt haben, wie diese Sätze mich aufhorchen, ja beinahe gesunden
ließen, wie mir die Farbe wieder ins Gesicht stieg.
Ich
suchte nach Worten, um mich bei ihr für meinen Schwächeanfall zu entschuldigen.
Das schien sie aber überhaupt nicht zu interessieren. Sie setzte sich auf den
Stuhl, von dem ich inzwischen meine Beine wieder herunter genommen hatte und
rückte ihn eng, sehr eng an mich heran, so dass ihr Kopf weit vorgestreckt,
etwa eine Handbreit, von dem meinen entfernt war. Sie holte aus einer Akte, die
sie bei sich hatte, ein Foto heraus. Ich war völlig überrascht, dass sie sich
ganz offenbar auf ein Gespräch mit mir vorbereitet hatte. Also kam doch noch
etwas. Mich erfüllte tiefe Dankbarkeit. Es fehlte nicht viel, und ich hätte ihr
die Hand geküsst. Das ist so eine Angewohnheit von mir, mit der ich meine Frau
das eine oder andere Mal, zum Beispiel während einer langweiligen Autofahrt,
ohne vorherige Ankündigung überrasche. Die lässt es sich dann wortlos gefallen.
Ihr gestehe ich dann immer noch zusätzlich: ‚Du bist meine wahre Königin’.
Soweit
durfte und wollte ich bei Tanjas Mutter natürlich nicht gehen, aber das
Bedürfnis dazu war da. Es war meine Dankbarkeit, der ich keinen Ausdruck zu
verleihen wusste.
Als sie
das Bild aus der Akte zog, lag ihr Gesicht. schon fast an meiner Wange. Sie
wollte gleichzeitig mit mir darauf schauen. Ihre körperliche Wärme strahlte zu
mir herüber. Mein Verstand aber sagte: ‚Bleib ganz ruhig. Wärme ist etwas
völlig Unpersönliches, mein Lieber’.
Ich
konnte wunderbar auf und über ihren Rücken schauen und fand dort eine sanfte,
ich nenne es immer gotische Linie der Bewegung. Vom Halswirbel verlief sie
zwischen den Schulterblättern über den Rücken in die Hüfte und tiefer bis in
den Sitz. Schon die Tatsache, dass diese Schwingung nur bei einem weiblichen
Körper so möglich ist, versetzte mich in Hochstimmung. Hinzu kam, dass ich der
einzige Zuschauer eines Minibruchteile-von-Sekundenballettes war und es zu
genießen wusste.
Ich war
glücklich.
Niemandem
wird man solche Augenblicke in der Kürze der Zeit, in welcher sie entstehen und
in der man sie erlebt, erklären können. Immer wieder werden auch andere diese
Sekunden höchster Empfindsamkeit erleben und als ein Geschenk, fast als ein
Geheimnis empfangen. Als ein Geheimnis auch deswegen, weil die Schönheit des
Erlebten durch keine noch so gute Schilderung erreicht werden kann.
Ich
zwang mich, auf das Foto zu schauen. Ich konnte nichts erkennen. Natürlich
hatte ich Tanja erwartet. Was ich aber sah, war ein kleiner Hund, der aus einer
Wohnstube zu laufen schien. Er befand sich gerade zwischen der halb offenen
Tür. In dem Zimmer selbst sah ich eine braune Wolldecke, die auf dem Fußboden
offenbar über etwas hochstehendes, vielleicht einen umgekippten Stuhl, gezogen
war.
Ich war
enttäuscht.
Ich
schaute die Mutter an.
Sie
lächelte mütterlich: „Das ist Tanja, wie sie leibt und lebt“.
Sie
überließ mir das Foto und lehnte sich selbstsicher und ein wenig genüsslich
zurück: „Das Bild hab' ich gemacht, als Tanja guter Laune war. Sie müssen genau
hinsehen. Sie ist unter der Decke. Sie spielt mit ihrem Hund. Hundi heißt er
bei ihr. Den richtigen Namen benutzt sie nicht. Ich weiß nicht, wie sie darauf
kommt, aber sie sagt, solange man nicht weiß, wie der Hund richtig heißt, und
sie meint unter Hunden richtig heißt, nennt sie ihn Hundi. Hunde, sagt sie,
haben wie alle Tiere eine Seele. Eine reinere Seele als die Menschen.
‚Sie
fragen nicht nach Zwecken’, sagt sie.
Die
Mutter machte eine kleine Pause.
Dann:
„Als Tanja einmal mit dem Hund spielte, das erzähl ich Ihnen aber nur, damit
sich Ihr Bild von dem Mädchen abrundet, sagte sie, und ich weiß auch nicht, wie
sie darauf kam. ‚Die Tiere wollen außerdem nicht immer gleich ficken. Alle
Männer wollen das. Ich will das auch. Aber Tiere wollen das nicht immerzu. Das
unterscheidet sie doch von uns. Das macht sie reiner’.
Was soll
ich als Mutter dazu sagen“.
Sie fuhr
dann weiter fort: „Tanja hat lange mit dem Hund gespielt. Sie sagte: ‚Hunde
haben den Umgang mit dem Menschen gern. Sie sind auch seelisch mit den Menschen
verwandt worden’.
Stellen
Sie sich das vor: die Hunde sind nicht mit dem Menschen verwandt, sondern ‚sie
sind seelisch mit den Menschen verwandt worden’. Verstehen Sie das?
Sie
zieht sich zum Spielen mit dem Hund eine braune Decke über den ganzen Körper
und will nur ihrem Hundi näherkommen.
Sie
sagt: ‚So seh' ich ihm ähnlicher und er erkennt dann besser meine Absicht’.
Sie
spielt mit dem Hund auf dem Fußboden. Er läuft vor ihr davon. Das sieht man
gerade auf dem Bild. Sie schließt dann die Tür von innen, aber nicht ganz, und
wartet bis der Hund sie vermisst und wieder herein will. Sie bellt unter der
Decke und ruft ihn: ‚Hundi, Hundi, such mich. Hundi, komm' zu mir’.
Wenn sie
ihn erwischt, nimmt sie ihn mit unter die Decke und kuschelt mit ihm und
knuddelt ihn.
Sie ruft
dann immerzu. ‚Du bist so süß, du bist so süß, du bist mein Knuddelhundi’.
Sie
krabbelt auf allen Vieren hinter ihm her, wenn er vor ihr Reißaus nimmt.
Manchmal hält sie ihn auch unter der Decke fest. Dann ist alles still und ich
höre nur, wie sie mit ihm flüstert. Sie erzählt ihm Sachen, die niemand sonst
hören soll.
Wenn wir
hinzukommen, bleibt sie völlig ungestört. Manchmal habe ich Angst, weil sie mit
ihren zweiundzwanzig Jahren doch zu alt für solche Spiele ist. Ich werde mich
aber hüten, etwas davon zu ihr zu sagen. Vielleicht holt sie ja etwas aus ihrer
Kindheit nach. Wer kann das wissen.
Dabei
ist ihre Schwester genau wie sie erzogen worden. Bei der läuft aber alles ganz
normal. Die würde nie auf solche Einfälle kommen. Die nennt den Hund beim
Namen, und wenn sie mit ihm spielen will, dann nimmt sie ihn an die Leine und
geht mit ihm aus.
Tanja
hat das noch nie getan.
Sie
sagt: ‚Das könnte ich nicht, das will ich nicht und das mach' ich nicht’.
So, nun
wissen Sie etwas mehr über meine Tochter.
Ich muss
jetzt wieder 'rüber. Das Bild können Sie behalten, wenn sie wollen. Ich lass
mich zwischendurch mal wieder sehen, denn es wird sicher lange dauern, bis sich
Tanja bei mir melden wird. Vielleicht fällt mir ja noch 'was ein. Dann melde
ich mich. Es gibt noch viele solche Begebenheiten mit ihr, aber im Augenblick
sollte ich wirklich wieder 'rübergehen“.
Die
Redefreudigkeit der Frau war mein Glück. Natürlich bedankte ich mich für das
Gespräch.
Das Bild
wollte ich auch behalten: „Ich geb' es Ihnen später wieder“.
Wenn ich
ganz genau auf das Bild schaute, konnte ich tatsächlich einen Rücken unter der
braunen Wolldecke vermuten. Zu Hause habe ich das Bild mit einer großen Lupe
millimeterweise abgesucht und dabei ein Stück von Tanjas Handgelenk erkannt.
Wenn
mich nicht wirklich alles, alles täuschte, war es das linke Handgelenk, und ich
konnte den Schriftzug ‚Tanja' entziffern. Ich vergrößerte noch weiter mit einer
kleinen Lupe, die auf die große geklebt war. Zum Schluss war ich ganz sicher:
auf ihr linkes äußeres Handgelenk war das Wort ‚Tanja' tätowiert.
In den
letzten Tagen zwischen Weihnachten und Neujahr lief in der Behörde alles auf
Sparflamme. Wenn ich in den Gängen herumirrte, weil es mir immer noch
schwerfiel, mich dort zurechtzufinden, dachte ich manchmal, in einem riesigen
Schloss, einem verwunschenen hässlichen Gemäuer zu sein.
Vor den
Eingangstüren allerdings war eine große Einkaufspassage, die mit einer Länge
von etwa fünfhundert Metern in zwei Etagen, das Leben von der modischen, der
verschwenderischen und der verarmten Seite, gerade zu dieser Jahreszeit
besonders reichlich, zeigte. Hier gab es Leben.
Schlagartig
aber, hinter den doppelten Türen, erstarb alles, jede Geschäftigkeit, jedes
Geräusch, jedes aufgeregte oder lässige Tun. All das, was eine Einkaufsstraße,
mit den vielen Möglichkeiten, stehen zu bleiben, zu schauen oder vorbeizueilen,
ausmacht, nämlich einfach Lebendigkeit zu empfinden, blieb draußen.
Ich traf
in diesen Tagen auf wenige Kollegen. Genaugenommen konnte ich nur zwei
erreichen. Umso mehr überraschte es mich, als Tanjas Mutter bei mir anrief.
Diesmal
sagte sie gleich: „Tanja hat sich über Weihnachten bei uns sehen lassen. Ich
habe wieder ein Foto gemacht. Wenn Sie daran interessiert sind..“
Natürlich
war ich das.
Sie nahm
mein Angebot, zu ihr ins Büro zu kommen, nicht an, sondern bestand darauf, zu
mir kommen zu können. Wenn ich an ihre Registratur dachte, dann schien es mehr
als verständlich, dass sie jede Gelegenheit nutzte, um dem dunklen, freudlosen
Raum mit den ewig am gleichen Platz hängenden Akten zu entfliehen. Sie ließ
auch gleich durchblicken, dass sie alleine im Büro wäre und heute sowieso
nichts los sei: „Heute will bestimmt keiner Akten aus der Registratur“, sagte
sie, „und wenn, dann kann er sich unter Ihrer Telefonnummer melden. Ich hänge
einen Zettel an die Tür und komm' dann rüber“.
Das war
mir sehr recht. Kurze Zeit später traf sie ein und begann gleich zu erzählen.
Sie schien mir bedrückt zu sein, sich Sorgen zu machen, aber nicht in der Art,
wie man sich Sorgen um die Zukunft seines Kindes macht. Es ging also sicher
nicht um die Hochzeit von Tanja mit dem Österreicher, sondern es schien um
etwas zu gehen, was man schon mit Angst beschreiben musste. Das war auch der
Grund, warum ich, ein wenig fürsorglich, sie zunächst fragte, ob sie einen
Kaffee haben wollte.
Sie
sagte: „Ja, bitte".
Das
brachte mich wiederum in Verlegenheit, weil ich gar keine eigene Kaffeemaschine
hatte sondern nun gezwungen war, die Maschine meiner abwesenden Kollegin zu
benutzen. Alles, was ich brauchte, musste ich mir erst zusammensuchen. Das
dauerte seine Zeit, die sie aber mit Erzählen nutzte.
„Tanja",
fing sie an, „hat sich bei uns am zweiten Feiertag sehen lassen. Wir hatten
nicht damit gerechnet. Ich hatte aber vorsorglich ein Geschenk für sie besorgt.
Recht machen kann man ihr schon gar nichts, deswegen ist es gleich, was man
kauft. Ich hatte aber das Gefühl, dass ich ihr einmal etwas besonders Schönes
schenken sollte. Leider hatte ich nicht gleich den richtigen Einfall.
Ich habe
also überall herum gesucht und fand ganz zum Schluss, in einem
Lederwarengeschäft, eine wunderbare Tasche. Sie hatte viele Fächer,
Reißverschlüsse, einen langen und zwei kurze Trageriemen und hatte als
Besonderheit ein Schloss mit Schlüssel, so dass man mit diesem Schloss die
ganze Tasche verriegeln konnte. Die Tasche sah jugendlich aus. So eine Tasche
hatte bestimmt in der ganzen Stadt keine einzige. Dass sie aus Leder war, würde
Tanja hinnehmen, weil sie eigentlich nur an diesen Dingen das Modische
verlacht. Wenn man ihr also etwa Schönes und zugleich Praktisches schenkt,
welches auch noch eine ganz persönliche Note hat, dann kann man bei ihr Glück haben.
Der Verkäuferin habe ich erzählt, dass es ein Geschenk für ein junges Mädchen
sei. Das hat die so geschäftig werden lassen, dass sie sich eine extra
Verpackung dafür ausdenken wollte“.
Ich
hatte inzwischen den Kaffee aufgesetzt, und hörte am Glucksen in der Maschine,
dass das Wasser nun wohl durch den Filter gelaufen sein musste. Ich füllte den
Kaffee in einen doppelten Pappbecher, bot Tanjas Mutter Zucker und Milch an,
was sie beides ablehnte, und nahm mir selbst. Ich stand dann noch einmal von
meinem Stuhl auf, um die Maschine abzuschalten. Es waren immer noch
Kochgeräusche zu hören. Die verstummten nur langsam.
Tanjas
Mutter stellte ihren Kaffee auf den Tisch und trank nicht davon. Ich sagte
nichts dazu. Vielleicht war er ihr ja noch zu heiß.
Sie fuhr
dann fort: „Die Verkäuferin war ein ältere Dame, die mir alle Möglichkeiten
einer Verpackung zeigte. Ich merkte sofort, mit wie viel Lust und Begeisterung
die das machen wollte.
Erst
einmal schlug sie die Tasche in ein wunderschönes, gar nicht weihnachtliches,
aber sehr milde schimmerndes, dunkelbraunes Papier. Sie zeigte mir dann eine
Vielzahl von Rollen mit Bändern. Jedes davon war etwa fünf Zentimeter breit. Es
war reine, feste Seide. Als Verpackungsmaterial war es geradezu
verschwenderisch, es war richtiger Luxus.
Dazu
gehörten noch etwa halb so breite andersfarbige Bänder, wiederum auf etlichen
Rollen, auch aus Seide.
Sie
empfahl mir nun eine Farbe von einer großen Rolle und passend dazu einer von
einer kleinen.
Ich
sollte auswählen.
Ich
dachte mir, dass die Frau voller Einfälle steckte und überließ ihr die
Zusammenstellung. Das hat sie sehr gefreut. Eine Kollegin von ihr, vielleicht
war es auch die Chefin, holte noch einen anderen Kollegen hinzu, um sich das
entstehende Meisterwerk mit anzuschauen. Ausgewählt hatte sie breites schwarzes
Band und schmales goldenes. Das band sie nun so geschickt nur über zwei Ecken
dieses eigentlich recht großen Paketes, dass daraus ein noch größeres, ja ein
wirklich großzügiges Geschenk wurde. Auf der Vorderseite entstand eine
wunderschöne große Schleife mit mehreren Schlaufen, in welche sie den
schmaleren Goldstreifen einbezog. Die Verpackung alleine war schon ein Geschenk
und sehenswert.
Darüber
freute ich mich.
Ich sah
es auch gerne, dass sie nicht diese kitschigen Weihnachtsfarben ausgewählt
hatte. Ich hätte niemals die Einfälle dazu gehabt und auch nicht die
Geschicklichkeit dieser Frau. Über das ganze zog sie eine sehr weite Tüte und,
nachdem ich das Kunstwerk samt Inhalt bezahlt hatte, drückte sie mir alles in die
Hand und ich zog davon. Mein Geschenk für Tanja hatte ich ja nun. Ich war
gewappnet. Tanja selbst schenkt auch manchmal etwas. Aber ich könnte mich, wenn
Sie mich jetzt danach fragen würden, an wirklich kein einziges Geschenk von ihr
erinnern. Das ist doch eigenartig, finden Sie nicht?"
Sie
trank nun von dem Kaffee, ich tat das gleiche. Irgendwie, fand ich, zog sich
ihre Erzählung in die Länge. Das mochte sie meinem Gesicht abgelesen haben,
denn sie sagte: „Das Schlimme kam, ohne dass Tanja selbst es merkte. Am zweiten
Weihnachtstag, das sagte ich ja, tauchte sie plötzlich bei uns auf. Sie war
fröhlich, ausgelassen wie nie, begrüßte ihren Hundi und hatte für jeden von uns
eine Kleinigkeit. Sehen Sie, nun erinnere ich mich an diese Geschenke
wenigstens. Sie brachte mir eine Porzellanbrosche mit, die sie wohl auf einem
Weihnachtsmarkt gekauft hatte. Ihre Schwester bekam eine Holzschachtel. Darauf
stand: ‚Mein erster Zahn’.
Ihrem
Vater schenkte sie ein Männermagazin mit einem riesigen aufklappbaren nackten
Mädchen drin und dann hatte sie noch einen Hundekuchen für ihren Hundi. Sie
schien mit dem ganzen Körper zu strahlen. Jede ihrer Bewegungen war wunderbar
anzusehen. Sie machte uns froh und glücklich, einfach durch ihre Gegenwart. Wir
wollten sie möglichst lange an uns binden, ich jedenfalls, und deswegen zögerte
ich mein Geschenk für sie hinaus. Nach dem Abendbrot holte ich aber dann doch
die große Tüte und zog das wunderbar verpackte Paket daraus hervor.
Ich
sagte: ‚Du, Tanja, das ist für dich, von deinen Eltern’.
Sie
schaute sich einen Augenblick lang das Paket an, drehte es nach allen Seiten
hin und her und sagte: ‚Das find' ich toll!' Dann nahm sie die schwarze
Schleife von dem Paket ab und hängte sich die als Schärpe über die Schulter und
quer über den Oberkörper. Vorne hingen die goldenen Fäden aus der großen
Schleife heraus“.
Tanjas
Mutter holte nun ein Foto und gab es mir.
Tatsächlich
stand das Mädchen in Fotografierpose mit der Schärpe, wie eine frisch gekürte
Königin, und ließ sich aufnehmen. Noch bevor ich aber diese Einzelheiten auf
dem Bild wahrnahm, lief mir beim ersten Anblick des Mädchens ein Gefühl über
den Rücken, als stünde ich ohne ausreichende Kleidung an einem Wintertag auf
der Straße.
Ich
hatte von Tanja den Eindruck, als trüge sie eine Trauerschärpe, als wäre sie zu
Gast auf einer feierlichen Beerdigung.
Etwas
Ähnliches hatte ich kürzlich bei einer kirchlichen Trauung erlebt. Dort hatte
man den freien Weg vom Eingang zum Altar mit kleinen Blumensträußen an den
höchsten Stellen der Sitzbänke geschmückt. Das mochte noch angehen. Dann waren
aber links und rechts neben dem Altar fast die gleichen Kerzenständer und
hochstehenden Blumengebinde aufgebaut gewesen, wie ich sie von einer
Friedhofskapelle her kannte. Es hatte ausgesehen, als wären sie direkt von dort
entliehen worden.
Die
Gäste waren geschockt gewesen und in entsetztes Schweigen verfallen. Jeder, sah
den anderen betreten an, verständigte sich so wortlos über das zu Sehende. Nur
die Brautleute und die Brautmutter waren ganz offenbar unbeeindruckt.
Jetzt,
mit Tanjas Foto in der Hand, sagte ich: „Ja, das ist sie. Aber sie hat ihr
Jäckchen an. Ich sehe nichts von ihren Tätowierungen. Wirklich, von ihren
Tätowierungen ist überhaupt nichts zu sehen!"
Sie nahm
mir das Bild wieder aus der Hand, schaute darauf und bemerkte: „Das stimmt.
Darauf habe ich überhaupt nicht geachtet. Aber sonst, fällt ihnen sonst nichts
auf?"
Sie gab
mir das Bild mit großen Augen zurück. Ich traute mich nicht, meine Empfindungen
zu sagen.
Sie
sprach weiter: „Sehen Sie nicht, wie sie sich in Trauer hüllt? Die Schärpe wird
an ihr doch zum Trauerflor. So schmückt man Bilder von Verstorbenen, so ein
Band trägt man im Trauerfall am Jackettkragen oder zieht ihn sich durch ein
Knopfloch. Ich weiß gar nicht, wie ich es beschreiben soll. Es ist doch
entsetzlich. Als ich das Foto machte, habe ich das entdeckt. Ich habe sofort
versucht, ihr die Schärpe wieder abzumachen.
Sie hat
nur gelacht: ‚Endlich kann ich auch `mal eine Schärpe tragen. Ich bin eine
Königin. Für heute Abend bin ich gekrönt. Die darf mir keiner wegnehmen’. Ich
traute mich auch nicht, ihr die Bedeutung einer schwarzen Schärpe und meine
Angst zu erklären.
Sie
sagte: ‚Das Paket will ich gar nicht mehr haben. Mit der Schärpe habt ihr mir
eine solche Freude gemacht. Das könnt Ihr Euch gar nicht vorstellen’.
Sie
tanzte mit ihrer Schärpe herum, und ich sah, buchstäblich, wie der Tod hinter
ihr stand und seine Hand nach ihr ausstreckte. Ich konnte kaum noch etwas
sagen. Den ganzen Abend lag ich auf der Lauer. Wenn sie die Schärpe nur einen
Augenblick abgelegt hätte, hätte ich sie sofort beiseite genommen und
versteckt.
Sie
behielt sie aber um und sagte noch: ‚Die werde ich den ganzen Abend
umbehalten’.
Sie ist
nicht geblieben, sondern hat uns spät in der Nacht wieder verlassen und zu
meinem größten Entsetzen mit der Schärpe. Sie hat sie einfach an sich behalten
und mitgenommen. So glücklich war sie noch nie. Noch von der Straße hat sie
zurückgerufen: ‚Ich bin eine Königin, eine Königin mit einer Schärpe’. Und sie
war wirklich eine Königin an dem Abend.
Ich habe
mir aber die Hände vors Gesicht gehalten, weil ich doch Schuld war an dem
ganzen.
Ich
leide so schrecklich darunter. Meinem Mann konnte ich nichts davon sagen. Das
brachte ich einfach nicht fertig. Der hätte mich nur ausgelacht.
‚Das
kommt alles von deinem dummen Aberglauben’, hätte der gesagt. Und er hätte
recht. Ja, ich bin abergläubisch. Aber, wer ist das nicht? Ist doch jeder,
oder? Sind sie nicht abergläubisch?"
Mein
Gott, wenn sie wüsste... Ich lebe in tiefster Religiosität und suche dauernd
das Gespräch mit meinem Gott. Dabei halte ich es wie die Könige aus dem Alten
Testament. Die hatten auch jemanden, der ihnen Gottes Willen verkündigte.
Deshalb denke ich, dass Gott mit mir spricht und dass ich nur auf die
Augenblicke achten muss, wenn es dazu kommt.
Das kann
das Horoskop der Tageszeitung sein, das kann die Bemerkung eines
Außenstehenden, den ich kenne oder den ich nicht kenne, sein. Es kann wie hier,
dieses Foto sein. Dadurch spricht mein Gott zu mir. Ich weiß nur nicht, ob ich
ihn immer richtig verstehe.
Ich
wollte nicht wahrhaben, darin ein böses Vorzeichen für das Mädchen zu sehen.
Zu
Tanjas Mutter sagte ich deswegen: „Sicher ist jeder Mensch irgendwie
abergläubisch. Es ist sehr gut, dass Sie Tanja nichts von ihren Gesichtern
erzählt haben. Es könnte ja auch etwas Gutes bedeuten. Vielleicht soll sie
irgendwie eine Königin werden. Wer weiß das, wer kann das sagen. Wahrscheinlich
sind Sie wegen der dauernden Sorge um Tanja überreizt. Ich finde es auch gut,
dass Sie sonst niemandem davon erzählt haben“.
Es war
sehr schwer, die Frau zu beruhigen. Ich selbst hatte ein ungutes, ein
beklemmendes Gefühl in der Magengegend. Ich konnte mir vorstellen, wie die Frau
gelitten hatte, wie sie versucht hatte, mehrfach vielleicht, unter einem
Vorwand dem Mädchen die Schärpe zu entwenden: ‚Kind dir wird doch viel zu warm
darunter’, oder ‚nun kannst du sie doch wohl wieder abnehmen, oder?' Ich ahnte,
wie sie sich angstvoll bemüht haben musste, die schwarze Schlange vom Hals
ihrer Tochter fortzubekommen.
Als ich
fragte, ob ich dieses Foto auch behalten dürfte, schob sie ihre aufgerichteten
flachen Hände so heftig in meine Richtung, als wollte sie mit dieser Geste auch
das ganze Entsetzen, dass auf ihr lastete, mir mit in den Schoß schütten:
„Behalten Sie es, behalten Sie es. Behalten Sie auch alles was ich Ihnen
erzählt habe für sich, und machen Sie mit dem Bild, was Sie wollen“.
Sie
stand dann auf, ging zur Tür und blieb dort stehen. „Ach, sonst habe ich Tanja
nichts von Ihnen sagen können“.
„Ich
verstehe. Das hätte auch wirklich nicht gepasst. Aber vielen Dank, dass Sie
daran gedacht haben. Vielleicht erinnern Sie sich ja noch an etwas Harmloses.
Ich meine, was Tanja betrifft“.
„Ja, ja,
ich denke nach. Irgendetwas Positives vielleicht“.
„Sicher
ist Ihr unangenehmes Gefühl bald wieder vorüber“.
Sie ging
aus der Tür.
Gleich
darauf erschien sie wieder und fragte: „Sind Sie denn morgen auch noch im Büro?
Wenn es Ihnen recht ist, besuche ich Sie noch 'mal. Den Kaffee mach' ich dann
aber, und Kuchen für uns beide bring' ich auch mit“.
Ich fand
das in Ordnung und ließ sie es wissen.
Nicht
ganz in Ordnung fand ich, dass sie mit meinen Kaffeekochkünsten und mit meiner
kümmerlichen Gastfreundschaft offenbar so wenig zufrieden war. Aus Kuchen mach'
ich mir wenig. Ich hätte auch nicht daran gedacht, ihr welchen anzubieten.
In ihrer
Stimme lag zwar keinerlei Vorwurf, sie wollte es aber anders machen. Das sollte
mir ebenfalls recht sein. Hauptsache, ich würde mehr über Tanja erfahren
können.
Sie
verließ nun endgültig das Zimmer.
Ich sah
noch lange auf das Foto, das wie ein fremder Gegenstand auf meinem Tisch lag
und hatte mehr und mehr den Eindruck, vor dem Bild einer Toten zu sitzen. Es
schien, als wäre mir das Foto zur Erinnerung an sie geschenkt worden.
Am
vorletzten Tag des alten Jahres kam Tanjas Mutter morgens gegen zehn Uhr zu mir
herüber. Sie hatte die Hände voll mit einer Tüte, einem Papierpaket, zwei Tellern,
zwei Tassen und zwei Untertassen. Sie hatte auch Teelöffel dabei und fächerte
ihre Schätze, nach einem kurzen „Guten Morgen“, hausfraulich vor uns auf.
Das sah
ich gerne.
Sie
fragte: „Sie mögen doch Kuchen?"
Ich
antwortete brav: „Ja“.
Das
klang sicher nicht sehr überzeugend.
Ich
glaube, dass sie einfach wusste, dass ich mir nichts daraus machte, denn sie
sagte, ohne meine Antwort richtig abzuwarten: „Ich hab' nun 'mal welchen
mitgebracht. Sie sollten daran riechen“.
Damit
hielt sie mir die geöffnete Tüte unter die Nase. Es roch köstlich, verlockend,
nach Bäcker, nach einer Straße auf der man unvermutet die Gerüche einer
Backstube wahrnimmt. Aus ihr roch es nach Küche, in der gebacken wird, und es
roch nach Zutaten, die so schnell nicht zu erraten waren.
Das
Geräusch der knisternden Tüte weckte Erinnerungen an Tage aus meiner Jugend,
die ich nicht genau zuordnen konnte, an Überraschungen, an Sätze wie: „Warte,
du bekommst gleich etwas ab..." und andere Versprechungen aus dem Mund
einer Frau, die mit ihrer Hand schon in der Tüte war, die dann selbst kurz
abbiss und die Köstlichkeit herüberreichte.
Woher
kam meine Ablehnung dieses Gebäckes, wenn ich so viel Angenehmes mit ihm
verbinden konnte. War es der Trotz, die Auflehnung gegen eine mir feindliche Welt,
immer noch Selbstbestrafung?
Konnte
ich es immer noch nicht vertragen, aus der Hand, die mich nicht lieb haben
konnte, schöne Dinge annehmen zu müssen; wenn ich mich noch bei dem Gedanken,
aus der Hand, von der ich gestreichelt werden wollte, von der ich
Angenommenwerden ersehnte, mit Essen abgespeist zu werden?
Mein
Gott, würde das denn nie aufhören? Und, was konnte diese Frau dafür. Die
Gerüche und alles fächerten noch einmal gedankenschnell süße Augenblicke aus
längst vorübergezogenen, jugendlichen Tagen auf. Sie erinnerten mich an die
vielen, vielen Gelegenheiten deutlicher Zuneigung anderer, die ich ungenutzt
vorüberstreichen ließ, in denen ich mich denen, die es gut mit mir meinten,
einfach verweigerte. Zum Beispiel, wenn jemand einmal freundlich, mit der
Absicht, mich zu berühren, auf mich zukam. Was machte ich für einen Aufstand,
bei einem harmlosen Wangenkuss, den ich bekommen sollte. Und wie stellte ich
mich erst an, wenn dieser jemand auch noch ein Mann war. Dagegen war die
Geschichte mit dem Kuchen geradezu harmlos. Wollte mich jemand freundschaftlich
umarmen, dann erstarrte ich zu einem steifen Brett.
Nein,
nein, mein Lieber, das ist nicht die Schuld des Kuchens, nicht die Schuld eines
Wangenkusses, nicht die Schuld der Männer und nicht die Schuld einer Umarmung.
Das alles sind innere Verwahrlosung und die Unfähigkeit, der etwas
entgegenzusetzen.
Es ist
höchstpersönliches Versagen, damit nicht umgehen zu können, nicht einmal den
Versuch gemacht zu haben, den Umgang damit zu erlernen.
So etwas,
wie hier, passiert immer wieder. Und wer musste das ausbaden? Natürlich ein
Unbeteiligter. Jemand also, der mit meinen Problemen überhaupt nichts zu tun
hatte.
Tanjas
Mutter legte jedem von uns ein Stück Kuchen auf den Teller. Sie nahm noch
kleine Papierdeckchen, die sie unter die Teller schob. Es wurde immer
gemütlicher. Der Kaffee duftete. Heute nahm ich den Duft wahr, gestern war es
mir überhaupt nicht aufgefallen. Ich achtete sogar auf die Geräusche beim
Einfüllen. Es gab Milch für mich dazu.
Tanjas
Mutter fragte noch in Stehen: „Habe ich Ihnen erzählt wie Tanja und ich
kürzlich am Flughafen waren, und dort meinen Mann abholen mussten?“
„Nein,
ich glaube jedenfalls nicht“.
„Na
also. Tanja trudelte so mir nichts dir nichts bei uns ein, und ich war im
Aufbruch. Ich musste ja zum Flugplatz, meinen Mann abholen. Sie sagte sofort:
‚Da komm' ich mit’.
Gut, das
war mir recht. Zum Flughafen ist es nicht weit. Wir waren viel zu früh da. Das
ist meistens so.
Wir
haben uns etwas zu trinken geholt und mit den Bechern in der Hand in den
Warteraum gesetzt. Dort waren wir nicht die einzigen. Aber es war auch nicht zu
voll. In unserem Rücken befanden sich Telefonzellen. Diese halben Kästen, bei
denen die eigenen Beine im Freien stehen.
Ich habe
mir sagen 1assen, dass man das mit Absicht so eingerichtet hat, weil sich so
ein gewisser Sex-Appeal aufbauen lässt. Glauben Sie das? Durch das Betrachten
der Beine von Frauen, die dort telefonieren, sollen diese eine enorme
Anziehungskraft erreichen. Auch Männer, die dort stehen, können so hemmungslos
gemustert werden. Eine derartige Telefonzelle wird ganz bewusst als
Ausstellungsort für Menschen verwendet. Ich finde diese Überlegungen
überraschend“.
„Da kann
'was Wahres dran sein“.
„Wie dem
auch sei. Nach einiger Zeit haben wir bemerkt, dass eines der Telefone immerzu
klingelte.
Tanja
stand auf, sah dort hin und sagte: ‚Geht denn keiner ran?'
Ich zu
ihr: ‚Tanja, wenn es keinen betrifft, braucht doch auch keiner ran zu gehen’.
Darauf
sie: ‚Das kann der oder die doch nicht wissen’.
Ich
fragte sie: ‚Wer’.
‚Na, der
oder die am anderen Ende‘.
Sie
hatte recht. Aber ein fremder Anrufer in einem Anruftelefon würde sich doch
nicht für Fremde interessieren können. Das sah Tanja aber anders.
Sie
fragte laut in die Runde: ‚Erwartet jemand von Ihnen einen Anruf?’
Sie hat
das gleiche auf Englisch ausgerufen, aber keiner hat sich gemeldet oder
irgendwie reagiert. Nicht einmal hochgeschaut hat jemand.
Ich
sagte zu ihr. ‚Komm setz dich wieder, du siehst doch, niemand erwartet den
Anruf“.
Tanjas
Mutter saß mir gegenüber an der anderen Schreibtischseite. Ich hatte begonnen,
den Kuchen zu verzehren. Er war sehr frisch, und es fielen mir beim Abbeißen
kleine Stückchen des Blätterteiges von den Lippen auf meine Hose und auf den
Tisch. Wir tranken unseren Kaffee. Tanjas Mutter beobachtete mich und die
abstürzenden Krümel sehr genau, sagte aber nichts dazu.
Sie
erzählte dann weiter: „Tanja setzte sich nicht wieder zu mir, sondern sie
sagte: ‚Dann sag' ich es ihm’.
Ich:
‚Wem’.
‚Na dem
Typen an der Strippe’.
Das
Klingeln, hörte nicht auf. Es war geradezu nervig. Sie ging bin und nahm den
Hörer ab.
Später
hat sie mir erzählt, dass jemand unbedingt einen bestimmten Autoverleih des
Flughafens hatte haben wollen. Er war selbst unterwegs und hatte einzig, wegen
einer völlig anderen Geschichte, diese Rückrufnummer unter seinen Nummern
finden können. Er sah sich also gezwungen, es solange klingeln zu lassen, bis
jemand den Hörer abnehmen würde. Das war nun Tanja. Er erzählte ihr sofort,
dass er dringend Hilfe, Unterstützung benötigte. Er musste unbedingt die
Telefonnummer dieser Autovermietung im Flughafen erfahren und sagte zu ihr:
‚Die steht nicht im Telefonbuch. Sie brauchen dort gar nicht erst
nachzuschauen’.
Er
erklärte ihr, dass sie, obwohl es ein Ferngespräch sei, doch freundlicherweise
nicht auflegen sollte, sondern in die andere Halle 'rübergehen und dort direkt
am Schalter der Vermietung die richtige Telefonnummer erfragen sollte.
Er wurde
in der Leitung bleiben, bis sie wieder da wäre. Sie sollte ihm bitte die
richtige Nummer besorgen.
Tanja
hatte einen Bleistift zur Hand und kritzelte auf einen Papierrest den Namen der
Firma.
Dann
rief sie mir zu: ‚Pass einen Augenblick auf das Telefon auf, dass niemand den
Hörer auflegt, und verschwand im Gang zur anderen Halle.
Ich
wusste nicht, was man da von ihr verlangt hatte und stellte mich unwillig in
die Box an den Hörer.
Dass sie
weglief, fand ich unerhört. Ich konnte nicht auf meinen Mann warten und
gleichzeitig den Hörer bewachen.
Es
dauerte und dauerte.
Das
Flugzeug meines Mannes war schon längst gelandet, und sie traf und traf nicht
wieder ein. Mich beruhigte etwas, dass mein Mann von alleine nicht so schnell
den Flughafen verlassen würde. Er würde versuchen, bei uns Zuhause anzurufen
und wenn er feststellte, dass niemand an den Apparat ginge, annehmen, dass ich
unterwegs wäre, um ihn abzuholen.
Trotzdem
ärgerte es mich, dass ich hier, wegen einer Sache, die mich wirklich nichts
anging, festgenagelt war. Nach etwa fünfzehn Minuten kam Tanja zurück. Sie ging
gleich an den Apparat, gab die Nummer durch, freute sich noch am Apparat über
den netten Gesprächspartner und legte endlich auf.
Ich
drängte jetzt. Mein Mann würde sicher schon ungeduldig werden. Sie aber war die
Ruhe selbst.
'Mami’,
sagte sie, 'geh doch schon zu. Ich komm' nicht mehr mit. Grüß Papi von mir. Sag
ihm, er ist ein Schatz!' Und war schon an der Tür, an dieser gläsernen
Automatiktür, die sich sofort wieder hinter einem schließt. Durch die Scheibe
winkte sie noch zurück und war weg.
Das
verschlug mir die Sprache, obwohl ich Ähnliches von ihr gewohnt bin. Meinem
Mann habe ich nichts davon erzählt; nicht einmal, dass sie überhaupt
mitgekommen war. Das hätte er nie verstanden“.
Ich
fragte nach: „Hätte er es nicht verstanden, dass sie mitgekommen oder dass sie
wieder weggelaufen ist“.
„Darüber,
dass sie zum Flughafen mitgekommen ist, hätte er sich wohl gewundert, dass
hätte ihn sicher auch gefreut. Wer wird als Vater schon nicht gerne von seiner
Tochter abgeholt. Aber wenn ich ihm dann erzählt hätte, dass sie wieder auf und
davon war, hätte ihn das sehr betrübt. Das hätte er nicht verstanden. Ich kann
es übrigens auch nicht verstehen“.
Ich
dachte über das Mädchen nach. Vielleicht war es nicht wegen des Vaters mitgegangen,
sondern wegen der Aussicht, etwas ganz und gar Unvorhergesehenes oder
Unbeabsichtigtes zu erleben. Würde etwas passieren, hätte sie einen Grund, zu
sich zu sagen: ‚Siehst du, das war es, deswegen bist du mitgegangen, nicht
wegen deines Vaters also’.
Den
Grund würde sie vor sich gelten lassen und ihn nutzen. So brauchte sie sich
nicht mehr einzugestehen: ‚Ich entziehe mich meinem Vater, um ihn dafür zu
bestrafen, dass er sich mir immer entzogen hat. Auf diese Weise wurde ihr
Handeln für sie folgerichtig und verlangte ihr keine zusätzliche Entscheidung
mehr ab.
Sie
konnte nun mit reinem Gewissen sagen: ‚Ich habe meine Aufgabe erfüllt, meinen
Auftrag erledigt, nun kann ich wieder gehen’. Ich glaubte zu wissen, warum sie
ihren Vater nicht hatte sehen wollen. Sie hatte es nicht gelernt, auf eine
Bestrafung der Erwachsenen, die ihr die Liebe verweigert, die ihr wehgetan
hatten, zu verzichten.
Der
Vater war für sie das Stück Kuchen, durch das sie köstlichste Erinnerungen
erfuhr, das zu essen sie aber aus alter Erfahrung ablehnte. Es konnte sie nicht
befriedigen. Es erfüllte nicht ihre Wünsche und nicht ihr Sehnen. Sie wusste
sehr gut, dass sich Gewesenes nicht zurückholen ließ, dass dies kein Film war,
den man rückwärts laufen lassen konnte.
Letzten
Endes stand sie sich immer selbst im Weg, denn diese wiederkehrende Einsicht
traf sie stets unvorbereitet.
Das
waren Momente, in welchen sie sonst mit Türen schmiss und Dinge in der Wohnung
ihrer Eltern zu zerstören suchte, um die Eltern die Bestrafung hautnah
miterleben zu lassen. Diese Momente wurden ihr zu schmerzhaftem Lieben.
Ich
verstand Tanja sehr gut und versuchte, ihre Gedanken zu Ende zu denken. Es
könnte sein, dass Tanja vom Flughafen aus direkt in die Wohnung der Eltern
zurückgekehrt war, um dort Unheil anzurichten.
Deswegen
fragte ich, so vorsichtig es ging, nach: „Ist Tanja danach wieder in Ihre
Wohnung zurückgekehrt?"
„Ja, das
musste sie, weil sie einen Beutel mit ihren Sachen abgestellt hatte“.
„Und?
hat sie sich dort irgendwie ausgetobt oder so?"
Tanjas
Mutter antwortete mit völligem Erstaunen: „Nein, doch nicht, wenn wir nicht im
Hause sind. Nein, nein. Das macht sie nur vor Publikum. Sie muss doch wirken,
sie muss sich doch in Szene setzen. Sie braucht ihren Auftritt. Nein, da kann
ich ganz sicher sein, wenn wir nicht da sind, stellt sie nichts an“.
Das
hatte ich so erwartet. Tanja hatte keine Wut gegen die Türen und Möbel der
Eltern, und Zerstörung an sich wollte sie auch nicht.
Sie
würde sich jetzt in ihr Schneckenhaus zurückziehen.
Nach einiger
Zeit würde die Sehnsucht nach den anderen wieder überhand nehmen und so stark
über sie kommen, dass sie sich einreden würde, schon der Anblick der von ihr so
geliebten Menschen müsste sie befriedigen. Sie würde dann hervorkommen als der
glücklichste Mensch von der Welt, Zuhause auftauchen und alles, alles begönne
von vorne.
Sie
hofft in ihrer übertriebenen Lebensfreude auf kleinste Zeichen, kleinste
Liebesbeweise, hofft auf Unerwartetes aus den Händen der anderen, um
feststellen zu müssen, dass nichts passiert.
Sie
würde sich für diese falsche Hoffnung wieder bestrafen wollen, und, in eine
karge Decke gehüllt, erneut auf dem Fußboden schlafen. Sie wird sich der
Verschwiegenheit des Hundes erneut anvertrauen, in kindlichsten Spielen,
versteckt unter einer Wolldecke, in einer Höhle, versuchen, ein wenig
Geborgenheit zu finden.
Es ist
dann ihr Betteln: ‚Habt mich lieb, ich bin ja noch so klein’.
Bei
einem einzigen verkehrten Wort gerät sie schließlich in Wut und möchte am
liebsten alles in Schutt und Asche legen.
Der
Gedanke an dieses Mädchen quälte mich sehr. Ich spürte besonders das Qualvolle
in dem Unabänderlichen, an der sturen Wiederholung des ganzen.
Ich
empfand, wie schwer sie es hatte. Ihre Wunden waren so deutlich. Ich kannte
mich an ihnen aus.
Tanjas
Mutter war seit ein paar Minuten damit beschäftigt, das wenige Geschirr in
einem kleiner Handwaschbecken abzuwaschen. Sie hatte sich dazu von einem Boiler
im Flur heißes Wasser geholt und war fleißig.
Ich
fragte, ob ich beim Abtrocknen helfen sollte. Das schien sie nicht hören zu
wollen.
Sie
sagte: „Es ist nicht gut, wenn ich Ihnen nur, so wie gestern, trübselige
Geschichten von ihr erzähle. So etwas, wie auf dem Flughafen, ist doch
lebensfroher, nicht wahr?
Würden
Sie an ein Telefon gehen, das nun wirklich nicht für Sie bestimmt ist? Na,
sehen Sie. Aber Tanja hat da keine Hemmungen. Sie ist auch schon mal an einen
Taxenstand gegangen, weil es dort unentwegt klingelte. Sie hat denjenigen
beruhigt und gesagt, dass im Augenblick kein Taxi da wäre. Er sollte es später
noch einmal versuchen. Also, ich persönlich wüsste gar nicht, wie so eine
Telefonschaltung an einem Taxenstand funktioniert“.
Sie
packte ihre mitgebrachten Sachen wieder zusammen, wischte den Schreibtisch noch
ein wenig ab und machte Anstalten zu gehen. Mir fiel nichts Besonderes mehr
ein.
Deswegen
sagte ich: „Wenn Sie den Kaffee kochen, wird es gleich gemütlich im Raum. Bei
mir war es gestern, zugegeben, recht kümmerlich“.
Ich
fragte nach: „Bin ich Ihnen denn kein Geld schuldig?"
Sie
zögerte eine Sekunde. Deshalb sagte ich schnell: „Nehmen Sie bitte dies von
mir. Das muss auf jeden Fall reichen. Wenn es zu viel sein sollte, können Sie
den Rest in die Freud- und Leidkasse stecken“.
Ich
wusste von dieser Kasse und dass sie die führte. Sie nahm das Geld, bedankte
sich, und alles war in Ordnung. Sie verabschiedete sich und kam nicht zurück.
Es waren
aber kaum zehn Minuten vergangen, da erhielt ich einen Anruf von ihr: „Ich habe
ganz vergessen Sie zu fragen, ob Sie morgen auch im Büro sind. Wir könnten uns
dann doch noch ein letztes Mal zusammensetzen.
Ich
könnte Ihnen zur Abwechslung einiges über die Essgewohnheiten von Tanja
erzählen. Vielleicht erkennen Sie sich ja sogar wieder“.
„Ich
mich? Wie kommen Sie denn darauf?"
„Na,
dass Sie ein komplizierter Esser sind, das merkt eine Frau doch auf hundert
Meter“.
Ich war
verblüfft und musste lachen.
Ich
sagte nur: „Bringen Sie wieder Kuchen mit?"
„Ja,
natürlich. Der hat Ihnen doch geschmeckt, oder?"
„Stimmt.
Also, dann bis morgen“.
Konnte
es sein, dass diese Frau es verstand, ein wenig in mein Herz zu schauen?
Tanjas
Mutter hatte mich also wenigstens in einem Punkt erkannt oder durchschaut.
Ihr war
mein komplizierter Umgang mit Essen aufgefallen. Nicht zuletzt sicher dadurch,
dass auch ihre Tochter eine dauernd unzufriedene Esserin war. Sie hatte einen
Blick dafür bekommen. Wenn ich an die erste Begegnung mit Tanja dachte, und es
war die bis jetzt einzige gewesen, dann sehe ich sie immer noch wahllos in
ihrem Essen herumstochern, lustlos. Trotzdem vielleicht hungrig, nur nicht auf
dieses Essen, auf diese Abspeisung.
Warum
sie sich dabei an dem Tisch so herum geräkelt hatte, wurde mir immer klarer.
Sie wand sich um die Notwendigkeit des Essens von Essbarem.
Es
klingt absurd und wird ihr sicher nicht gerecht, aber wenn ich sie richtig
einschätzte, hätte sie alles mit Freude gegessen, wenn sie von der Mutter
einfach gefüttert worden wäre. Sie hätte sicher auch gegessen, wenn sie von ihr
aufmunternde Worte zu hören bekommen hätte: Nun iss mein Kind, solange das
Essen noch warm ist‘, oder: ‚Das wird dir schmecken, du bekommst auch einen
Nachtisch. Den kannst du dir selber aussuchen’.
Tanja
sehnte sich weder nach Essen noch nach Trinken, sondern nach der Speise, die
man nicht auf einen Teller legen konnte. Sie sehnte sich jedes Mal, wenn sie
richtiges Essen zu sich nehmen musste, nach einer Liebesspeisung, nach
Anerkennung, wenigstens dem Anflug einer Zärtlichkeit.
Es hätte
genügt, ihr die Hand beruhigend auf den Rücken zu legen und ihr irgendetwas zu
erzählen. Ein Märchen wäre vielleicht richtig gewesen. Ich weiß es nicht, aber
ich denke mir das so. Mir fehlte nicht die Parallele zu mir selbst.
Ich
erinnerte mich bei mir an eine fast über ein Jahr anhaltende Fresslust, die das
genaue Gegenteil zu sein schien.
Ich
hatte sie nicht ohne weiteres wieder ablegen können.
Damals
befand ich mich in einem völlig anderen Dienstverhältnis. Dort hatte ich zwar
als Neuling begonnen, brachte aber so viel umsetzbare Erfahrung mit, dass sich
die Kollegen und die Vorgesetzten überrollt und überfahren fühlten. Sie ließen
mich das vom ersten Tag meiner Tätigkeit an spüren und scheuten sich nicht,
mich deswegen auch direkt auszusprechen und es mir vorzuwerfen: „Sie glauben
wohl, Sie sind der große Zampano", sagte einer und ähnliche Dinge mehr.
Etwa vom
zehnten, zwölften Tag meiner Tätigkeit an, und zwar regelmäßig schon vor der
Mittagspause, überfiel mich diese Fresslust. In der Mittagspause herrschte
Burgfriede. Man sprach möglichst nicht über die Arbeit, und da ich ohnehin
meistens mit der einzigen mir wohlgesonnenen Kollegin zu Tisch ging, gab es
damit keine Probleme. Für mich war es zu der Zeit unerklärlich, dass ich mit
Heißhunger auf die Mittagspause wartete. Ich wurde unruhig, wenn ich mich
verspäten musste und wählte mir das Essen schon nach ganz kurzer Zeit nicht
mehr nach dem Aussehen, sondern nach der Menge aus.
Das war
sonst nicht meine Gewohnheit.
Normalerweise
gehe ich lieber zweimal am Stand mit den ausgestellten Essen vorbei und schaue
in aller Ruhe. Dabei frage ich mich fortwährend, ob ich mir auch vorstellen
kann, dieses Essen ganz aufzuessen oder ob ich doch lieber, sicherheitshalber
sozusagen, ein anderes nehmen möchte. Das wurde hier schlagartig anders.
Das
allerschlimmste, und das konnte ich mir überhaupt nicht mehr erklären, war,
dass ich vom Mittagstisch keinesfalls gesättigt aufstand sondern mit dem
Gefühl, nichts im Magen zu haben, auf die Straße trat. Es zog mich, als wäre es
wirklich anders nicht möglich, mit aller Kraft in die nächste Konditorei.
Ich
bestellte dort sofort zwei Stücke Kuchen und eine Tasse Kaffee. Mein Kollegin
hatte das anfangs ganz gelassen abgetan: ‚Alles Frust. Der ist in ein paar
Tagen vorüber’.
Sie
irrte. Es war jeden Tag gleich schlimm. Es hörte nicht auf, und meine frühere
Abneigung gegen Kuchen und Süßes war wie weggeblasen. Ich konnte sie mir nicht
einmal mehr vorstellen. Mein Heißhunger war mir unerklärlich. Ich geriet in die
Abhängigkeit meines maßlosen Hungergefühls.
Ich
hätte in der Zeit an Gewicht zunehmen müssen. Obwohl ich mich früher nie darum
gekümmert hatte, prüfte ich nun täglich, wie schwer ich war. Es tat sich aber
nichts. Mein Gewicht blieb gleich, und ich aß und aß und wurde nicht satt.
Mein
Gott, wenn ich heute an die Zeit zurückdenke, fallen mir wirklich nur Hunger
und meine Lust auf Süßes ein.
Ich habe
dort nicht lange durchgehalten und die Tätigkeit schnell aufgegeben. Von dem
Tage an, an welchem ich wechselte, waren mein Appetit, Hunger und meine
Ablehnung von Kuchen und Süßem wieder wie eh und je.
Ich kann
mir heute noch vorstellen, wie schrecklich es war, und genieße es wieder, mir
mein Essen erst nach kritischem Aussuchen zu bestellen.
Das
alles fiel mir ein, bevor Tanjas Mutter bei mir erscheinen wollte, um über die
Essgewohnheiten ihrer Tochter mit mir zu reden. Sie hielt ihr Versprechen und
kam bepackt, wie beim ersten Mal, und bereitete unser Frühstück zu.
Ich
begrüßte sie und freute mich über ihr Kommen.
Sie
sagte: „Heute brauchen Sie nichts zu bezahlen, das reicht noch für mindestens
dreimal aus. Also kein Wort von Geld“.
„Ist
gut“, sagte ich.
Helfen
ließ sie sich wieder nicht.
Sie
erzählte dann: „Wissen Sie, wir haben seit Jahren gute Bekannte. Meistens
besuche ich die Leute ohne meinen Mann. Ich geh' dann allein dort hin. Tanja
war noch nie dabei gewesen. Sie wusste aber sehr genau von den Besuchen und
auch, wer die Leute waren. Einmal wollte sie mit, ganz freiwillig. Ich hatte
nichts dagegen einzuwenden.
Sie war
sehr aufgeschlossen und unterhielt sich gut mit ihnen. Nachmittags fragte sie
unvermutet, aber höflich, nach einem Stück Brot, weil sie Hunger hätte.
Wissen
Sie, das fand ich dumm, weil wir gerade und ausführlich Kaffee getrunken
hatten. Kuchen hatte es auch reichlich gegeben. Also, was sollte das.
Tanja
hatte aber gefragt und die Leute sagten: ‚Tanja geh und hol dir, was du
möchtest. Nimm, was du willst, iss was du findest. Wenn du etwas Neues
anschneidest, mach es bitte nur so wieder zu, dass wir es weiteressen können’.
Damit
war für die der Fall erledigt.
Tanja
verschwand. Erst durchstöberte sie die Küche und aß hiervon und davon. Das
bekamen wir alle mit, weil sie die Türen offen stehen ließ.
Dann
verschwand sie ganz in der Speisekammer, kam mit allem möglichen zurück und
fragte, ob sie davon auch essen dürfte. Immer hieß es von den Leuten: ‚Iss
wovon du willst, nimm dir was du möchtest. Du brauchst wirklich nicht zu
fragen, Tanja’.
Mir
wurde das unangenehm, es war mir peinlich.
Ich
stand auf und wollte Tanja in der Küche etwas sagen. Die anderen hätten das
nicht unbedingt hören müssen. Die merkten aber, was ich vorhatte und sagten,
noch bevor ich losgehen konnte: `Lass sie doch machen. Es ist uns wirklich
recht’. Von draußen, aus der, Küche, hörte ich wie Tanja beim Essen ein Lied
vor sich hin summte. Das tat sie nur, wenn es ihr sehr gut schmeckte.
Also
ließ ich meine Erziehungsversuche sein und tat nichts mehr. Ich setzte mich
einfach wieder hin.
Selbst,
als wir nach Hause fuhren, sagte ich darüber kein Wort zu ihr und hatte das
ganze tatsächlich bald völlig vergessen. Nicht aber Tanja. Sie fragte mich
schon nach kurzer Zeit: ‚Wann besuchst du die wieder?"
Ich
dachte mir nichts bei der Frage und ging irgendwann wieder hin. Sie kam wieder
mit.
Diesmal
arbeitete sie sich systematisch vor.
Sie
fragte schon, wenige Minuten nachdem wir eingetroffen waren: ‚Darf ich mir
wieder etwas zu essen suchen?'
‚Ja,
natürlich darfst du das. du brauchst deswegen nicht zu fragen. Das weißt du
doch. Mach was du für richtig hältst und iss, was dir schmeckt’.
Die
Leute gaben ihr auch noch den Tipp, wenn sie Küche und Speisekammer durch
hätte, sollte sie ruhig im Keller weitermachen. Darauf sagte Tanja: ‚Stimmt. Da
war ich schon. Da lagert die Schokolade. Und da sind selbstgebackene Kekse’.
Ich bin
vor Scham fast im Erdboden versunken, glauben Sie das?"
Ich
sagte: „Das glaube ich Ihnen. Ich kann das gut nachempfinden“.
Wir
saßen vor unserem Kaffee, und Tanjas Mutter hatte meinen Schreibtisch wieder
angenehm in einen Cafetisch verwandelt.
Das
gefiel mir. Ich sagte es ihr.
Beim
neuerlichen Erzählen beobachtete ich ihre Hände. Sie unterstrich ihre Worte mit
ganz intensiven Bewegungen nicht nur der Hände sondern auch der Arme.
Sie
erinnerte mich an Französinnen, die ihre Worte oft mit vielen
schauspielerischen Gesten vortragen.
Den
Französinnen reicht aber meistens die Bewegung der Hände, und sie kommen mit
dem Platz direkt vor ihrem Körper aus.
Tanjas
Mutter aber brauchte Raum.
Sie
streckte die Arme, wenn es spannend wurde, ganz gerade aus und ließ die Hände
dort oben die Geschichte noch einmal darstellen. Das eine oder andere Mal
zeigten beide Arme in dieselbe Richtung, so dass sie nebeneinander in der Luft
standen. Sie ließen die Hände dann ein eigenes kleines Theaterstück aufführen.
Sie
bewegte den ganzen Körper, wenn sie sprach.
Es
entstanden schöne, flüssige, leichte und anmutige Bewegungen. Es passte alles
zusammen. Sie schob sich auf dem Sitz des Stuhles bis zu einer winzigen
Vorderkante, verharrte dort, zog sich wieder zurück, bis hinein in die Stäbe
der Rückenlehne und wiederholte das gleiche Kunststück von der anderen
Stuhlecke aus.
Manchmal
geriet sie, um mir beim Erzählen näher zu sein, mit dem Oberkörper in die Höhe.
Sie stützte sich leicht mit den Ellenbogen oder den Händen auf dem Tisch ab und
setzte sich danach mit dem Gesichtsausdruck einer erfolgreichen Darbieterin
wieder auf den Stuhl: ‚Na, was sagen Sie denn dazu’.
Wenn sie
mich besuchte war sie jedes Mal anders gekleidet. Sie sah frisch, sauber und
für meine Begriffe ein wenig unantastbar aus. Das lag vielleicht an den Blusen,
die sie trug, mit den langen Ärmeln und den hochgeschlossenen Kragen.
Sie trug
keine Hosen, sondern hatte passende Röcke an.
Sie war
unaufdringlich gekleidet. Es war alles ‚züchtig' und brav an ihr.
Eigentlich
fehlte nur noch eine Schürze. Ja, eine Schürze hätte ihr Erscheinungsbild
vollständig abgerundet. Es hätte aber keine Feld-, Wald- und -Wiesenschürze
sein dürfen. Sie hätte ein Oberteil haben müssen, und sie hätte mit Stickerei
auf weißem Stoff verziert und im Nacken und um die Hüften mit langen Bändern
gebunden sein müssen. So stellte ich sie mir vollständig angezogen vor.
„Tanja
wurde bei den Leuten immer unbedarfter“, fuhr sie wieder fort.
„Immer
öfter kam sie mit, und ich hatte keine Möglichkeit, das zu verhindern.
Hinzu
kamen zwei Dinge. Erstens die Gewissheit, dass sie bei den Leuten wegen ihrer
Ungezwungenheit im Naschen, so sahen die es wohl, und der damit verbundenen und
von Tanja an den Tag gelegten Genüsslichkeit, gerne gesehen war. Ja das war für
mich ganz, ganz sicher.
Zum
Zweiten gab es bei mir die Unsicherheit, ob sich nicht für Tanja hier eine
einzigartige Möglichkeit auftat, wirklich, durchgehend und von Herzen glücklich
zu sein“.
Ich
wollte Tanjas Mutter nicht unterbrechen, aber ich hätte den letzten Satz gerne
anders beendet, nämlich: ‚und von Herzen satt zu sein’.
Das
behielt ich aber lieber für mich. Das hätte sie vielleicht falsch verstehen und
verletzen können.
So sagte
ich nur: „Isst sie denn sonst auch so viel?"
„Nein“,
sagte Tanjas Mutter, „überhaupt nicht. Sie haben doch selbst gesehen, wie sie
vor dem Kantinenessen gesessen hat. Sie hat ja fast nichts davon gegessen. Und
bei den Leuten aß und aß und aß sie. Ich kann das überhaupt nicht verstehen.
Ach, das
wichtigste hätte ich ja bald vergessen.
Also,
nachdem wir kurz hintereinander dort gewesen waren, habe ich sie an einer ganz
empfindlichen Stelle gepiekt.
Ich habe
nämlich gesagt: ‚Wenn du bei den Leuten weiter solche Mengen isst, dann wirst
du aufgehen, wie ein Honigkuchen’.
Ich weiß
ja, wie sehr sie auf ihr Gewicht achtet, wie sehr sie darum besorgt ist, nicht
wie die ‚fetten Zicken' herumzulaufen. So nennt sie die Mondänen, die ‚grünen
Witwen'.
Darauf
hat sie ganz gelassen reagiert. ‚Davon nehme ich kein Gramm zu. Im Gegenteil,
mein Hunger wird immer größer und ich könnte dort immer weiteressen. Ich achte
ganz genau auf mein Gewicht, jedes Mal. Ich sage dir die reine Wahrheit, ich
nehme sogar noch ab dabei, und das verstehe ich selbst nicht’.
Das war
meine letzte Attacke in diese Richtung. Von nun an ließ ich sie in Ruhe, ließ
es laufen wie es lief“.
Ich
fragte nach: „Und wie lief es?"
Sie
stockte in ihrem Redefluss und sagte: „So plötzlich wie sie dorthin wollte und
ihrer Unbeherrschtheit nachgegeben hatte, so schlagartig wie sich ihre Unersättlichkeit
entwickelt hatte, so urplötzlich war sie vorbei. Von einem Tag auf den anderen.
Als ich
wieder einmal zu Besuch gehen wollte und es Tanja ganz selbstverständlich
sagte, war ihre Antwort: ‚Ich bleib hier, ich brauch nicht mehr zu essen. Grüß'
sie von mir. Sag ihnen danke von mir. Ja, es ist vorbei. Ich bin richtig
erleichtert’.
Sie war
also erleichtert. Na, und ich erst 'mal. Ich traute dem Frieden zwar nicht,
ging aber seit langem das erste Mal wieder alleine hin. Die fragten nur ganz
kurz nach ihr. Kein Wort sonst, dass sie sie vermissten oder derartiges.
Nein,
einer von den beiden sagte doch: ‚Dann ist es wohl vorbei’. Ich stimmte zu.
Alles war ganz und gar in Ordnung. Ich fand es nicht mehr angebracht, mich
unter diesen Umständen in Tanjas Namen noch zu bedanken. Das konnte ich nicht,
Ich hätte es unpassend gefunden“.
„Haben
Sie Tanja eigentlich gefragt, warum sie erleichtert war? Das würde ich gerne
wissen“.
„Warum,
hab' ich nicht gefragt. Ich habe mir aber mein Teil gedacht“.
„Das
wäre?"
„Na, sie
hat wieder geschauspielert. Sie hat sich bei den Leuten wichtigmachen wollen,
wollte deren Aufmerksamkeit erregen. Das war ihre Melodie. Die Leute kannte sie
ja, und im Prinzip zog sie die alte Masche wieder ab. Sie brauchte eben wieder
ihre Auftritte“.
„Glauben
Sie, dass Tanja solche Beziehungen auch zu anderen Leuten unterhält, ich meine,
Leuten, die Sie nicht kennen?"
„Sie
meinen, zu Leuten, die meinem Mann oder mir völlig fremd sind?"
„Ja, zum
Beispiel“.
„Das
kann ich nicht sagen, weil ich es nicht weiß. Aber im Grunde glaube ich, dass
sie dies Theater immer nur macht, wenn einer von uns, also mein Mann oder ich
dabei ist. Ja, ich bin ziemlich sicher, dass sie das nur macht, wenn wir das
auch mitbekommen“.
„Das
denke ich auch. Sie hätten sonst schon mal was zu Gehör bekommen“.
„Ja, das
glaub' ich auch. Und ich bin froh darüber, dass das nicht der Fall ist. Stellen
Sie sich bitte vor, wir würden von anderer Seite solche Geschichten über sie
hören. Ich würde mir ja Tag und Nacht Vorwürfe machen müssen, dass ich sie
falsch erzogen habe, oder dass sie Zuhause nicht satt wird“.
Ich
dachte derweil über die Vergleichbarkeit von Tanjas und meiner Fresslust nach.
Bei mir
war es die fehlende Anerkennung in der Firma gewesen. Bei Tanja war es die Anwesenheit
der Mutter in einer Gesellschaft gewesen. Dieser Gesellschaft hatte sie,
nämlich die Mutter, die ganze Aufmerksamkeit und Körperlichkeit geschenkt.
Das
musste Tanja ja reizen. Das war genau das, was sie sich immer gewünscht hatte.
Ihr sollte die Mutter gehören, ihretwegen sollte die Mutter da sein. Das wollte
sie wieder und wieder erzwingen. Ihre Not war groß, und ihr fiel nichts anderes
ein, als die Aufmerksamkeit der ganzen Gesellschaft auf sich zu lenken.
So
sollte die Mutter Tanja wieder sehen und beachten müssen. Die Mutter hatte aber
nur die Leute im Kopf. Das war verteufelt. Tanja inszenierte sich selbst in
dieser Sache ohne großes Nachdenken, wurde dabei nur von ihren Gefühlen
geleitet.
Die
Mutter hatte gar nicht so unrecht, wenn sie der Meinung war, dass das alles
reine Schauspielerei war.
Es war
Theater ohne Drehbuch. Es war das reine Empfinden des Mädchens, und das brachte
es zum Ausdruck. Im Grunde war es nichts anderes, als hätte sie wieder einmal
etwas zu zertrümmern versucht. Diesmal war sie jedoch einen Schritt weiter
gegangen, denn sie hatte den schlimmen Versuch unternommen, sich dabei selbst
zu zerstören.
Für sie
persönlich war das gar nichts Neues. Jede ihrer Tätowierungen war schließlich
ein Stück Selbstverstümmelung. Irgendwann waren ihre Kräfte aber auch diesmal
erschöpft. Deswegen musste sie abbrechen und aufgeben. Sie konnte nicht mehr.
Ihr Körper signalisierte vollständige Sattheit. Es blieb ihr nichts weiter
übrig, als sich aus dem Kampf als Verliererin zurückzuziehen. Mein eigener
Abbruch seinerzeit hatte vielleicht ähnliche Gründe gehabt. Ich scheiterte
damals auch an der eigenen Schwäche und musste aufgeben.
Meine
Gedanken schufen immer schneller immer neue Gedanken. Es tat sich eine
grundsätzliche Frage auf, nämlich, ob es die Möglichkeit für mich geben könnte,
mit einem Menschen, diesem Mädchen, dem ich anscheinend so sehr verwandt war,
den Versuch einer engeren Verbindung oder sogar einer ganz engen Beziehung zu
wagen.
Das
Absurde daran war nicht, dass sie meine Tochter hätte sein können, sondern dass
ich mit diesem Gedanken das Vertrauen der Mutter in mich vor mir selbst
hinterging.
Sie
hatte sich doch schon über den ‚alten' Österreicher ausgelassen, und der war,
glaube ich, erst sechsunddreißig. Das alles, obwohl sie wusste, dass
Verbindungen zwischen älteren Männern und jüngeren Frauen nicht unnormal sind
und häufiger vorkommen, als Verbindungen von älteren Frauen mit viel jüngeren
Männern.
Ich
wollte mich bei Gelegenheit mit dem Gedanken enger vertraut machen und sollte mich
von dem Altersunterschied und dem Verrat an der Mutter freimachen.
Diese
Überlegungen überfielen mich mit atemberaubender Schnelligkeit und
Deutlichkeit. Ich staunte darüber, weil ich mir nicht verhehlen konnte, die
innere Bereitschaft zu spüren, an dem Mädchen eine bestimmte Art von Ausbeutung
betreiben und vornehmen zu wollen. Tanjas Mutter hatte schon längst wieder
alles abgewaschen, zusammengepackt. Sie stand in der Tür mit einem freundlichen
Wunsch für das neue Jahr auf den Lippen.
Ich
hatte alle Mühe, mich zu konzentrieren.
Gedanken
an Neujahr, an Höflichkeiten, mich bei der Frau zu bedanken, sie zu
verabschieden und meine Neugier auf weitere Nachrichten, am liebsten auf ein
Gespräch mit Tanja, gingen kreuz und quer durch meinen Kopf.
Tanjas
Mutter mochte das eine oder andere mit ihrer Eingebung, die so nur Frauen eigen
ist, erraten haben. Mir schien es, dass sie mich beim Hinausgehen mit einem
sonderbar fragenden Blick ansah, so, als wollte sie sagen: ‚Na? Was geht denn
nun in deinem Kopf vor...'
Ich
stand ratlos vor ihr. Es war völlig ungewiss, über die Feiertage auf irgendeine
Weise etwas zu erfahren. Meine Ungeduld würde mich wieder quälen.
Ich
fragte deshalb Tanjas Mutter ganz spontan und wusste, dass ich keinen Grund für
meinen Wunsch hatte: „Wäre es möglich, falls ich doch noch die eine oder andere
Kleinigkeit wissen möchte, Sie Zuhause anzurufen?
Ich
würde nur ganz kurz durchklingeln, und wenn es ungelegen kommt, können Sie es
mir ja sofort sagen. Ich möchte Sie auch nur darum gebeten haben, falls es eine
Frage geben sollte“.
Sie
lachte etwas erfreut aber auch verunsichert und verlegen auf: „In Ihnen habe
ich einen Nimmersatt. Aber es ist nicht so schlimm. Wenn ich Zeit finde und
wenn Sie meinen, dass es sein muss, dann melden Sie sich bitte. Bis dann also“.
Ich war
erleichtert und, wenn man das Wort ‚schrecklich' in diesem Zusammenhang je
benutzen konnte, dann war ich schrecklich erleichtert.
Es tat
gut.
Ich
wusste nicht, warum ich sie hätte anrufen sollen. Es war mir wohl nur
eingefallen, um mir wenigstens eine kleine Hintertür offen zu halten.
Am
letzten Tag des alten Jahres saß ich allein zu Hause. Den Kopf hielt ich in
meine beiden Hände gestützt. Ich war voller Gedanken an Tanja. Meine
Vorstellungen von dem Mädchen überlagerten sich mit Bildern und Erinnerungen,
gemeinsamen Erlebnissen an und mit meiner eigenen Frau. Tanjas Gesicht
verschmolz einmal zu dem meiner Frau, dann war es wieder umgekehrt. Ich dachte
über die eine nach und meinte die andere und befragte, wenn ich so in Gedanken
mit meiner Frau sprach, unablässig Tanja. Die konnten voneinander nichts
wissen, antworteten aber trotzdem, als wüssten sie alles.
Meine
Frau hatte mich erst kürzlich vor die Tür gesetzt: „Wir sind getrennt von Tisch
und Bett“, hatte sie gesagt, weil sie die dauernde Spannung, die ein
Zusammenleben mit mir für sie bedeutete, nicht mehr länger ertragen konnte:
„Wenn du in meiner Nähe bist, steh' ich unter Strom. Das ertrag' ich nicht
länger!“
Sie
fasste damit vieles zusammen, was ich zu ihr mit einem Satz so beschrieb: „Ich
habe dich zu sehr geliebt, zu oft und zu andauernd. Ich liebe dich eben mit
Leidenschaft“. Das war wenigstens wahr.
Das
verstand sie aber nicht. Das lag mit daran, dass sie nicht wusste, was mir
Kunst bedeutet. Kunst ist für mich Leidenschaft. Die Liebe zu meiner Frau war
leidenschaftlich, die Liebe zu ihr war ein Teil meiner lebendigen Kunst. Der
betraf sie. Das würde sie niemals verstehen können, und das hätte sie niemals
verstehen wollen. Sie hätte sich damit ja zum Opfer meiner Kunst machen müssen.
Das wäre unvorstellbar. Sie fühlte sich zwar als Opfer, aber als Opfer meiner
Selbstsucht und nicht meiner Kunst. Das wäre in ihren Augen etwas völlig
anderes.
Bis vor
kurzem waren die Kinder noch im Hause gewesen.
„Das“,
so sagte sie, „war noch ein Grund gewesen, dich zu ertragen. Aber nun, wo sie
aus dem Haus sind, will ich allein über mich bestimmen. Ich bin ich. Ich
bestimme über mich und sonst keiner“. Das war ihre neue Rede.
Das
schlimmste kam, als sie sagte: „Ich brauche es auch nicht, dass dauernd jemand
etwas in mich hineinschiebt“.
Danach
sagte sie ganz verständnisvoll und trotzdem mit eisiger Kälte: „Ich habe
begriffen, dass du dich nicht ändern kannst, aber ich lasse das nicht mehr
länger mit mir machen. Wenn du nicht gehst, gehe ich“.
Von dem
Schlag konnte ich mich kaum einen Tag erholen, dann schob sie nach, weil ich
neue Annäherungen wagte: „Wir sind getrennt von Tisch und Bett, vergiss das
nicht“.
Das war
eindeutig. Meine Liebe zu ihr war aber größer. Ich empfand den Schmerz und
stand in Tränen, hauptsächlich wegen der Vorstellung, ihr wirklich großes Leid
zugefügt zu haben. Das wurde mir mehr und mehr bewusst.
Es war
mir unter diesen Umständen lieber, sie ohne mich hoffentlich gesunden, als mit
mir krank werden zu lassen. Selbstverständlich kann man auch darin eine Art
Selbstsucht vermuten.
Noch
einmal wollte ich alles daran setzen, sie umzustimmen, aber sie sagte nur: „Zu
spät, mein Lieber, bei mir ist ein Band gerissen, und ob es jemals wieder
zusammenwachsen wird, kann ich dir nicht sagen. Zum heutigen Zeitpunkt
jedenfalls sind wir getrennte Leute. Getrennt, verstehst Du?"
Ich
glaubte, dass ich das meiste falsch gemacht hatte.
Sie
hatte jetzt eine Notbremse gezogen. Sie konnte sonst wohl nicht mehr
existieren.
Sie
empfahl mir noch: „Mach es so wie ich, geh in eine Therapie“. Sie suchte sogar
eine Ärztin heraus, um mir den Schritt zu erleichtern.
Dazu
sagte sie: „Das mach' ich nur um deinetwillen. Das hat mit uns nichts zu tun,
gar nichts. Du musst hingehen. Tu es um deinetwillen“.
Ich
musste tatsächlich die Wohnung räumen, saß nun hier in unserer Zweitwohnung.
Die war in dieser bösen Lage immer noch ein Glücksfall.
Ich
schaute auf die Blumen auf meinem Tisch. Blumen wollte ich auf jeden Fall
jederzeit in meiner neuen Behausung haben. Blumen sind für mich die Verbindung
zu etwas Weiblichem, etwas Fraulichem. Wo Blumen sind, da sind auch Frauen
nicht weit. Ich konnte ohne eine Frau nicht leben. Ich litt unsäglich. Ich
stellte mir die Blumen auch deshalb auf den Tisch, weil ich mir dachte, wenn
dich deine Frau oder sogar ein anderes weibliches Wesen besuchen sollte, dann
sollen wenigstens Blumen vorhanden sein. Mich störte an vielen
Junggesellenwohnungen, dass sie leer von diesen Dingen waren.
Ich
wusch auch regelmäßig das Geschirr ab und hielt Ordnung in der Wohnung. Das
gehörte ebenso dazu. Das, so glaubte ich, würde eine von mir ersehnte
Besucherin milde stimmen. Denn an meiner Meinung, an dem ganzen Dilemma mit
meiner Frau die Hauptschuld zu tragen, hätte eine Besucherin doch nur
vorbeikommen können, wenn sie gesehen hätte, dass sich an meiner Einstellung,
nämlich Weibliches und deren Attribute zu lieben und hoch zu schätzen, nichts
geändert hätte. Und das stimmte nun ja auf alle Fälle. Das wollte ich mit
diesen Dingen zu verstehen geben.
Ich saß
am Tisch und dachte über die Verbindung zu einem Mädchen nach, das ich nur
einmal im Sitzen gesehen hatte.
Verrückt,
verrückt, verrückt war das von mir.
Gestern
hatten Tulpen auf dem Tisch gestanden. Die hatten aber inzwischen begonnen,
ihre Blütenblätter abzuwerfen. Danach würde sehr schnell der Blütenstaub
herausfallen, und ein schwer entfernbarer, schwarzer Belag auf Tisch und
Teppich würde bleiben. Das wollte ich verhindern. Deshalb tat ich sie
vorsichtig in den Mülleimer und kaufte mir am nächsten Tag einen Strauß Astern.
Dabei hatte ich nicht bedacht, dass die einen unangenehmen Eigengeruch haben.
Sie riechen bitter, ein wenig nach Ginster. Nächstes Mal würde ich also erst an
den neuen Blumen riechen müssen, bevor ich sie kaufen würde. Die Tulpen hatten
auch dadurch, dass sie innerhalb weniger Tage aus der Vase herausgewachsen
waren, mit dem Stiel einen langen Bogen nach unten, fast bis auf den Tisch
beschrieben. Die Blüten selbst zeigten immer mit der Öffnung nach oben. Das
ganze hatte sehr verschlungen, ein wenig sterbend und ein wenig wie die
Jugendstilbilder aus der Jahrhundertwende ausgesehen. Ich mochte das. Tulpen
haben häufig diesen schweren süßlichen Geruch. Der teilte sich mir aber nur
mit, wenn ich mit der Nase unmittelbar in die Nähe der Blüten geriet. Meine
Tulpen hatten feine und strähnige Farbübergänge zwischen rötlich und gelb, mit
Unterbrechungen von elfenbeinernem Weißbeige. Die grünen Blätter und die festen
runden Stiele trugen die Blüten als ausladender Kronleuchter. Es ging Stolz von
ihnen aus. Die Blütenränder waren nicht eingerissen, sondern ebenso fleischig,
wie die Blätter und die Stiele. Die sahen für mich aus, wie die Ellenbogen von
Frauenarmen, die sich oberhalb der Tischplatte im freien Raum abstützten. So
hielten sich die Blüten. Ich sah noch mehr darin. Für mich waren es zugleich
die Linien auf zarten Frauenhänden. Die verliefen von den Hautfalten zwischen
den Fingern bis in die Handrücken. Es waren schmeichelnde sanfte Linien.
Dagegen hatten die Astern geradezu derb ausgesehen. Sie waren überall krümelig
und struppig. Sie passten nicht zu meiner Gemütsverfassung. Ich hätte sie
lieber nicht kaufen sollen, und musste sie nun, wohl oder übel, ertragen.
‚Ganz so
schlimm‘, sagte ich mir, ‚ist das aber auch nicht. Beim nächsten Strauß musst
du eben besser aufpassen'. Ein schwacher Trost war das.
Es war
alles richtig, was meine Frau mir vorgehalten hatte. Als ich endlich
mitbekommen hatte, dass der Haussegen nicht nur schief gehangen hatte sondern
bereits abgestürzt war, und ich in meiner letzten Not ihr ein schönes Bund
Malven in die Vase gestellt hatte, tat sie so, als hätte sie es gar nicht
bemerkt. Erst, als ich sie dann etwas in der Richtung fragte, sagte sie:
„Blumen kann ich mir auch alleine kaufen. Damit kriegst du mich auch nicht
wieder ins Bett. Und 'was anderes willst du doch nicht“.
Was
sollte ich sagen. Ich hatte nur kümmerliche Gründe, fast schon Ausreden: „Die
Blumen hab' ich auch für mich gekauft. Das müsstest du eigentlich wissen.
Letzten Endes hast du aber irgendwie recht“.
Meine
Frau war sehr verletzt, seelisch und körperlich. Normalerweise hätte sie über
solche Dinge niemals so einfach gesprochen. Das verunsicherte mich zusätzlich und
machte mich mundtot. Wie sie mein Schweigen deutete, weiß ich nicht. Von ihrem
Vorhaben, mich langfristig loszuwerden, ließ sie jedoch keine Sekunde ab, und
hatte es schließlich ja auch geschafft. Dabei war es mir zehnmal lieber, dass
ich das Haus verließ und in eine andere Wohnung zog, als wenn sie es getan
hätte. Sie war drauf und dran es zu tun. Dabei dachte ich, dass das wichtigste
im Augenblick sicher sein musste, ihr in gewohnter Umgebung die verlangte Ruhe
zu beschaffen. Sie liebte schließlich das Haus und die Häuslichkeit mehr als
ich.
Als ich
die Astern wieder vor mir stehen sah, erinnerte ich mich im Zusammenhang mit
Blumen an frühere halsbrecherische Manöver. Damals, als wir noch keine Kinder
hatten, schenkte ich ihr zum fünfundzwanzigsten Geburtstag fünfundzwanzig
langstielige, rote Rosen, die ich spät in der Nacht in eine Vase stellte, und
zwar so, dass ihr erster Blick am Morgen, beim Aufwachen, darauf fallen musste.
Das
geschah auch, aber mit ihrem Aufschrei: „Mein Gott, dafür hätte ich lieber
Schuhe gehabt“.
Sie
führte die Kasse bei uns und sah das schöne Geld anders als ich. Für mich waren
die Rosen der Geburtstagsgruß eines vor Liebe Verrückten. Für sie war das
anders. So litt unsere Liebe unter ständiger Spannung.
Danach
verfügte ich über längere Zeit über ausreichend Geld und ließ ihr große und
teure Blumengestecke anfertigen. Sie nahm die Blumen mit dem Gefühl größter
Peinlichkeit entgegen und empfand es als schmerzlich, wenn sie vor anderen
Frauen auch noch gestehen musste, dass sie die von ihrem eigenen Mann geschenkt
bekommen hatte. Sie tat mir schließlich so leid, dass ich es wieder sein ließ.
Ich
verlegte mich damals auf Handtaschen, die sie leichter akzeptieren konnte, bis
ich einsah, dass sie sich auch darüber nicht recht freuen konnte. Sie war zwar
in der Lage, diese klar zu erkennende Annäherung zu verstehen, aber nicht sie
gutzuheißen. Für sie war es Erpressung. Sie wollte sich nicht durch Blumen oder
Geschenke zu einem Liebestun zwingen lassen.
Schon
nach ganz kurzer Zeit unseres Ehelebens vermied sie von sich aus jeden Kuss.
Wenn sie einen von mir bekam, wischte sie sich den sofort mit dem Handrücken
von den Lippen. Bald ließ sie sich auch nicht mehr von mir küssen: „Ich bekomme
keine Luft“, sagte sie. Und wenn ich mich beschwerte, kam: „Ich wage es
überhaupt nicht, dich anzufassen, weil ich genau weiß, wo das endet“.
Mit
meiner Antwort gab ich ihr zu verstehen, dass ich sie nicht ganz ernst nahm:
„Das endet immer irgendwie und irgendwo“.
Damals
träumte ich davon, dass sie begreifen würde, dass ein Mann und eine Frau den
Geschlechterkrieg einmal beenden können müssten. Meine Begierde nach ihr und
mein Wunsch, sie zu lieben, waren aber so groß, dass ich alles in Kauf nahm.
Trotzdem empfand ich es immer wieder als Kränkung, wenn sie meinem Willen so
ungern nachkam und sich häufig dagegen sträubte. Ich nahm all das hin und sah
meine Leiden als völlig normal an.
Heute
sagt sie dazu: „Und mir hast du immer weismachen wollen, dass ich die Unnormale
bin, dass ich die Bekloppte bin. Beschimpft hast du mich, wenn es nicht ging,
und du wolltest sogar, wenn ich meine Tage hatte, denk nur daran“.
Auf
einen konkreten Fall bezogen hatte sie recht.
Ich
sprach einmal mit einer anderen Frau darüber. Die hatte mir sehr zugesetzt,
weil sie mehr als nur Gespräche brauchte. Ich hatte mich schließlich von ihr
mit Hilfe meiner Frau, die damals zu mir hielt, befreien können.
Die
andere Frau hatte gesagt, und das führte bei mir dazu, dass ich sofort
einsichtig wurde: ‚Das? Wenn ich meine Tage hab? Find ich gut. Das manscht so
schön’.
Ich weiß
nicht, ob sie es wirklich so gemeint hatte. Ich war jedenfalls schockiert.
Immer
wollte ich die Liebe erzwingen oder sie verhindern und hatte letzten Endes
alles verdorben.
Die
Pfirsichhaut meiner Frau und ihre köstlichen kleinen Brüste waren von mir
dauernd ersehnte Aufenthalte. Ich dachte mir nichts dabei und fand mein
Wünschen normal.
Wenn ich
sie nur berührte, durchflossen mich Ruhe und Ausgeglichenheit. Es überkam mich
das Gefühl von nur auf diese Weise erreichbarem Wohlbefinden. In meinem ganzen
Leben hatte ich das in dieser Vollständigkeit und Tiefe nur bei ihr erleben
können. Ich war auch sicher, es niemals auf eine andere Art zu erreichen. Es
war das geheimnisvolle Übertragen von Kräften innerhalb von Sekundenbruchteilen.
Das machte mich abhängig. Das wusste sie, das wusste ich.
Sie aber
sehnte sich nach ganz anderem. Sie wollte zum Beispiel, dass ich sie mit ihrem
Rücken in den Arm nahm. Das hätte ihre Begierde stillen können, das wäre für
sie das höchste Gefühl der Zärtlichkeit gewesen. Das wusste ich aber nicht. Wie
hätte ich das auch erfahren können. Immer wieder hatte ich gesagt, danach
gefragt: „Was willst Du. Was soll ich tun. Wie willst du es haben“.
Keine
Antwort. Ihre Wünsch blieben verborgen. Ich erfuhr nichts. Über ihr Liebesleben
sprach sie nicht. Erst jetzt, ganz zum Schluss, als deswegen böse Worte fielen,
fing sie davon an: „Wie gerne hätte ich das gehabt. Aber diesen Wunsch hast du
mir ja nie erfüllt. Wie sehr hab' ich mich danach gesehnt, aber immer wolltest
du 'was anderes“.
Das tat
weh, das schmerzte sehr, das traf mich.
Tanja
drängte sich wieder in den Vordergrund und sie und meine Frau tobten in meinen
Kopf und stifteten Verwirrung.
Ich war
ein wenig eingenickt, aber nicht fest eingeschlafen. Plötzlich war ich jedoch
hellwach. Konnte nicht Tanja ebenfalls einen völlig irren Umgang mit Geschenken
an ihre Liebhaber, oder vielleicht nur an ihren letzten, den Österreicher,
haben? Das wäre doch wohl eine Frage wert. Die Mutter könnte das möglicherweise
beantworten. Sie hätte das bestimmt mitbekommen. Vielleicht hatte sie es sogar
mitfinanzieren müssen. Tanja hatte doch kein Geld und fremden Leuten Geld zu
stehlen, hätte nicht zu ihr gepasst. Das traute ich ihr einfach nicht zu, das
hätte nicht zu ihrer Art, Probleme zu lösen, gehört. Vielleicht hatte sie die
Eltern 'mal bestohlen, um an Geld zu kommen. Das ginge, obwohl ich es auch für
unwahrscheinlich hielt.
Konnte
ich Tanjas Mutter deswegen anrufen? Ich schwankte lange. Dann erfand ich ein
Glücksspiel. Ich würde es dreimal klingeln lassen, würde sie dann abnehmen,
würde ich fragen, würde sie nicht abnehmen, hätte ich verloren. Alles in der
Hoffnung, dass niemand sonst an den Apparat gehen würde. Dann müsste ich dumme
Ausreden erfinden.
Es war
inzwischen fast sechs Uhr abends geworden. Würde ich heute nicht mehr anrufen,
könnte ich es morgen, am Neujahrstag, erst recht nicht wagen. Dann ergäbe sich
erst wieder am zweiten Januar Gelegenheit dazu. Sicher wäre es sowieso besser,
bis dann zu warten. Jetzt anzurufen war der reine Wahnsinn. Ich ging langsam
und unentschlossen zum Telefon und wählte zögernd ihre Nummer. Es war frei. Ich
ließ es klingeln.
Draußen,
von der Straße, hörte ich immerzu die Böller knallen. Lauter als das aber
glaubte ich mein Herz schlagen zu hören. Es läutete das zweite Mal, dann das
dritte Mal.
Ganz
schnell einmal noch, nur nach dieses vierte Mal, da... Sie war am Apparat:
„Hier ist W.?"
„Liebe
Frau W. hier ist ihr Nimmersatt. Eine Frage bitte, nur eine einzige bitte,
ja?"
Sie
verharrte einen Augenblick, dann sagte sie: „In Ordnung also eine Frage und
eine kurze Antwort, ja?"
„Gut.
Hat Tanja, falls Sie es wissen, ihren Verflossenen, oder ihrem Jetzigen
übertriebene, verrückte Geschenke gemacht? Wissen Sie davon? Also ich geh' da
zum Beispiel von Männern aus, die ihrer Angebeteten aufwendige Blumengeschenke
oder Gestecke machen lassen. Können Sie sich so etwas von ihr vorstellen?"
Sie
kreischte fast auf. Es war halb Entsetzen und halb wehmütige, wütende Abwehr
des Gedankens: „Geschenke? Blumen? Ich weiß zwar nicht, wie Sie gerade darauf
kommen, und ich kann es Ihnen jetzt auch nicht ausführlich beantworten, aber
sie war und ist Spezialistin im Verschenken langstieliger Baccararosen. An ihre
Verehrer. Ja! Nicht etwa umgekehrt. Nein, sie verschenkt die. Das muss ich
Ihnen aber in Ruhe erklären. Geben Sie mir noch 'mal Ihre Nummer, ich ruf' Sie
am zweiten Januar wieder an. Dann hab' ich Zeit dafür.
Das
musste fast alles ich bezahlen. Wenn mein Mann das wüsste, fiele der in
Ohnmacht. In der Beziehung, das habe ich Tanja selbst schon gesagt, ist sie
eine richtige“, und Tanjas Mutter wurde ganz leise am Telefon, „kleine geile
Hexe. Also bis übermorgen“.
Ich gab
ihr schnell noch meine Nummer durch, dann hängte sie auf. Ich blieb sprachlos
über diese Eröffnung am Telefon stehen. Sie verschenkte also rote langstielige
Rosen, über jede Konvention hinweg, als Frau an den oder die Liebhaber. Das
hätte ich wirklich allen Ernstes nicht erwartet.
„Es fing
ganz harmlos damit an, dass Tanja ihre wohl erste und von ihr selbst sehr
ernstgenommene Männerbekanntschaft gemacht hatte“. Tanjas Mutter, hatte sich
wirklich wieder telefonisch bei mir gemeldet und war gleich in Redefluss
geraten.
Sie
erinnerte noch ganz genau, um was es mir ging und hatte eingangs gesagt: „Ich
will versuchen, es so zu erzählen, wie ich es mitbekommen habe, und was ich so
mitbekommen habe.
Also
damals wohnte sie ja noch die meiste Zeit bei uns zu Hause und ich bemerkte,
wie sie eines Tages am Küchentisch eine schmale Schachtel zu einem mindestens
einen Meter langen Paket postfertig machte. Ich hatte in der Wohnung zu tun und
kam nur ab und zu herein und sah eigentlich ganz beiläufig, wie sie sich
abmühte und komische Dinge mit einer roten Rose machte. Es war eine dunkelrote
Rose mit einem schönen Samtschimmer, der fast in Schwarz überging. Die Rose war
wunderschön. Tanja versuchte sie wie für eine lange Reise zu verpacken. Während
meines Hereinkommens in das Zimmer sah ich, was sie dafür alles anstellte.
Ich
fragte sie: ‚Was soll das denn werden?' Sie antwortete nicht.
Als ich
wieder hereinkam, war sie gesprächiger: ‚Die will ich verschicken, und sie soll
ganz frisch, taufrisch‘, und das letzte Wort sprach sie ganz genüsslich und
sehr langsam aus, ‚wie gerade geschnitten ankommen'.
‚Aha',
sagte ich, ‚und wer ist die Glückliche?'
Sie
schwieg wieder, und ich beobachtete ihr Tun nun immer genauer. Sie legte um die
Rose der ganzen Länge nach Zellstoff, welches sie, als ob sie zu trockene Wäsche
vor sich hätte, mit nassen Händen einsprengte. Das machte sie so lange, bis der
Stoff richtig feucht war.
Als ich
erneut hereinkam, sagte sie unvermittelt: ‚Es ist keine Sie’. Pause. ‚Es ist
ein Er’.
Das hat
mir die Sprache verschlagen.
Ich
wiederholte: ‚Ein Er? Meinst du ein Mann?'
‚Ja,
mein ich’.
‚Seit
wann schenkt denn ein Mädchen einem Mann rote Rosen?'
‚Warum
denn nicht? Ich lieb' ihn, und das soll er wissen’.
Ich
wusste nichts zu antworten. Ich dachte auch darüber nach, warum das nicht in
Ordnung war. Es war allein schon deswegen nicht in Ordnung, weil man das so
herum eben nicht machte. Also, ich fand, dass der Mann dem Mädchen rote Rosen
schenkt, aber doch nicht umgekehrt. Es war, abgesehen davon, auch
selbstverständlich deshalb nicht in Ordnung, weil der Mann, wenn er rote Rosen
verschenkt, doch damit seine Liebe, sagen wir es ruhig, symbolisch zum Ausdruck
bringen will. Ja, er will dem Mädchen sagen, dass er es gerne körperlich lieben
möchte und weist es so auf seine Männlichkeit hin. Man kann das auch direkter
ausdrücken, aber Sie verstehen doch, was ich sagen will, oder?"
Ich
hatte bis dahin aufmerksam zugehört und war eigentlich der gleichen Meinung.
Ich sah es auch als Sache des Mannes an, als des Verliebten, rote Rosen zu verschenken
und nicht umgekehrt. Überhaupt kannte ich es immer so, dass in Liebesdingen der
Mann die Blumen verschenkt, um sich seiner Angebeteten zu offenbaren. Rote
Rosen haben darüber hinaus auch für mich einen festgelegten Wert. Sie sind ein
allen geläufiges Liebeszeichen. Eine einzige rote Rose entspringt einem ganz
klaren Wunsch, nämlich die Person körperlich lieben zu dürfen.
„Ja das
stimmt“, sagte ich ihr durchs Telefon. Ich wollte aber nicht soweit gehen und
ihr auch zugeben, dass ich in einem derartigen Geschenk, schon wegen der
Gestalt einer roten Rose, das bildhafte heftigen Liebeswerbens erkennen musste.
Tanjas
Mutter, hielt sich nicht lange dabei auf: „Ich hab' sie ganz naiv gefragt, was
sie sich denn dabei denkt, wenn sie einem Mann eine rote Rose schenkt.
‚Mami’,
hat sie. gesagt, ‚das ist nicht einfach eine rote Rose, sondern das ist eine
Baccararose. Das bedeutet für den, dem man sie schenkt: Liebe, Liebe, Liebe bis
in alle Ewigkeit’.
Das
sagte sie ganz ruhig, ja sie sang es fast. Es hörte sich gut an und war
überzeugend.
Ich
begann von vorne: ‚Was meinst du denn, was dein Verehrer sagen wird’.
‚Er ist
nicht mein Verehrer’.
Sie sang
das immer mehr, und ich musste mich hinsetzen, stand aber gleich wieder auf.
‚Er ist
nicht dein Verehrer? Was ist er denn dann’.
‚Ich
hoffe, dass er mich liebt’.
‚Wie
bitte? Du weißt nicht einmal, ob er dich liebt, und dann schenkst du ihm diese
Baccararose, oder wie die heißt?'
‚Ja,
Mami. Weil ich möchte, dass er mich liebt’.
‚Du
möchtest, dass er dich liebt. Weißt Du, wie wir das früher nannten?'
‚Ja,
Mami, weiß ich, früher hätte es geheißen, dass ich mich ihm an den Hals
schmeiße, ja?'
‚Das
stimmt’.
Tanja
summte vor sich hin: ‚Und heute heißt es, dass ich ihn mir nicht wegnehmen
lasse. Die Konkurrenz schläft nicht. Und er ist zurzeit so weit weg, dass ich
ihn nicht immerzu für mich interessieren kann. Ich muss doch etwas machen,
verstehst Du? Früher hättet ihr auch gesagt, dass ich ihm nachlaufen würde.
Stimmt's? Natürlich stimmt es, aber die Zeiten haben sich geändert, Gott sei
Dank’.
‚Ist dir
das nicht peinlich, ihm eine rote Rose zu schicken? Schämst du dich da nicht
vor ihm?'
‚Warum sollte ich mich
schämen. Ich weiß doch, was es bedeutet, eine Baccara zu verschenken, und er
kann stolz sein, wenn er eine von mir bekommt. Direkter kann ich ihm meine
Wünsche nur noch schreiben oder sagen. Er wird das wunderbar verstehen.
Vielleicht kümmert er sich so nicht so sehr um andere. Kontrollieren kann ich
ihn auf die Entfernung sowieso nicht’.
Sie
hatte ihr Paket inzwischen fertig, beschriftet und zugeschnürt. Dann kam sie zu
mir: ‚Hast du ein bisschen Porto?'
‚Was
soll ich haben, Porto?'
‚Ja, ein
bisschen Geld, damit ich es zur Post bringen kann’.
Sehen
Sie, so fing das an. Ich fragte noch, wie heißt denn der Knabe.
Sie
sagte: ‚Der ist kein Knabe. Du, der ist erwachsen’.
Ich
ahnte Schlimmes.
Sie
wieder: ‚Der wohnt nicht richtig hier. Den hab' ich auf der Durchreise
kennengelernt. Das ist ein ganz süßer Typ. Leider verheiratet’.
Ich
suchte nach einem Stuhl. Ich brauchte wieder einen Halt.
Das
hatte ich zwar geahnt, damit gerechnet hatte ich aber überhaupt nicht.
Immerhin, schoss es mir durch den Kopf, wird das wenigstens nicht von langer
Dauer sein. Ich atmete schwer, holte mein Portemonnaie, und gab ihr Geld
daraus.
Sie
sagte: ‚Kannst dich abregen, das wird wegen seiner Frau doch nicht von langer
Dauer sein. Das weiß ich aus Erfahrung. Die Frauen spielen meistens verrückt,
und die Ehemänner kuschen dann. Aber er ist so süß, dass ich ihn anbeißen
könnte. Er ist genau mein Typ’.
Ich
fragte ganz langsam, weil ich vor der Antwort Angst hatte: ‚Wohin geht denn das
Paket?'
‚Na, an
ihn? Was dachtest du denn’.
Sie
nannte mir dann den Namen des Mannes. Hab' ich aber vergessen. Ich fragte
weiter: ‚An seine Adresse?'
‚Ja,
klar’.
‚Dann
erfährt doch seine Frau davon’.
‚Ja,
kann sie ruhig. Das haben wir so vereinbart’.
‚Was
habt ihr vereinbart?'
‚Na,
wohin wir uns schreiben, dass wir dann die richtige Postanschrift benutzen.
Kann doch jeder wissen, dass wir uns lieben’.
‚Jeder?
Und die Frau von ihm?'
‚Die
auch, selbstverständlich. Das wäre doch unfair, wenn die nichts davon wüsste,
schließlich ist sie doch mit ihm verheiratet, nicht?'
Nun
frage ich Sie, verstehen Sie das. Ist das richtig von ihr, sich so
rücksichtslos der Frau gegenüber zu benehmen?"
Ich war
direkt gefragt, ich sollte antworten, obwohl ich gar keine feste Meinung dazu
hatte.
Ich
sagte deshalb: „Viele sehen vieles heute ganz anders, als man es mir und
vielleicht auch Ihnen beigebracht hat.
Kann
sein, dass es für die eine oder andere Ehefrau besser ist, Bescheid zu wissen,
als die Betrogene zu sein. Man kann auch nicht wissen, wie die Verhältnisse in
der Ehe sind. Möglich, dass die Frau ihn auch betrügt. Vielleicht, breiten sie
sogar gegenseitig voreinander ihr Liebesleben aus. Man weiß das nicht. Tanja
hat sich, finde ich jedenfalls, für ihr Alter ziemlich weit oben an einer
bestimmten Altersgrenze orientiert, wenn der schon verheiratet war. Wissen Sie
noch, wie alt der Mann war?"
„Die
waren alle so zwischen fünfunddreißig und fünfundvierzig“.
„Alle?"
„Ja,
alle, und dieser war ja nur einer der ersten in einer langen Reihe“.
Ich
fragte nach: „Wie ging's denn weiter?"
„Na, sie
hat ihr Paket abgesandt und nie wieder etwas von ihrem Typ gehört“.
„War sie
traurig?"
„Nein ,
keinesfalls. Sie kam aber irgendwann zu mir und fragte wieder nach Porto.
Ich
sagte: ‚Wieder Rosen?' Sie sagte nur: ‚Ja'.
Ich:
‚Baccara?'
‚Ja.
Diesmal ist es aber anders’.
‚Anders?
Heißt das teurer?'
‚Ja’.
Ich
musste mich wieder setzen. Sie war ganz still. Sie beobachtete wohl, wie es in
mir arbeitete.
Sie
sagte: ‚Vielleicht kommst du drauf’.
‚Worauf
soll ich kommen’.
‚Na,
warum es teurer wird’. Ich kam nicht drauf.
‚Du’,
sagte sie, ‚ich hab' es die letzten Male…'
Ich
dazwischen: ‚Male?'
‚Ja, ja,
also ich hab' es die letzten Male nicht richtig gemacht. Ich hatte mir
vorgestellt, wenn der die Blumen auspackt, und er weiß ja nicht, was in dem
Paket ist, dann greift der doch als erstes in den nassen Zellstoff. Der kann
sich in dem Augenblick ja gar nicht richtig freuen, weil er so viel ekelhaft
Nasses auspacken muss. Das war völlig falsch von mir. Ich habe drüber
nachgedacht. Und einer hat mich auch wissen lassen, dass das ganze Paket
durchnässt war, und dass er den ‚ganzen Kram' gleich weggeworfen hat. Das fand
ich nicht gut’.
‚Also,
wie machst du's nun?'
‚Na,
ganz einfach, ich beauftrage eine Firma, die eine Rose über die Städte hinweg
ausliefert. Man kann ganz genau sagen, welche Rosenart man haben möchte und
dass sie sie schön bindet und frisch anliefert. Das tun die auch’.
‚Kostet
eben nur ein wenig mehr, ja? Tanja lass doch die ganze Rosenversenderei sein.
Das ist doch weggeschmissenes Geld’.
Sie
glauben es nicht, aber das hätte ich lieber nicht sagen sollen. Sie hat mit
einer einzigen Handbewegung das ganze Porzellan vom Küchentisch gefegt, hat
mich eine stinkige, geizige Kuh genannt, und ist ohne Mantel, so wie sie war,
hinausgelaufen. Sie war Tage und Nächte nicht zu erreichen. Wir hatten keine
Ahnung, wo wir sie hätten suchen sollen.
Sie
tauchte aber ebenso plötzlich mit dem glücklichsten Gesicht von der Welt wieder
bei uns auf. Meinem Mann hatte ich gar nicht erst von der Geschichte erzählt.
Er
fragte sie aber, was denn losgewesen sei.
Sie
fragte zurück: ‚Hat dir Mami nichts erzählt?'
‚Nein, nur
dass Porzellan zu Bruch gegangen ist’.
Ich ging
aber dazwischen, weil ich befürchtete, dass sie mit ihrem Drang zur Wahrheit,
alles erzählen würde, und sagte zu ihm: ‚Das erzähl ich dir später, nun lass
mal sein’. Er hat dann Ruhe gegeben.
Aber
Tanja hat zu mir gesagt: ‚Die ganze Gesellschaft ist verlogen. du auch. Merkst
du das eigentlich nicht?'
Glauben
Sie, dass ich mich richtig erschrocken hatte und wie gelähmt dastand? Muss ich
mir von meinem eigenen Kind so etwas sagen lassen? Aber ich antwortete nicht,
weil ich wusste, dass sie recht hatte. Ja, ich habe mich richtig geschämt“.
Ich
fragte nach: „Ging die Geschichte denn trotzdem noch weiter?"
„Ja,
aber es passierte nicht mehr viel, jedenfalls nicht mehr viel Neues. Tanja
hatte inzwischen mitbekommen, dass beim Versenden ihrer Rosen über ein
Unternehmen sehr oft ein völlig Falscher die Rose in Empfang nahm. Es kam
nämlich meistens so, dass die Ehefrauen oder die Lebensgefährtinnen, an die
Türen gingen. Die wunderten sich, dass die Sendungen an den Mann adressiert
waren und hielten das häufig für eine geschickte Tarnung. Sie dachten, dass die
Rose selbstverständlich ihnen von einem Verehrer zugedacht war.
So kamen
sie gar nicht auf die Idee, dass es hätte anders sein können. Tanja ließ zwar
mit ihrem richtigen Namen unterzeichnen. Das führte aber dennoch häufig dazu,
dass ein Männername interpretiert wurde, Tankret, Tanko oder zum Beispiel
Tamino, oder dass man das für einen raffinierten Einfall hielt. So blieb häufig
den Männern das Wissen um die ihnen zugedachte Rose aus, auch weil die Damen
das Kärtchen rasch entfernten.
Es hatte
lange gedauert, bis Tanja das mitbekommen hatte. Sie dachte wieder über neue
Möglichkeiten nach und verfiel auf eine andere Größenordnung. Nach ihrer
Meinung lag das Problem darin, dass sie nur eine Rose versandte. Am liebsten
hätte sie einen ganzen Strauß Baccararosen verschickt.
Sie
erkundigte sich nach neuen Möglichkeiten und erfuhr, dass sie statt des
angehängten Namenskärtchens auch einen Text mit aufgeben konnte. Das wurde noch
teurer, weil ja auch der Text telefonisch durchgegeben werden, neu geschrieben
und in einen Umschlag gegeben werden musste.
Für
diesen Aufwand musste sie wenigstens den dreifachen des bisherigen Preises
bezahlen. Dafür reichte ihr Geld aber bei weitem nicht mehr aus. Ihre
Liebespost ging häufig einmal pro Woche raus. Sie sandte quer durch die Stadt,
über Land und in andere Städte. Ihr Verschleiß an Männern war eben sehr, sehr
groß.
Ihre
Liebe zu den Männern war aber wahrhaftig, soweit ich das sehen und von ihr
hören konnte. Wenn ich nämlich bedenke, mit welcher Standhaftigkeit sie immer
wieder bei mir ankam, um sich Geld zu leihen: ‚Mami, das bekommst du garantiert
alles von mir wieder. Bitte nur noch dieses eine Mal’ und wieder und wieder: ‚Nur
noch dieses eine Mal', dann überzeugte mich das.
Ich
konnte nichts mehr sagen. Ich zahlte nur noch und hoffte und hoffte und hoffe
immer, dass das endlich ein Ende haben würde. Können Sie das verstehen?"
„Ja, das
verstehe ich gut“. Das musste ich zugeben.
Tanjas
Mutter wieder: „Und warum das ganze? Sie ließ darüber nicht mit sich reden, und
mir fiel es schwer, ihr nicht zu glauben. Sie liebte die Männer und wollte sie
glücklich machen, oder ich weiß nicht, was es sonst hätte gewesen sein sollen“.
Aus dem,
was Tanjas Mutter am Telefon erzählte, verstand ich gut, dass Tanja als
Glücksbotin die Männer nicht erreichte, sondern dass sie fortwährend ihrem
Glück, ihrem Liebesglück, hinterherlief. Und auch, dass sie die Mutter dauernd
anpumpte, sich ihr irgendwie auslieferte, sich in ihre Schuld im wahrsten Sinn
des Wortes begab und nicht, wie es zu sein schien, in die Abhängigkeit der
Verehrer, bewies mir ihre große Hilflosigkeit.
Die
Liebe, nein ihren Wunsch nach Geliebtwerden, versuchte sie durch die Umkehrung
der normalen Verhältnisse zu erzwingen. Warum sollte eine Frau einem Mann keine
Blumen schenken. Daran hätte doch niemand etwas auszusetzen gehabt. Aber eine
Baccararose zu wählen, deren Versand in einer Eigenverpackung vorzunehmen,
dann, als Steigerung davon, das Verschicken durch ein Blumenhaus durchführen zu
lassen, und damit immer noch nicht genug, schließlich nicht nur eine einzige
Rose, sondern einen ganzen Strauß, ohne große Rücksicht auf die Kosten, zu
versenden, und das nicht nur an einen einzigen geliebten Mann, sondern an eine
Reihe aufeinanderfolgender Liebhaber, stellte nicht die Liebhaber, sondern nur
Tanja in den Mittelpunkt. Die einzige, die das im Zusammenhang hätte erkennen
können, war die Mutter.
Tanjas
Mutter erwartete keine große Meinungsäußerung von mir.
Ich
fragte aber nach: „Hat der Österreicher denn auch schon Rosen bekommen?"
Darauf
sagte sie nachdenklich: „Das kann ich nicht richtig wissen, denn erstens ist
sie ja dauernd mit ihm zusammen, bis auf wenige Ausnahmen, und zweitens könnte
sie ihm ja auch welche gesandt haben, ohne dass ich es weiß. Drittens aber, und
deshalb bezweifele ich das, scheint sie diesmal ihre Taktik geändert zu haben.
Ich sagte ja, dass sie ihn heiraten will. Also, wenn sie mich fragen, ist das
nichts anderes, als derselbe Versuch; nur eben mit anderen Mitteln“.
Dem
wollte ich nicht widersprechen, weil ich genau das gleiche dachte. Es blieb ihr
nicht mehr viel zu erzählen, so dass ich mich bei ihr für den Rückruf bedankte.
Ich
sagte ihr für Tanja noch einmal meine Telefonnummer: „Nur für den Fall, dass
sich eine Gelegenheit ergibt, sie ihr auszuhändigen“.
Ich
wagte es nicht, sie sonst noch um irgendetwas zu bitten. Am liebsten hätte ich
sie immerzu gefragt, ob es denn wirklich dabei bleiben würde, dass sie mich
weiterhin mit Nachrichten oder Neuigkeiten versorgen würde.
Sie
sagte aber aus sich heraus: „Wenn mir noch etwas einfällt, oder ich etwas
erfahre, melde ich mich. Ganz bestimmt. Ist Ihnen das recht?"
„Na, Sie
wissen doch, wie recht mir das ist. Über wen oder wie sollte ich sonst etwas
von ihr erfahren“. Damit legten wir die Hörer auf.
In der
folgenden Nacht hatte ich einen Traum. Das besondere dieses Traumes war nicht
nur, dass ich den Inhalt am nächsten Morgen noch sehr gut erinnerte, sondern
auch der Inhalt selbst. Sicher, so sagte ich mir, haben Träume stets etwas
Fremdes, häufig etwas sehr Unwirkliches. Dieser Traum war eigentlich ein
doppelter Traum.
Er
spielte sich in zwei völlig verschiedenen Ebenen ab. Ich wunderte mich
überhaupt, dass ich einen solchen Traum hatte. Er hing mit Tanja und mir
zusammen, obwohl im Gespräch mit Tanjas Mutter am Tage vorher nichts
offengeblieben war. Mit meinen gestrigen Fragen und mit ihren Antworten war ich
bestens zufrieden gewesen und hätte mich während des Schlafes nicht noch
zusätzlich damit auseinander zu setzen brauchen. Das Gehirn arbeitet aber
anders, und so hatte ich meinen Traum.
Wenn ich
nun versuche, ihn so gut es geht, vorüberziehen zu lassen, dann finde ich
leider keine richtigen Fragen und keine richtigen Antworten darin. Ich entdecke
nicht, welche Bedeutung der Traum haben könnte. Ich versuche einzig deswegen,
mich möglichst genau an alles zu erinnern, weil ich hoffe, dass er vielleicht
dadurch deutbar wird.
In dem
Traum erscheinen Tanja und ich.
Tanja
befindet sich nicht in meiner Nähe. Wir sind, jeder für sich, allein. Tanja
befindet sich auf einem mit hügeligen Wüsten überzogenen fremden Gestirn. Sie
geht dort offenbar spazieren.
Ab und
zu stochert sie mit dem Schuh im Sand herum und scheint sich zu langweilen. Auf
gar keinen Fall wartet sie auf jemanden. Das kann ich deswegen wissen, weil ich
mit den Gedanken von Tanja vertraut bin, Ihre Gedanken sind zugleich meine
Gedanken. Meine Stimme ist in ihrem Kopf, ich denke ihre Gedanken. Körperlich
bin ich jedoch weit entfernt von ihr.
Ja, sie
langweilt sich. Sie ist auch etwas ängstlich und zugleich ein wenig wütend. Sie
tritt mit dem Absatz ihres hochhackigen Schuhes in den Sand, so dass der nach
vorne stäubt. Obwohl sie so hohe Schuhe trägt, versinkt sie damit nicht im
Sand. Beide Schuhe bleiben immer auf der Oberfläche.
Meine
Stimme in ihrem Kopf: ‚Du, das gibt es doch gar nicht’.
Ihre
Stimme in meinem Kopf: ‚Das denkst aber nur du. Es gibt noch ganz andere Dinge,
von denen du überhaupt keine Ahnung hast’.
Meine
Stimme in ihrem Kopf: ‚Was denn zum Beispiel?'
Ihre
Stimme: ‚Wirst schon sehen. Wirst dich wundern, bist doch Ingenieur, oder?'
Dabei
springt sie ganz leicht nach oben und bleibt in halber Höhe im Raum stehen.
‚Siehst
du? Ich bin nämlich gewichtslos’.
Das
erstaunt mich und ich versuche das gleiche. Ich klebe fest am Boden. Obwohl ich
nicht bei ihr bin, versuche ich zu springen. Ich weiß, dass das deshalb nicht
funktionieren kann. Ich bin ja nur in ihrem Kopf. Ich denke, sie hat mich
reingelegt. Tanja bleibt, wo sie ist und lacht. Dann beginnt sie leise ein Lied
zu summen. Ich selbst bin auf der Erde in einem Zimmer. Ich sitze an meinem
Schreibtisch und denke: ‚Ach, lass sie doch, schreib du deinen Brief. Der ist
wichtig, der muss pünktlich sein’.
Ich habe
alles zur Hand. Den Brief schreibe ich aber nicht mehr, weil er fertig auf dem
Tisch liegt. Ich wundere mich und kann losgehen, um ihn einzustecken. Überall
sind die Straßen leer. Es scheint auf meinem Weg zum Briefkasten nur Straßenecken
zu geben. Hinter jeder ist gleich eine neue. Tanja habe ich vergessen.
Ich
frage mich unentwegt, ob ich auch das Porto auf dem Umschlag habe.
Ja, es
ist drauf.
Ich
frage mich das wieder und wieder. Es ist immer noch drauf.
Ob ich
etwas vergessen habe. Nein, ich habe nichts vergessen. Ob ich noch weiß, dass
der Brief wichtig ist. Ja, ich weiß, dass der Brief wichtig ist. Ob ich ihn
überhaupt geschrieben habe. Ja, ich habe ihn geschrieben.
Da ist
der Briefkasten. Der Brief ist sehr wichtig. Ich schiebe ihn in den Schlitz und
lasse los. Sofort weiß ich, dass der Brief kein Datum hat.
Ihre
Stimme in meinem Kopf: ‚Siehst du, dein Brief hat kein Datum. Das hast du
vergessen’.
Ich
greife sofort dem Brief nach in den Schlitz hinein und erreiche ihn nicht.
Tanjas
Stimme in meinem Kopf: ‚Hab' ich dir doch gesagt, du wirst dich wundern’.
Hat sie
das gesagt? Ja, sie hat es gesagt. Tanja sinkt langsam zurück auf ihren Boden.
Sie nimmt Papier. Sie hat einen kleinen Bogen Papier in der Hand.
Meine
Stimme in ihrem Kopf: ‚Was soll das denn werden?'
Sie
antwortet richtig mit dem Mund: ‚Das wird ein Flugzeug. Ein Flugzeug aus
Papier’.
Meine
Stimme in ihrem Kopf: ‚Aber Tanja, du kannst doch gar kein Flugzeug aus Papier
basteln. Das wird nie fliegen können. Da muss ich dir helfen’.
Sie
spricht wieder: ‚Du kannst mir gar nicht helfen, weil du ja den Briefkasten
beobachten musst, oder hast du das vergessen?'
Ich
erschrecke und empfinde Panik: ‚Mein Gott, ich muss ja warten, bis der Postbote
kommt, um mir den Brief herausgeben zu lassen. Ich muss ja das Datum
nachtragen. Sie hat recht. Ich kann ihr gar nicht helfen. Ich kann nur immerzu
auf den Briefkasten starren und auf den Postboten warten’.
Tanjas
Stimme in meinem Kopf: ‚Du wirst dich noch wundern’.
Ich bin
erstaunt darüber: ‚Warum Tanja?'
Ihre
Stimme: ‚Weil meine Flugzeuge fliegen werden’.
Meine
Stimme in ihrem Kopf: ‚Ach, Tanja, die können hier nicht fliegen. Es gibt bei
dir doch gar keine Luft. Die Flugzeuge fliegen nur, wenn es auch Luft gibt’.
Sie
spricht wieder: ‚Du wirst dich trotzdem wundern, du bist doch Ingenieur, ja?'
Meine
Stimme: ‚Ja, das stimmt’.
Sie
sagt: ‚Pass auf, dein Postbote kommt’.
Der
Postbote war blitzschnell da, öffnete den Briefkasten und holte nur einen Brief
heraus. Es war mein Brief. Ich wollte den Brief sofort haben und ihn ohne ein
Wort aus seiner Hand nehmen, aber er wusste das.
Er sah
mich schon so lauernd an, als ich danach greifen wollte und rannte sofort mit
ihm los. Ich war auf der Straße so festgeklebt wie in Tanjas Kopf auf dem
Gestirn. Als der Bote weit genug fort war, blieb er stehen. Bis dahin war kein
einziges Wort zwischen uns gefallen.
Nun aber
rief er mir zu: ‚Das haben Sie sich ja schön ausgedacht. Sie sind ein
Briefedieb. Wissen Sie nicht, dass das verboten ist? Ich werde Sie anzeigen’.
Tanja
rief von drüben herüber: ‚Siehst du wie schön sie fliegen?'
Sie
hatte einen gewaltigen Berg von Papierflugzeugen gebastelt und stand oben
drauf, ohne darin zu versinken. Die kleinen Flugzeuge stiegen eines nach dem
anderen, von ihrer Hand ganz leicht angeschubst, in alle möglichen Richtungen
auf. Sie stiegen langsam und blieben dann in einer Schräglage, andere ganz
willkürlich im Raum über ihr stehen. Manchmal stieß eines gegen das andere,
dann lachte sie.
Ich rief hinüber: ‚Ich muss dir erst einmal zeigen, wie man
solche Flugzeuge bastelt, so können die doch gar nicht fliegen. Verstehst du
das denn nicht?'
Sie
summte und sang vor sich hin. Auch als sie sprach, sang sie: ‚Weißt du denn
nicht, dass meine Flugzeuge schon lange fliegen. Sieh doch hin. Du solltest
dich lieber um deinen Brief kümmern. Ist der nicht mehr wichtig?'
Mir fiel
mit neuem Entsetzen der Brief ein.
Ich war
jetzt wieder an meinen Schreibtisch und schrieb ihn ein zweites Mal. Der Brief
lag aber wieder fertig vor mir. Ich wusste, dass diesmal nichts fehlte.
Diesmal
machte ich alles richtig. Diesmal wollte ich alles richtig machen. Ich wollte
deshalb kontrollieren, ob der wichtige Brief auch richtig ankäme und würde ihn
selbst ausliefern. Ich machte mich zum Boten meines Briefes.
Tanja
rief herüber: ‚Lass dir Zeit’.
Ich rief
zurück: ‚Warte, damit ich dir zeigen kann, wie man ein solches Flugzeug richtig
baut, deine bleiben ja im Raum stehen. Siehst du nicht, dass sie gar nicht
richtig fliegen? Die steigen doch nur auf. Du musst auf mich warten, du musst’.
Sie sang
ihr Lied: ‚Ja, ja, warten werde ich. Ich werde auf dich und deine Flugzeuge
warten’.
Ich
rannte los und rannte und rannte und traf beim Empfänger meines Briefes ein.
Ich stand vor meinem Schreibtisch. Dort lag schon mein erster Brief. Er war
abgestempelt und mit einem Eingangsdatum versehen.
Ich war
schrecklich ungeduldig. Niemand saß am Tisch. Ich fragte laut nach dem
Bescheid.
Nun saß
ich hinter dem Tisch und sagte zu mir: ‚Sie müssen sich in Geduld üben’.
Ich
stand vor mir und dachte über andere Wege nach, um an den Bescheid zu gelangen.
Ja, ich kannte jemanden, der könnte mir helfen. Ich hatte immer noch einen
Brief in der Hand.
‚Das‘,
dachte ich, ‚ist der zweite Brief, den werde ich jemandem geben. Derjenige muss
mir helfen‘.
Ich
rannte wieder los.
Es war
niemand anzutreffen. Die Straßen blieben leer. Ich dachte an Tanja. Sie könnte
mir helfen.
Meine
Stimme in Tanjas Kopf: ‚Kannst du mir helfen, den Bescheid zu erfahren?'
Sie
sang: ‚Ja, das kann ich’.
Meine
Stimme: ‚Und. ?'
Ihr
Mund: ‚Was und.’.
Meine
Stimme in ihrem Kopf: ‚Wie ist der Bescheid’.
Sie:
‚Das weißt du doch’.
Ja, den
Bescheid kannte ich.
Tanja:
‚Erst musst du für mich einen Brief schreiben, dann erfährst du den Bescheid,
ganz gewiss’.
Ich saß
wieder an meinem Schreibtisch und rief hinüber: ‚Also kenne ich den Bescheid
noch gar nicht?'
Sie sang
es ganz langsam: ‚Neihein’.
Ich war
enttäuscht. Nun musste ich für Tanja den Brief schreiben. Der Brief lag aber
wieder fertig auf dem Tisch. Ich wusste auch, dass es immerzu derselbe Brief
gewesen war.
Ich rief
zu ihr hinüber, ob sie an alles gedacht hätte.
Sie
schüttelte ihren Kopf und sagte: ‚Nein, du weißt doch, dass du meinen Brief
nicht geschrieben hast. Erledige das jetzt bitte. Aber richtig’.
Ich
sagte leise: ‚Ja’.
Tanja
sang herüber: ‚Mach' dich nun auf den Weg und besorge mir den Brief und gib mir
gleich Bescheid. Du brauchst dabei keine Sorge zu haben, ich sage dir nachher
die Lösung’.
Ich
fragte zurück: ‚Welche Lösung?'
Sie, zu
mir gewandt: ‚Na, ich denke, du willst deinen Bescheid haben, oder etwa nicht?'
Ich rief
hastig zurück: ‚Doch, doch, ja, natürlich, selbstverständlich’.
Ich
wusste nicht, wohin ich gehen sollte und blieb an meinem Schreibtisch sitzen.
Tanja
sang ein neues Lied; ‚Ich bin allein auf meinem Mond, und kenne mich nicht auf
ihm aus’.
Ich sah
genau, dass sie die Wahrheit sagte. Niemand war mit auf dem Gestirn. Sie stand
fast senkrecht zu meiner Richtung darauf. Der Himmelskörper befand sich unter
ihr. Sie reichte sehr weit zu mir herüber, aber es wäre undenkbar gewesen, zu
ihr zu gelangen. Ich hätte durch den Raum schweben müssen. Ich konnte aber
nicht schweben. Das wusste sie. Sie konnte schweben.
Ihre
Stimme war in meinem Kopf: ‚Es stimmt, Herr Ingenieur, ich kann schweben, Sie
können nicht schweben’.
Sie
kicherte und lachte.
Mir fiel
ein, dass sie tätowiert sein müsste. Daran wollte ich sie erkennen. Das musste
doch ganz leicht sein. Dann hätte ich den Bescheid. Ich sah hinüber.
Meine
Stimme in ihrem Kopf: ‚Bist du tätowiert?'
Sie
lachte: ‚Sieh doch nach. Aber das traust du dich nicht, nicht wahr? Dazu ist
sich der Herr wohl zu fein? Mir willst du zeigen, wie ich Flugzeuge basteln
soll und du selbst kannst mir nicht 'mal auf die Haut schauen’. Das hatte sie
wütend und unbeherrscht gesagt. Dann ganz milde: ‚Ja, mein Lieber, ich habe
Tätowierungen. Du hast geglaubt, die wären auf der Haut, ja? Du hast geglaubt
die wären echt, ja? Hast du das? Sind sie aber nicht, sie sind alle auf der
Jacke. Deswegen trag' ich sie’.
Die Jacke lag im Sand. Sie war übervoll mit Tätowierungen.
So viele hatte ich vorher noch nie in meinem Leben gesehen.
Sie sang wieder: ‚Mach dir nichts draus. Hast du meinen Brief
besorgt? Ja? Das ist lieb von dir’.
Sie schaute nun in den Himmel über sich. Der war
tiefschwarz, als wäre er mit stumpfer Farbe ausgemalt. Es war kein Stern zu
sehen. Davor standen Hunderte ihrer kleinen Papierflugzeuge fast ohne eine
einzige Bewegung. Manchmal machte eines davon doch noch eine ganz kleine
Restbewegung und stieß an ein anderes. Sonst aber waren alle in Ruhe. Es war
ein seltsamer Anblick.
Tanja hielt ihre Hände übereinandergelegt und drückte sie
in den Schoß. Sie schaute mit dem ganzen Gesicht direkt nach oben in die still
stehenden kleinen Flieger. Die sahen nicht wie Spielzeug aus. Die sahen wie
eine besondere Art von Sternen aus. Sie waren schneeweiß, aber sie blinkten
nicht.
Tanja sagte: ‚Nach einer gewissen Zeit werden sie sich nicht
mehr halten können’.
Ich wunderte mich und fragte von meinem Schreibtisch aus
hinüber: ‚Nein? Warum denn nicht’.
Sie sagte: ‚Bist du dumm, dass du das nicht weißt?'
Ich rief noch einmal: ‚Ich weiß es wirklich nicht’.
Sie sagte: ‚Die müssen doch alle wieder zurück kommen,
weil sie ja angezogen werden’.
Ich sah, dass zwischen ihren Schuhen und dem Sand wieder
ein Abstand entstand, dass sie wieder schwebte.
Ich fragte: ‚Wirst du denn nicht auch angezogen?'
Sie: ‚Warum fragst du mich das? Ich bin ganz ehrlich, ich
weiß es nicht’.
Ich rief zurück: ‚Das glaube ich. Aber jetzt will ich dir
zeigen, wie man Flugzeuge bastelt, die nicht stehen bleiben, sondern richtig
fliegen können; die später nicht wieder herunterkommen’.
Es war aber kein Papier da. Sie hatte alles Papier für
ihre Flugzeuge verbraucht. Für mich war nichts mehr da.
Ich rief: ‚Gibst du mir noch Bescheid?'
Sie: ‚Deinen Bescheid?'
Ich: ‚Ja, bitte’.
Sie,
ganz langsam: ‚Aber den habe ich dir doch gerade gegeben’.
Ich
verstand das nicht: ‚Entschuldige, dann habe ich nicht zugehört’.
Tanja
spielte und schaute gar nicht auf mich. Ich sollte also darüber nachdenken, was
sie meinte.
Sie von
drüben: ‚Kommst du nicht mehr drauf?'
Ich am
Schreibtisch: ‚Doch, doch, einen Augenblick noch’.
Sie
wieder: ‚Warte nicht zu lange. Gleich stürzen die Flugzeuge ab. Es muss gleich
soweit sein’.
Ich
fragte: ‚Ist das schlimm?'
Sie:
‚Für dich nicht, du hast ja keine gebastelt’.
Ich:
‚Aber für dich?'
Sie
erklärte: ‚Wenn sie abstürzen, werden sie immer schwerer und, und das bitte ich
dich mit ins Protokoll zu nehmen, sie werden auch immer größer. Sie werden mich
erschlagen’.
Das
konnte ich nicht glauben: ‚Da muss ich aber lachen, solche kleinen
Papierdinger. Die lassen sich ja direkt am Himmel anzünden, dann sind sie alle
weg’.
Ich saß
an meinem Schreibtisch und sah nun, wie die Flugzeuge sich tatsächlich dem
Gestirn zuwandten und ganz leicht und ganz langsam herunter schwebten. Es waren
sehr viele. Sie blieben federleicht, das sah ich. Sie wurden nicht größer. Der
Berg um Tanja wuchs aber an. Sie schaute immer noch nach oben, hielt ihr
Gesicht den Papierfliegern entgegen. Nach und nach wurde sie davon, aufrecht
stehend völlig zugedeckt. Es war nichts mehr von ihr zu sehen. Ihre Stimme in
meinem Kopf: ‚Ich habe doch gesagt, dass du dich wundern wirst, Herr Ingenieur.
Damit haben Sie wohl nicht gerechnet, oder?'
Von hier
aus gesehen schneite es drüben und meine Stimme in ihrem Kopf sagte: ‚Das hab'
ich auch schon gehört, dass Leute eingeschneit sind. So neu ist das nun
wirklich nicht’.
Drüben
blieb das Gestirn als eine große weiße Kugel, auf welche immer mehr Schnee
fiel, unbeweglich stehen“.
So hatte
ich geträumt. Die Reihenfolge ist nicht völlig sicher, aber im großen und
ganzen war es so. Wie sollte ich das nun deuten? Ich konnte und kann mir keinen
Vers darauf machen.
Wenn es um Gerüche geht, bin ich empfindlich, sehr
empfindlich. Der leicht bittere Geruch der Astern, die ich mir neulich in die
Vase gestellt hatte, ging mir lange nicht aus der Nase. Schlimmer als bittere
Gerüche sind die vermeintlich wohlriechenden Wässerchen, sei es ein Parfum,
Rasierwasser oder eines dieser aufdringlichen Deodorants, wie sie manchmal von
Männern gerne benutzt werden.
Es ist für mich eine persönliche Beleidigung, mir morgens
von Kollegen die Hand zum Gruß geben lassen zu müssen und dabei genau zu
wissen, dass ich mit diesem Händedruck auch die Reste ihres Rasierwassers
abbekomme. Ich ekele mich schon im Voraus davor. Ich gehe dann sofort los, um
mir erst einmal ausgiebig die Hände zu waschen. Als ebenso schlimm empfinde ich
es, von einer geschminkten Frau einen Wangenkuss und somit den Duft ihrer
Tagescreme, ihres Riechwassers oder was immer es sei, dauerhaft übertragen zu
bekommen. Diese Cremes lassen sich nämlich nur sehr schwer herunter waschen.
Manchmal werde ich sie über den ganzen Rest des Tages nicht wieder los.
Wenn in meiner alten Wohnung Blumen auf den Tisch gestellt
wurden, kam es sehr häufig vor, wenn es ein gemischter Strauß war, dass eine
Blüte darunter war, deren Duft mich störte. Ich konnte das eine ganze Weile
ertragen und unterdrückte auch solange den Wunsch, diese eine Blüte ausfindig
zu machen und sie oder den ganzen Strauß zu entfernen. Dann kam aber der Augenblick,
dass ich es nicht mehr aushielt und ich mich auf die Suche machte.
Auch Wischlappen, die nicht mehr ganz frisch sind,
hinterlassen auf den gewischten Tischen, Schränken, an den Stühlen, einen
äußerst unangenehmen Geruch. Den ertrage ich überhaupt nicht. Als erstes
entferne ich den Lappen und wische alle riechenden Stellen nach. Es gibt aber
auch Düfte, die mich für alles entschädigen. Das sind Rosendüfte zum Beispiel,
Meerluft, die nach Seetang riecht, und frischer Duft aus einer Backstube, oder
der flüchtige Parfumgeruch einer vorbeigehenden Person, ja eigentlich der
persönliche Geruch einer vorübergehenden weiblichen Person, den ich zu
erhaschen suche und sofort wieder aus der Nase verliere.
Das sind für mich Erlebnisse, wahre Geruchssensationen.
Als ich meine erste Freundin hatte, damals war ich noch
Schüler und legte mich mit ihr, zusammen mit anderen Schülern und Schülerinnen
ins Gras, atmete ich diesen aufregenden Geruch des Mädchens ein. Er hat sich
tief eingeprägt, er war ein Erdgeruch, etwas völlig anderes als ihn die anderen
Mädchen an sich hatten. Es war ein Körpergeruch, der mich irgendwie betäubte,
mir ein wenig die Besinnung nahm.
Später erfuhr ich von den anderen Mädchen: „Die wäscht
sich ja auch nicht mit Seife, die riecht bestimmt nach ihrem eigenen Körper.
Wahrscheinlich wäscht sie sich überhaupt nicht richtig. Wie widerlich“, sagten
sie noch dazu.
Mir war der Gedanke, dass der Geruch abstoßend sein
könnte, gar nicht gekommen. Viel später dachte ich dauernd darüber nach, ob
mich wirklich der Körpergeruch des Mädchens so verwirrt hatte. Dass es ihr
Körpergeruch gewesen war, schien mir kaum noch zweifelhaft zu sein.
Zuhause war ich täglich auf der Suche nach irgendwelchen
Gerüchen. Ich sagte dann, und das musste man mir schon ansehen: „Wonach riecht
es hier bloß wieder. Hat jemand ein neues Rasierwasser oder so?" Häufig
hatte meine Frau lediglich ein Gewürz gekauft, eine Flasche aufgemacht, oder
kurz zuvor ihre Fingernägel vom Lack befreit und die Watte mit dem
Lackentferner einfach in den Abfalleimer in der Küche getan. Ich öffnete dann
den Eimer wieder, angelte die Watte heraus und brachte sie nach draußen in den
großen Mülleimer.
Einer der schönsten Gerüche, an die ich mich erinnern kann
und die mich noch nie enttäuscht haben, ist der Geruch von frisch gewaschenem
Frauenhaar. Die Haare dürfen noch nicht mit irgendwelchen Mitteln bearbeitet
sein, sondern sie müssen gerade getrocknet sein und kurz vor der Frisur stehen.
Dieser Geruch könnte mir wirklich die Besinnung stehlen. Solch einen Geruch
muss ich mir dosieren. Ich darf nur einmal, höchstens zweimal in die Haare
hineinriechen, dann muss ich mich zwingen, aufzuhören. Mir wird sonst schlecht
davon. Ich halte das für ein ernstes Anzeichen einer Ohnmacht. Darin bin ich
mir sicher. Ich weiß allerdings nicht, woher ich diese Überzeugung nehme.
Gerüche haben eine völlig eigene Welt. Gerüche lassen sich
nicht in ihrer Wirkung kontrollieren. Gerüche lügen auch, denn alle Menschen
lieben ihren Eigengeruch, und der kann doch für andere sehr schlimm sein.
Tanja erlebte im letzten Juni einen Sommer, der allen, die
viel im Freien sein durften, in wohliger Erinnerung geblieben ist. Tanja hatte
an einem dieser schönen Tage viel vor. Sie war rechtzeitig aufgestanden und
hatte sich einen Spickzettel zum Einkaufen gemacht, der war lang und zwang sie,
wenn sie alles, was darauf stand, auch wirklich besorgen wollte, bereits im
Vorwege darüber nachzudenken, wo sie günstiger weise beginnen sollte.
Eigentlich, entschied sie, hatte sie sich zu viel vorgenommen, denn so wichtig
war das meiste gar nicht. Hinzu kam, dass sie auch noch einen Arzttermin
einhalten musste und noch vormittags, vor zwölf Uhr also, bei der Reinigung
gewesen sein musste. Die Sparkasse machte auch schon um zwölf zu. Dorthin
wollte sie zuerst gehen. Da die aber erst um neun Uhr aufmachte, was ihr zum
Glück noch einfiel, konnte sie mit einem Marktbesuch beginnen. Das erleichterte
sie, denn dazu hatte sie Lust. Sie ging buchstäblich frohen Sinnes und leichten
Herzens, nein, ausschauhaltend, irgendwie nach Leben, aus der Tür. Gleich
dahinter, noch auf der obersten Stufe, dem Treppenabsatz, bemerkte sie einen
Duft, der ihr warm, lieblich, bekannt, erinnerungsvoll, süß und liebkosend in
die Nase stieg. Sie war im Augenblick überrascht über die Plötzlichkeit, mit
der sie ihn empfing und war entzückt darüber, dass sie ihn kannte, auch wenn
sie nicht wusste, woher er kam und sich nicht so genau erinnerte, dass sie
hätte sagen können, was es genau war.
Sie schloss die Augen. Sie ließ ihre Tasche los. Die glitt
lautlos an ihren Beinen hinab und fiel mit einem leisen Geräusch auf den
Treppenabsatz. Tanja streckte der Sonne das Gesicht entgegen, und den Hals
reckte sie soweit es ging nach oben, um dem Duft möglichst nah zu sein. Sie sah
aus und fühlte sich als ein Katzentier, das sich unter seinem Fell streckt. Sie
genoss die laue Luft und sog sie durch die Nase immer und immer wieder ein. Sie
blieb eine geraume Zeit stehen, dann wurde sie neugierig auf den Ursprung und
dachte einige Sekunden, dass es Rosen hätten sein können. Dann musste sie aber
über sich lachen, denn sie stand direkt unter dem großen Fliederbusch vor dem
Haus, durch dessen Zweige die Sonne bis auf ihre Haut gelangte. Das gefiel ihr,
das war Leben, das war Genuss, das war Eitelkeit, denn das war ein Augenblick,
der nur ihr gehörte, das war auch Befriedigung durch etwas, was sie stets mit
wohligen Düften verbunden hatte, das war Geborgenheit, das war Ausruhen im
eigenen Schoß.
Sie
wusste und spürte es.
Ihr
Gesicht empfand aufsteigende Wärme, die kam nicht von der Sonne, sondern die
war das Erröten, welches aus einer mädchenhaften Scham entstand. Tanja lieferte
sich diesem Gefühl, diesem Bewusstsein, zu erröten, ganz und gar aus und
überließ sich auch einer gleichzeitigen Willenlosigkeit.
Sie
lehnte sich mit dem Rücken an eine halb hohe Wand, und beugte den Kopf noch
weiter in den Nacken und den ganzen Rücken noch weiter über die kleine Mauer,
ja gefährlich weit zurück. Ihre Geschmeidigkeit tat ihr gut, und sie stand
fest.
Dann,
einer Eingebung fast zu heftig folgend, hatte sie Angst davor, beobachtet zu
werden, und kam ruckartig wieder nach vorne. Sie blickte sich vorsichtig und
misstrauisch nach allen Seiten um und gewahrte niemanden. Wer hätte jetzt auch
zuschauen können. Das Haus war leer, im Nachbarhaus gab eine Klavierlehrerin
Unterricht, und die im Takt angeschlagenen Töne gaben diesem Augenblick eine
gewisse Härte und Lächerlichkeit.
Tanja
dachte: ‚Könnte die nun nicht ihre Schüler einmal etwas Passendes spielen
lassen? Aber woher soll die das wissen‘. Niemand sah ihr zu.
Manchmal
fuhr ein Auto vorbei.
Es war
das Gezwitscher einer versteckten Amsel zu hören, das hastige Geflatter und
Vorübereilen von kleinen Blaumeisen zu beobachten. Alles gehörte zusammen,
alles war eine Gemeinsamkeit, die Tanja wahrnahm. Sie ging vorsichtig bis an
die Vorderkante der Stufe und sog den Duft des Flieders aus nächster Nähe ein.
Sie
schloss die Augen dabei, als erwarte sie einen Kuss, und schien sogar ihren
Mund wie zu einem Kuss zu formen.
Die Arme
hingen an ihr herab und waren in den Ellenbogengelenken ganz leicht
angewinkelt. Die Hände hielt sie kaum merklich nach vorne gestreckt, als wollte
sie den zu Küssenden gleich mit ihren Armen umfassen. Sie öffnete die Augen
wieder und blickte ganz nah vor sich in die kleinen Blüten. Es war kein
Doppelflieder, sondern ein einfacher, blauer Flieder.
Der Duft
erinnerte sie an Honig und mit dieser Erinnerung fiel ihr auch ein, dass sie
als Kind die einzelnen Blüten abgezupft hatte, um durch die dünnen Röhrchen an
der Abrissstelle mit der Luft, die sie einsog, den Hauch von süßem Blütenstaub,
sie nannten ihn auch Honig, zu erhaschen. Jede Blüte gab nur einmal den Honig
her. Das wusste sie. Sie zupfte sich nun eine der Blüten ab und empfing mit der
eingesaugten Luft die ganze Süße und Wärme dieser Blüte. Ja, so war es damals
gewesen. So erinnerte sie es. Damals war es ihr genug gewesen, stellte sie
fest, heute blieb dieses Sättigungsgefühl aus. Was sie bekam, war nicht genug.
Es reichte ihr nicht.
Sie
dachte über eine Steigerung des ganzen nach. Sie vergaß, was sie sich für
diesen Vormittag alles vorgenommen hatte und wurde empfindlicher in ihrem
Gefühl und in ihrem Verlangen. Sie dachte mit Begriffen, die ihr selbst fremd
waren.
Sie
dachte daran, wie sie durch Zerstörung Steigerung erreichen könnte. Sie dachte
nicht mehr liebevoll an den Flieder als an ein Geschenk, wie zu Anfang, sondern
es war ihr, als hätte sie einen Feind vor sich, dem sie die Schätze, die er
hütete, mit einer List entreißen müsste. Sie schlich mit den Augen um die
Blütendolde, sah ganz scharf bis auf den Boden der Blüten und empfand die
verborgene Pracht darin als deren stolze Haltung. Ihr kam es vor, als wollte
die Dolde ihre Unnahbarkeit beweisen.
Ja, der
Flieder reizte zu gehässigem Tun.
Sie
wusste dennoch nicht, wie sie es anstellen sollte. Allein zu zerstören, war
nicht die Absicht, sondern dabei eine Befriedigung bis ins Verrückte zu
bekommen, war ihr Verlangen, und das wuchs mit jeder Sekunde.
Ihr
Gesicht war heiß, und die Wangen schienen mit einer zweiten Haut überspannt zu
sein. Der Duft des Flieders hatte ihr von jeher das Gefühl des Übermutes, der
Zügellosigkeit und der Verwirrung vermittelt. Neu war für sie, dass sie diesmal
darauf einging und es mit dem Flieder treiben wollte.
Ja, so
empfand sie es: ‚Diesmal, Flieder, will ich es mit dir treiben. Wenn ich nur
wüsste, wie’.
Sie ging
eine Stufe hinab, ohne die Dolde aus der Nähe ihres Gesichtes zu entlassen,
indem sie sie einfach mit sich hinunterzog. Sie blickte aus den Augenwinkeln kurz
umher, ob es noch andere Dolden gäbe, die günstiger stünden, aber das war nicht
der Fall. Sie erfasste jede Kleinigkeit genau. Sie sah auch die braunen,
hässlichen, vertrockneten, gefährlich spitzen Stengel, die noch von den
Blütendolden des Vorjahres neben den diesjährigen standen. Sie ließ sich davon
nicht irritieren.
‚Ihr
hättet euch voriges Jahr melden sollen’, dachte sie. ‚Pech für euch. Dies Jahr
sind eure Geschwister dran’.
Noch
einmal sog sie an einer gezupften Blüte.
Das war
eine neue Aufforderung an sie, das war eine neue Verführung. Sie hatte
inzwischen die Dolde noch weiter herangeholt und führte die Nase direkt in sie
hinein. Dann schob sie die Dolde an der Nase entlang und über ihre Haut und
bemerkte, wie angenehm warm und weich sie das blaue Blütenmeer umspülte. Eine
Brandung ganz besonderer Art lief über ihre Wangen und verebbte in jedem
Augenblick, in welchem sie die Dolde anhielt. Sie machte die Bewegungen ganz
langsam und hielt den Zweig mit spitzen Fingern fest.
Es
reichte ihr nicht.
Mit
ihren Blicken suchte sie nach anderen Möglichkeiten. Sie erkannte beim
Umherschauen, welche Blütendolden insgesamt einen etwa gleichen Abstand zu
ihrem Gesicht hatten. Sie ließ ihre Dolde los, ging hinter das Haus und kam mit
einer kleinen Harke wieder zurück. ‚Jetzt krieg ich euch’, dachte sie, ‚und
wenn ich euch dabei abreißen muss’.
Sie trat
auf ihre Tasche und wuchs dadurch um einen kleinen Zentimeter. Mit der kurzen Harke erfasste sie einen Zweig nach dem
anderen und schob ihn sich in den linken Arm. Der hielt sie fest. Es fielen
Blätter zu Boden und sie dachte: ‚So ist das, wenn ich jemanden blutig liebe’.
Sie hörte wie zwei oder drei der dünnen Äste beim
Heranholen anrissen und viel weiter unten den nächsten größeren Ast anbrachen.
‚Das ist gut’, dachte sie, ‚das will ich dir antun. Leide
unter mir, Flieder’.
Sie hatte wohl zehn oder zwölf Dolden in ihrem Arm und
holte immer noch neue heran. Dann waren keine mehr zu erreichen und die
untersten rutschten schon wieder heraus. Mehr konnte sie nicht halten und sie
merkte, wie sehr sie das anstrengte. Sie ließ die Harke fallen, hielt nun alles
mit beiden Armen fest und schaute aus geringster Entfernung auf die blaue
Pracht. Sie spürte Gewalt über sich kommen und hasste und liebte die Blüten
zugleich.
Sie biss mit einem kurzen Ruck die ersten Blüten von der
am weitesten hervorstehenden Dolde ab. Sie wusste, dass das nicht süß schmecken
konnte. Sie wusste, dass der Baum sich so wehren würde. Das fand sie richtig.
Das fand sie gut. Das gefiel ihr.
Bitter sollte der Geschmack sein. Richtig bitter wollte
sie es erfahren. Sie spuckte und prustete alles sofort wieder aus ihrem Mund
heraus und biss gleich erneut zu. Diesmal richtig tief hinein. Sie erfasste
aber nicht so viele Blüten wie das erste Mal und spuckte auch diese sofort
wieder aus.
Der Geschmack war jetzt so bitter, dass sie beinahe
losgelassen hätte.
Ihre nächsten Bisse gingen überall hin und sie hätte sich
fast selbst in den Arm gebissen. Sie biss und spuckte als ein böswilliges Tier.
Sie spürte, wie eine heftige Übelkeit in ihr aufstieg und
dass sie aufhören müsste. Einen weiteren Biss würde sie nicht mehr schaffen.
Sie hielt die Dolden aber weiter fest und ihr Gesicht darin verborgen. Sie
überlegte, ob sie aufgeben sollte.
Sie sprach zum Baum: ‚Du behältst recht. Deine Bitterkeit
wird mir zu groß. Das bleibt aber ein Geheimnis zwischen dir und mir. Es bleibt
ein Geheimnis und vergiss nicht, dass ich jederzeit wiederkommen kann’.
Sie ließ alles los. Viele Dolden schnellten, befreit von
ihr, nach oben und zur Seite weg. Einige hingen entblättert oder abgebrochen
schräge herab. Blätter fielen dabei noch zu Boden und auf die, die dort schon
lagen.
Tanjas Blick blieb an kleinen dunklen Punkten auf den
Steinplatten, den Gehwegplatten, hängen. Sie sahen nach einer Flüssigkeit aus,
die gerade aus dem Baum herauszutropfen schien. Tanja ging die Stufen ganz
hinunter und tastete vorsichtig mit dem rechten Zeigefinger hinein.
Sie hob den benetzten Finger vor ihre Augen und konnte es
nicht glauben: ‚Das ist ja Blut, ‘ dachte sie, ‚der Baum kann doch nicht
bluten’.
Sie sah nach oben und entdeckte, dass einige der Dolden
ebenfalls blutverschmierte Blüten hatten. Über einige der Spitzen schien ein
roter Schwamm Farbe verschmiert zu haben. Sie zuckte zusammen. Das konnte nur
ihr eigenes Blut sein. Als sie den Kopf wieder senkte, um erneut nach unten zu
schauen, tropfte es von ihrem Kinn herab auf einen Stein.
Sie empfand Scham. Sie fühlte sich als ertappte
Verbrecherin. Sie entdeckte immer mehr neue Blutstropfen: auf den Steinen, in
den Blüten, an ihren Händen und schließlich auch noch auf ihrer Bluse. Sie
stürzte zurück zur Eingangstür, schloss auf und stand auch schon vor dem
Spiegel. Sie sah aus, als hätte sie eine Schlachtung ihres eigenen Leibes vorgenommen.
Von der Nase an waren ihr Kinn, ihre Wangen blutverschmiert. Am Kinn klebten
noch angetrocknete Reste und aus einer Stelle ihrer Haut, zwischen Unterlippe
und Kinn quollen dicke Tropfen dunkelrot hervor. Sie konnte sich das nur durch
einen der ausgetrockneten Stengel der Vorjahresdolden erklären. Der musste ihr
während der Toberei in die Haut gefahren sein. Wahrscheinlich blutete sie
bereits seit dem ersten Biss.
‚Das ist gut’, sagte sie zu sich, ‚das geschieht dir ganz
recht. Das bist du dem Flieder also wert gewesen’.
Sie empfand es als Genugtuung, und es war die
Befriedigung, die sie sich gewünscht hatte.
Sie begann sich gründlich zu reinigen. Dabei entdeckte sie
an ihrem linken Unterarm tiefe Ratscher, die bluteten ebenfalls und begannen zu
brennen. Sie erinnerte sich an einen Schmerz, den sie beim Loslassen der Zweige
verspürt hatte.
Sie überklebte die Stellen an Mund und Arm mit mehreren
kleinen Pflastern. Sie musste sich umziehen und die Bluse gleich ins Wasser
stecken. Es musste kaltes Wasser sein, das wusste sie.
Sie dachte an den Flieder draußen: ‚Da ist wohl nicht viel
zu machen’.
Nachdem sie mit ihrem Äußeren wieder einigermaßen
zufrieden war, zog sie eine frische langärmlige Bluse an.
Sie ging hinaus, fegte die Blätter zusammen und tat sie in
den Mülleimer. Die abgeknickten und blätterlosen Zweige waren stumme Zeugen
ihrer Wilderei. Die ließ sie, wie sie waren.
Nun erst ging sie zum Einkaufen.
Sie vergaß den Zettel. Den hatte sie aus der Hand gelegt,
und, das erinnerte sie, er war ganz feucht, auf dem Waschtisch festgeklebt,
liegengeblieben.
Sie brachte nach etwa einer Stunde die leere
Einkaufstasche wieder zurück, legte sie in der Küche auf einen Stuhl und ging,
ohne eine Nachricht zu hinterlassen, aus dem Haus. Sie hatte gar nichts erledigt.
Für die nächsten Tage und Nächte blieb sie verschwunden.
Tanja
hatte eine Bleibe. Die war folgendermaßen entstanden: Wenn Tanja unbedingt
einkaufen musste oder wollte, dann ging sie am liebsten auf den Markt. Ihr
gefiel das Treiben dort. Sie konnte den Leuten zuschauen, und selbst in den
Sommermonaten, wenn sie mit ärmelloser Bluse dorthin ging oder sogar nur mit
einem schwarzen Trägerhemdchen bekleidet an den Ständen vorüberging, hatte noch
niemals jemand sie länger als eine halbe Sekunde wegen ihrer Tätowierungen
betrachtet. Von den Händlern war auch der eine oder andere selbst tätowiert.
Außerdem liefen dort derartig viele verschiedene Gestalten herum, dass sie
einfach nicht auffiel. Wenn ihr jemand wirklich ernsthaft nachsah, oder sie direkt
musterte, dann war es immer wegen ihrer gewagten Hemden, die an den Seiten, wo
der Armausschnitt war, einen keuschen Einblick auf ihre Brüste freigab. Ja,
wenn sie sich nur wenig bückte, sah man ganz genau und fast ohne Verdeckung,
ihren schönen Oberkörper.
Ihre
wirklich hübschen Schultern gehörten auch dazu, vor allen Dingen, wenn 'mal ein
Träger herunterrutschte. Den ließ sie dann so, und die Blicke, die ihr galten,
schmeichelten ihr sehr. Das genoss sie, das war Gehen im Sonnenschein, das
streichelte ihre Eitelkeit. Sie sah nämlich, wie einige Frauen neidvoll auf das
blickten, was sie zeigen konnte, auf das, was sie als Frau hatte. Die
Verkäuferinnen hinter den Ständen gehörten nicht dazu. Die kannten Tanja und
hatten auch ihren Namen parat. Von denen wurde sie manchmal beiläufig sanft,
voller Zärtlichkeit, oder laut, dass sie es ja nicht überhören konnte,
angesprochen: „Hallo, Tanja“. Sie antwortete dann: „Hallo“.
Was
Tanja nicht wusste und was ihr immer verborgen bleiben würde, war die
ungewöhnliche Ausstrahlung ihres Gesichtes, dieser Sonne, die sie mit sich
herumtrug und die jeden berührte.
Sie war nicht im Sinne eines hübschen Mädchens schön,
sondern sie vermittelte anderen das Gefühl, dass sie, Tanja, scheinbar nur
vorüberkam, um diesen einen Tag in diesem einen Augenblick nur für diese
Menschen zu erhellen, um, als eine Märchenfee, Glücksgefühle in die Herzen
dieser Menschen zu streuen.
Frauen
erkannten das schnell, sie erfuhren es bewusster als die Männer. Sie scheuten sich deshalb nicht, Tanja nach
ihrem Namen zu fragen und sie zu grüßen.
Die Männer hinter den Ständen schauten, wenn ihr Blick das
Mädchen in dem Menschengetümmel erfasste, fast scheu hinter ihr her und
empfanden etwas väterlich Beschützendes für sie, ja schon ein wenig scheues Nichtstörenwollen.
Keiner von denen hätte sie jemals direkt angesprochen. Nur wenn sie wirklich
kam, um einzukaufen, machten sie ihr ganz leise zugeraunte Niedrigstpreise.
Tanja bemerkte so etwas sofort, dachte aber: ‚Das sagt der
nur deshalb so leise, damit seine Alte das nicht hört’.
Sie dachte dann nicht weiter darüber nach.
Die Frauen der Verkäufer hatten aber die besten Ohren der
Welt, und was sie nicht hörten, das wussten sie bereits, bevor es ausgesprochen
war. Denen konnte niemand etwas vormachen. Sie wussten auch, mit der Eingebung
von Frauen, dass hier etwas fast Heiliges ihren Männern begegnete, was zu
stören ihnen einfach nicht erlaubt war.
So zog Tanja ihre Sonnenscheinkreise über den Markt.
Einmal nun sah sie, wie eine alte Oma, mit einem dreirädrigen
Stützwagen, den sie wegen ihrer Gebrechlichkeit vor sich herschob, vor einem
der Einkaufstische stand und ewig lange in ihren Taschen herumkramte.
Tanja beobachtete sie. Die Oma kam mit dem Geld nicht
zurecht und reichte schließlich der Verkäuferin das ganze Portemonnaie hinüber.
Die hatte Tanja längst entdeckt und ihr kurz zugenickt. Tanja hatte
zurückgenickt, war dann stehen geblieben und schaute ohne jede Absicht zu.
Der Oma fiel eine Tüte aus der Hand.
Tanja wollte nicht eingreifen. Sie dachte gar nicht daran.
Es rollten ein paar Äpfel auf die Straße und einer rollte
ihr zu Füßen und blieb dort liegen. Tanja sah hinunter und bückte sich nicht.
Sie überlegte: ‚Was wird das nun wohl wieder werden.
Jemand’, dachte sie, ‚schickt mir ein Zeichen’.
Als sie hochschaute stand die Verkäuferin vor ihr. Die
bückte sich sofort und hob den Apfel auf. Es schien der letzte aus der Tüte gewesen zu sein.
Fast gleichzeitig kam die Oma heran gehumpelt und stand nun ebenfalls vor ihr.
Die
sagte: „Danke", zu Tanja.
Sie
wollte gerade antworten, dass sie nicht geholfen hätte, aber es schien, als ob
die Verkäuferin ihr, Tanja, mit dem Aufheben des Apfels einen Dienst hätte
erweisen wollen, ihr, Tanja, hätte zu Diensten gewesen sein wollen. In den
Augen der Verkäuferin, in dem Blick, mit dem sie Tanja anschaute, lag eine
unendliche Unterwürfigkeit, viel Liebe und sehr viel Hingabe.
Tanja
erschrak darüber so, dass sie etwas verlegen lächeln musste. Das wiederum gab
ihrem Gesicht, den Ausdruck, um dessentwillen alle sie so liebten. Die
Verkäuferin erstrahlte unter diesem Licht. Eifrig trompete sie der Oma ins Ohr:
„Das ist Tanja“.
Tanja
dachte: ‚Schwerhörig ist die Alte auch noch’.
Die Oma
sagte: „Sie kennen das Mädchen?"
„Ja“,
antwortete die Verkäuferin, „das ist Tanja!"
„Du bist
sehr hübsch, mein Kind. Du bist ein sehr hübsches Mädchen, Tanja. Das weißt du
sicher. Ja, sehr hübsch. Wenn ich, als fast Blinde das sehe, dann musst du
sehr, sehr hübsch sein“.
Die
Augen der Verkäuferin leuchteten auf, bei den Worten der alten Frau. Da rief
jedoch eine Männerstimme ganz barsch nach ihr. Sie ging sofort zu ihrem Stand
zurück. Noch im Weggehen ließ sie den Blick kaum von dem Mädchen. Tanja kannte
das und kümmerte sich nicht weiter darum.
Die Oma
sagte: „Na, dann fass den Kram an und komm. Schönheit vergeht, und arbeiten
müssen wir alle. Hier nimm mein Portemonnaie. Wir müssen noch mehr einkaufen“.
Damit
stützte sie sich auf ihren Wagen und schob los. Die Taschen standen zu Tanjas
Füßen. Sie wusste nicht wie ihr geschah. Dachte die Alte etwa, sie wäre deren
Kofferträgerin oder so ähnlich?
Sie rief
hinterher: „He, Oma, warten Sie“.
Die
achtete aber nicht auf sie, sondern schlurfte voran und brauchte schon wieder
Geld zum Bezahlen.
Man
hörte sie rufen: „He, Tanja, trödle nicht. Du bist ja noch langsamer als ich.
Komm, mein Kind, bezahl“. Damit ging sie weiter.
Tanja nahm die Taschen auf, ging an den Stand, wurde mit
der größten Freundlichkeit von der Welt von der Verkäuferin begrüßt, zahlte, steckte
den unbekannten Inhalt in eine der Taschen der Oma und folgte der. Die kam
wirklich nur sehr langsam voran und Tanja zog mit den Taschen hinter ihr her.
Sie holte sie ein und rief: „Ich bin nicht Ihre
Kofferträgerin“.
Die Oma hatte das gehört und ihr geantwortet: „Ohne Arbeit
keinen Verdienst, ist doch einfach, oder? Als ich jung war, aber ich war nicht
so schön wie du, hab' ich mir nichts dazuverdienen dürfen. Meine Eltern hätten
mich sofort in ein Kloster gesteckt. Sei froh. Heute ist das alles anders. So,
ich muss noch bisschen Fleisch einkaufen. Magst du Bratwurst?" Tanja war
sprachlos: ‚Die Alte hat die fixe Idee, dass ich ihr wirklich wegen Geld helfen
will. Soll sie von mir aus. Hunger hab ich auch bald’.
Dann dachte sie: ‚Hoffentlich wohnt sie nicht so weit,
dass ich nicht Gummiarme bekomme’.
Die Oma unterhielt sich ab und zu mit ihr: „Die Marktfrau
kannte dich wohl?"
Jemand rief herüber: „Hallo Tanja!" Sie antwortete:
„Hallo“.
Die Oma wieder: „Die kennen dich wohl alle hier,
oder?"
„Das ist wegen meiner Tätowierungen“, sagte Tanja.
„Wegen was?" fragte die Alte.
„Na, wegen der Tätowierungen“.
„Wo hast du die denn“.
Die Alte machte keinerlei Anstalten danach zu suchen und
drehte sich auch nicht nach Tanja um. Die war immer einen halben Meter hinter
ihr.
„Ihr jungen Mädchen habt nur dummes Zeug im Kopf. Jetzt
tätowiert ihr euch schon. Kann man das wieder abwaschen? Ist auch egal. Kann
ich mit meinen Augen sowieso nicht mehr sehen. Wirst noch merken, die
einfachste Methode ist immer die beste“.
Tanja war nicht neugierig auf die einfachste Methode, aber
dass die Alte sich nicht weiter für ihre Tätowierungen interessierte,
überraschte sie sehr.
Sie
dachte: ‚Immerhin ist das doch wenigstens etwas Besonderes. Welches Mädchen ist
schon tätowiert? Wahrscheinlich hält sie das für irgendeine Modeerscheinung,
so, wie die Weiber sich die Fingernägel schwarz lackieren oder irgendwelche
Körperteile glatt rasieren. Hab' ich auch schon gemacht. Hab' mir mal alle
Harre um die Scheide wegrasiert. Das erzähl ich der aber nicht. Außerdem war
das saudumm damals. Erstens sah es nicht gut aus. Es wurde alles rot. Und
zweitens, als die Haare nachzuwachsen begannen, haben sie in die Oberschenkel
gepiekt. Ich musste mich dauernd jucken und hatte immerzu einen Orgasmus. Mitten
beim Gehen. War ganz bescheuert. Damals wollte ich mir die rasierten Flächen
links und rechts auch noch tätowieren lassen. Das muss man sich mal vorstellen!
Das sollte einen Liebhaber überraschen, den ich noch gar nicht hatte. Der
existierte nur in meiner Phantasie.
Dann hab
ich den ganzen Blödsinn aber sein gelassen. Gott sei Dank. Solche Hautstellen
wachsen einfach zu schnell wieder zu. Und wie soll man sich, wenn es darauf
ankommt, im Handumdrehen von den Haaren befreien können. War alles Quatsch...
Und nun
hab' ich plötzlich die Alte am Hals. Wirklich, alles Quatsch.
Was sagt
sie? Was will sie? Ich frag' mal, wo sie wohnt’.
Die Oma
sagte: „Wir sind gleich fertig. Ich geh zu gerne über den Markt“.
Tanja
war ehrlich. Sie sagte: „Ja, ich auch“.
Die Oma:
„Für mich ist es nur so beschwerlich geworden. Das ist das eigentliche Problem.
Man wird abhängig von der Hilfe anderer. Verstehst du das, mein Kind?"
„Ja, ja.
Ist schon klar“.
„Ach ihr
jungen Hühner versteht überhaupt nichts. In euren Köpfen ist nur ‚Amore,
Amore'. Stimmt's? Natürlich stimmt es. Amore, Amore. Das seh ich doch schon an
deinem Gesicht“.
Dabei
drehte sie sich um und zog Tanja ganz dicht zu sich heran, direkt vor ihre
Augen. Tanja setze die Taschen dabei ab und kam mit ihrem Gesicht vor die Augen
der Alten. Die waren flink und huschten hin und her. Sie hatten aber nur einen
feuchten Glanz.
Sie waren trübe und wie mit einem milchigen Film
überzogen. Sie schienen in Tränenwasser zu schwimmen.
Die Alte sagte, nein, sie flüsterte es fast: „Hab ich
nicht recht? Hm?“
Dann sang sie es ganz leise: „Immer nur Amore, Amore“.
Tanja richtete sich wieder auf, und die Oma ließ sie los. „Wir können gehen“,
sagte die alte Frau.
Dann: „Kind brauchst du noch etwas? Sag' es. Wir können es
mitnehmen“.
Tanja dachte nach: ‚Ja, ich müsste tatsächlich noch etwas
haben. Aber die Alte denkt nur ans Fressen’.
Die Alte: „Hör zu, Kind, gib mal das Geld her“.
Sie nahm ihr das Portemonnaie aus der Hand und holte zwei
Scheine heraus. Die sah sie sich aus größter Nähe an. Es waren dreißig Euro.
„Ich weiß, dass du von einem Salatblatt leben kannst,
stimmt's? Aber du wünschst dir was zum Anziehen nicht?"
Tanjas Augen leuchteten: ‚Wie kann die Alte das wissen’.
Die Alte: „Ich setz mich hier so lange auf die Steinmauer.
Kauf dir 'was und hilf mir nachher“.
Tanja sagte gar nichts. Sie dachte aber: ‚Du bist ja ganz
süß, Oma. So viel Geld für nichts?'
Sie nahm ihr die Scheine aus der Hand und wusste ganz
genau, was sie davon kaufen wollte. Sie hatte ein Hemdchen gesehen, das sollte
etwas über zwanzig Euro kosten.
Die Verkäuferin wusste sofort, wonach Tanja verlangte.
Tanja verhandelte nicht wegen des Geldes, sondern sie war unsicher wegen der
Farbe. Am liebsten hätte sie weinrot genommen.
„Rot macht aber dick, und mich macht rot klein. Am
liebsten mag ich schwarz“.
Die Verkäuferin wusste, wie man Mädchen in dem Alter
behandelte und zeigte ihr ein gleiches Hemd in schwarz. Es war wieder ein
Trägerhemdchen, wie Tanja mindesten schon drei ähnliche hatte. Die Verkäuferin
sagte: „Bei Schwarz kommt deine braune Haut so gut zur Wirkung“.
Tanja freute sich: „Finden Sie das auch?"
Die
Verkäuferin schickte sie zum Anprobieren durch eine Tür im Verkaufswagen, und
Tanja zog sich in Windeseile um. Sowie sie aber in dem Wagen war, guckte die
Verkäuferin hinterher und betrachtete Tanja ganz ungeniert von oben bis unten.
Tanja hatte ihr eigenes Hemdchen abgestreift. Darunter war sie völlig nackt.
Die Verkäuferin bekam einen seltsam verklärten Gesichtsausdruck, und ließ nicht
ab, hinzuschauen.
Tanja
sah sie sehr wohl, fand aber alles in Ordnung. Das neue Hemd hatte einen tiefen
Rückenausschnitt über den sie sich noch mehr freute.
Das Hemd
saß luftig und fühlte sich sehr gut an. In dem, winzigen Raum waren zwei
Spiegel gegenüber an den Wänden angebracht. Dazwischen stand Tanja. Einer davon
hing aber nicht flach an der Wand, sondern war an der hochstehenden Kante ein
wenig von der Wand abgewinkelt. Das führte dazu, dass sich Tanja gleichzeitig
von vorne und zum großen Teil auch von hinten betrachten konnte.
Sie war
begeistert.
Sie
sagte: „Das nehm' ich. Es sitzt, wie für mich gemacht“.
Die
Verkäuferin blieb auch beim neuerlichen Umziehen mit dem Kopf in der Tür, dann
sagte sie: „Ich lass es dir billiger. Gib mir zwanzig Euro. Ist das in
Ordnung?"
„Ja, ich
nehm es. Es gefällt mir“.
Tanja
sagte kein Wort zum Preisnachlass. Die Verkäuferin nahm ihr das Geld ab und
Tanja schien es, als ob sie ihr dabei den Handrücken gestreichelt hätte. Ja,
sie tat es noch ein zweites Mal und nun ganz deutlich und sagte: „Danke,
Tanja“.
Tanja
sagte: „Ich freu mich. Ich find es schick“.
Dann
ging sie mit dem glücklichsten Lächeln fort und hinterließ die Verkäuferin in
einem ebenso glücklichen, ihr, Tanja, allerdings verborgenen, unendlich
angenehmen, lustvollen Liebesschmerz.
Sie kam
zurück zur Oma, die saß noch an ihrem Platz und fragte: „Na, hat's geklappt?
Hast du was gefunden?"
Tanja
sagte: „Du bist richtig süß, Oma“.
Sie gab
ihr ein Küsschen auf die Wange und sagte weiter: „Hab mir nichts zu essen
gekauft. Hast recht gehabt“. Tanja bemühte sich, laut zu sprechen.
Die Oma
unterbrach sie: „Klamotten, oder?"
„Ja, ich
hab ein unheimlich tolles und noch modisches Stück gefunden. Sieh mal“.
Sie
zeigte es der Oma. Die fasste den Stoff an und sagte: „Hoffentlich reine
Baumwolle. Hast du nachgesehen? Wenn alles Kunststoff ist, dann schwitzt du
doch“.
Tanja
sah nach. Sie hatte eine Mischfaser erwischt.
„Aber
Baumwolle ist dabei. Hier, Oma, kriegst noch Geld wieder“. Sie reichte ihr die
restlichen zehn Euro zurück. Die alte Frau steckte das Geld ein.
Tanja
sagte zu ihr: „Du bist wirklich ganz lieb. So, jetzt komm aber. Wir wollen
gehn. Sag' mir wie's langgeht“.
„Gut“.
Die
Worte gefielen der Alten. Jemand sagte ihr, wie es weiterging. Das wünschte sie
sich immer. Sie hätte sowieso gerne jemanden gehabt, der sich um sie kümmerte.
Natürlich müsste der oder die auch ihre ewigen Nörgeleien ertragen können. Bei
jungen Menschen bestand da keine große Gefahr. Sie sah ja, die setzten sich
einfach über alles hinweg. Sie stand umständlich auf und musste sich an ihrem
Gefährt abstützen. Als sie loskonnten, sagte Tanja: „Danke“.
Die Oma
murmelte etwas von: „..mal sehen, ob's klappt..“ und „..Vögelchen, Vögelchen,
na wir werden's erleben.."
Dann
zogen sie los. Tanja trug die Taschen und die Oma schob ihre rollende Stütze
vor sich her. Tanja sah, dass man die Taschen auch hätte an den Wagen hängen
können, aber sie verzichtete darauf. Sie ging immerzu vorneweg, und, als wüsste
sie, wo die Behausung der Oma lag, war sie auf dem richtigen Weg.
Einmal
nur rief die Oma von hinten: „Kind, mach mal Pause. Ach, nein, geh weiter. Wir
sind ja gleich da. Jetzt links, das zweite Haus“.
Der Weg
war nicht weit gewesen.
Tanja
fand es hier, in einer Seitenstraße, herrlich ruhig. Die Oma schloss auf und
schlurfte gleich in die Küche.
Sie rief
Tanja zu: „Mach hinten die Tür auf. Da geht's in den Garten, und lass Luft
herein. Ich mach uns was zu essen. Du isst doch mit, oder?"
Das
letzte war eine bange Frage gewesen und die Alte dachte: ‚Ist vielleicht ein
wenig zu voreilig von mir. Tanja aber war schon hinten an der Tür, hatte sie
geöffnet und war draußen. Die Alte machte sich in der Küche zu schaffen, und es
dauerte nicht allzu lange, dann konnten sie beide essen. Tanja aß nicht viel.
Das fiel der Oma auf. Sie dachte daran, Tanja zu nichts zu drängen und forderte
zwar auf, zu essen, sagte aber auch: „Zeigst du mir, wie dein neues Hemd
aussieht? Ich meine an dir natürlich“.
Tanja machte
das gerne und zog sich vor der Oma so freizügig um als wäre sie allein. Das
gefiel der. Obwohl sie schlecht sah, erkannte sie doch die gleichmäßig
verlaufenden Körperlinien an dem Mädchen und machte überhaupt kein Hehl aus
deren Schönheit: „Nach dir werden sich die Männer noch alle zehn Finger
lecken“, sagte sie, „oder sie tun es schon, he?" Sie kicherte ein wenig
vor sich hin.
Dann
sagte sie: „Sieh dich um im Haus, Tanja. Fühl dich Zuhause“. Tanja tat nichts
lieber als das. Sie war neugierig.
Es war ein
Einfamilienhaus. Darin wohnte die Alte offenbar ganz allein. Tanja sah, dass
etliche Betten, es waren wohl fünf oder sechs, zwar vollständig bezogen waren,
aber über jedem lag ein weißes Tuch. Sie sah, dass sie nicht in Benutzung
waren. Tanja hatte einen kühnen Gedanken: ‚Dies ist meine neue Bleibe. Das wird
meine neue Absteige. Der Alten werde ich das ganz klar machen, vor allen
Dingen, dass sie das niemandem erzählt. Das ist das wichtigste. Dann kann ich
kommen und gehen, wann ich will’.
Die
Einrichtung der Wohnung interessierte sie schon nicht mehr. Das geschah nicht
etwa, weil dort nichts Besonderes oder Schönes zu sehen gewesen wäre, sondern
weil sie die neue Idee für diese Dinge blind machte.
Sie ging
wieder hinunter zu der Alten und setzte sich den ganzen Nachmittag zu ihr ins
Zimmer und versuchte sich irgendwie bei ihr Liebkind zu machen. Der Oma war das
eine Wohltat. Die erkannte dabei keine Hintergedanken. Tanja aber fand und fand
nicht den Dreh, ihr ihre Absicht zu erklären.
Gegen
Abend verschob sie den Plan auf ein anderes Mal und wollte nun nach Hause
gehen.
Die Oma
aber fragte: „Wohnst du weit von hier?"
Tanja:
„Warum? Nein, nicht sehr weit. Mit der Bahn drei Stationen. Warum?"
„Naja,
wenn du nun Zuhause anrufen könntest und erzählen würdest, dass du mich
kennengelernt hast und hier vielleicht übernachten möchtest ...ich meine
vielleicht ja auch ein anderes Mal.." Sie verhaspelte sich dabei, so
aufgeregt war sie: „Wenn du mal übernachten möchtest, ich mein' ich..."
Und dann
nach einer kleinen Pause: „Also würdest du mich mal wieder besuchen kommen? Du
könntest mir beim Einholen helfen. Nur wenn du magst, selbstverständlich, wenn
du mal wieder Lust hast. Du weißt ja nun, wo ich wohne“.
Tanja
dachte: ‚Wenn ich dir nun sage, dass ich daran immerzu gedacht habe und nur
nicht wusste, wie ich dir das beibringen sollte. Ich liefere mich dir aber auch
ganz schön aus. Du krallst mich und ich muss immerzu für dich da sein’.
Sie
sagte: „Das gleiche hab ich auch gedacht. Ich würde zu gerne wiederkommen. Ich
kann ja vorher anrufen. Wegen heute Nacht müsste ich Zuhause anzurufen. Wenn
sich jemand meldet, könnte ich ja fragen. Dann könnte ich sicher bleiben. Ich
fände es toll. Und wenn niemand da ist ... Ich probier's mal“.
Das
verstand die Oma und sie betete innerlich: ‚Lieber Gott, mach' dass sich jemand
bei ihr meldet’. Sie sagte schnell: „Ich geh in die Küche, du kannst ja
telefonieren. Und schreib' dir meine Nummer auf“.
Sie ging
hinaus, ließ die Tür aber etwas offen, und obwohl sie schwer hörte, bildete sie
sich ein, wenn es darauf ankäme, jedes Wort ganz genau verstehen zu können.
Tanja
wählte tatsächlich. Die Oma kam zurück.
Tanja
dachte: ‚Du bist ja wohl hoffentlich so schwerhörig, dass du die Zeitansage
nicht verstehst, oder?'
Sie
presste trotzdem den Hörer so fest es ging ans Ohr, damit kein Laut herausdringen konnte.
Dann legte sie auf und sagte. „Keiner da. Wenn ich darf,
möchte ich aber trotzdem bleiben, ja? Ich ruf' dann eben morgen Zuhause an. Das
ist nicht so schlimm“.
Die Oma war den ganzen Abend über geschäftig und tat und
machte und bemühte sich aufs äußerste, Tanja nicht zu belästigen, ihr aber
andererseits diese kleine neue Heimat angenehm zu gestalten. Tanja hatte
erreicht, was sie wollte und zeigte sich äußerst zufrieden. Sie glaubte auch
die Absicht der alten Frau durchschaut zu haben und wunderte sich, wie sich
alles so problemlos ineinander fügte und konnte sich über ihr Glück nicht genug
freuen: ‚Hauptsache ist, dass das ganze geheim bleibt. Das muss ich ihr noch
ganz klar machen. Das muss ich ihr noch richtig beibringen’.
Sie erledigte nun häufiger mal die Besorgungen für die
Alte. ‚Das wird, Vertrauen schaffen’, sagte sie sich.
Die Oma wurde immer großzügiger, so dass Tanja kommen
durfte, wann sie wollte. Schließlich wohnte sie sogar über Tage hier. Niemals
brauchte sie auch nur einen Cent für irgendetwas auszugeben oder zu bezahlen.
So war Tanja zu einer Bleibe gekommen, von der niemand, außer den beiden, die
es anging, etwas wusste.
Derzeit
habe ich also tatsächlich drei Bleiben. Ich könnte jederzeit bei meinen Eltern
unterkommen, bei dem Österreicher und bei der Oma. Es bleibt gleich, bei wem
ich übernachte, immer sehne ich mich nach einem Zuhause.
Dabei
liebe ich den Österreicher. Ich will ihn sogar heiraten. Das ist meine Idee,
und das hat viele Gründe. Es würde mir nichts ausmachen, mit ihm nur ein paar
Jahre verheiratet zu sein. Das brauch' ich ihm aber nicht auf die Nase zu
binden.
Zu der
Oma gehe ich gerne, vor allen Dingen, weil ich mich dort so geben kann, wie ich
mich fühle.
Wenn ich
ehrlich bin, mach' ich das bei meinen Eltern auch.
Bei der
Oma bin ich aber noch nie ausgeflippt. Das ist ein sehr großer Unterschied.
Dabei habe ich manchmal das Gefühl, dass die Alte mich nicht richtig auf der
Rechnung hat.
Meine
Eltern beginnen erst neuerdings, mich ein wenig ernst zu nehmen, und der
Österreicher findet alles, was ich mach: ‚Schick und feesch und noch wie’.
Kürzlich
war ich mit meiner Freundin in der Stadt. Wir waren Kaffee trinken, oben auf
der Dachterrasse in einem Kaufhaus. Wir haben uns über Kleider unterhalten,
genauer gesagt, über modische Gürtel. Ich fand es unerhört, dass die so teuer
sind. Hab' mich richtig darüber aufgeregt.
Meine
Freundin sagte aber: „Wenn ich mir so einen Gürtel kaufen würde, möchte ich
auch lange etwas davon haben“.
Ich
fragte: „Wieso, was willst du denn davon lange haben?"
Sie:
„Na, dass ich ihn lange schick finde und ihn nicht nach dem zweiten Mal Tragen
in die Ecke pfeffer“.
„Wie
lange willst du das Ding denn tragen. Wenn er aus der Mode ist, kannst du ihn
dir doch nicht mehr umtun, oder?"
Sie
irritierte mich.
Sie
meinte aber weiter: „Ich überleg' mir eben genau, wofür ich mein Geld ausgebe“.
Ich:
„Das tu ich auch“.
„Es
macht dir aber nichts aus, ihn heute zu kaufen und ihn morgen wegzulegen, weil er unmodern ist, stimmt's?"
Ich war mir nicht sicher, ob sie nicht recht hätte und
sagte: „Weiß nicht“.
Sie sagte aber zu mir: „Pass mal auf. Du kennst doch
meinen Freund, ja? Irgendwann hab' ich den soweit, dann kauft der mir einen
ganz tollen wuscheligen Pelz. Keinen Echten, den will ich
gar nicht haben. Aber so einen Teddymantel, einen Webpelz,
diese süßen, weichen Dinger. Weißt du, was ich meine? Ich habe mich erkundigt,
und ich kann dir ganz genau sagen, was für einen ich haben will. Hellbraun soll
er sein“.
Ich redete dazwischen: „Passend zum Haar?"
Sie: „Genau. Also, so ein Mantel ist doch sehr teuer, ja?
Beinahe so teuer, wie ein echter, nicht?"
„Ja, stimmt“.
„Also nehmen wir 'mal an, er würde mir den schenken und
hinterher würden wir uns fürchterlich streiten. So richtig, mit Trennung und
allem“.
„Warum“.
„Das ist doch egal. Ich streite mich ja gar nicht mit ihm,
aber nehmen wir mal einfach an, es käme so“.
„Gut, was dann?"
„Ich weiß ja nicht, was so ein Mann dann tut. Aber, wenn
ich er wäre, und mich richtig strafen wollte“,
Ich unterbrach sie: „Dann vertrimmt der dich nach Strich
und Faden oder behandelt dich wie Luft“.
„Er, ja, vielleicht. Aber ich sagte ja, wenn ich er wäre.
Weißt du, was ich machen würde?"
„Nein, was?"
„Ich würde mir den Mantel wieder wegnehmen. Das, weißt du,
würde mich am meisten treffen. Das würde mich ungeheuer ärgern, damit würde er
mich in meinem Allerinnersten richtig ausziehen, wenn du weißt, was ich meine.
Ich würde innerlich nackt vor ihm stehen. Das würde ich ihm nie verzeihen“.
„Was, wegen so einem blöden Mantel? Da ist doch nichts
dran“.
„Doch, sieh mal, ich wünsche mir den doch so sehr. Ich
würde ihn lieben und an dem Stück hängen. Das weiß ich, weil ich ja bereits einen habe. Der ist
aber nicht halb so schön, wie der, den ich mir wünsche. Aber selbst an diesem
hänge ich. Ich liebe ihn und ich lege ihn mir manchmal mit ins Bett, wenn ich
schlafen gehe. Es ist so, als wenn du zum Beispiel mit einem Kuscheltier ins
Bett gehst“.
„Ich?
Warum sollte ich mit einen Kuscheltier ins Bett gehen. Hab' gar keins“.
„War
doch nur ein Beispiel. Nimm etwas, woran du so richtig hängst. Wo du jetzt
schon heulen könntest, wenn du dir nur vorstellst, es würde dir jemand wegnehmen“.
Das gab
mir sehr zu denken. Woran würde ich überhaupt hängen? Was könnte das denn sein.
Ich
sagte: „Fällt mir im Moment nichts zu ein. Nein, wirklich, im Moment fällt mir
nichts ein“.
„Also
komm. Jeder hat etwas, woran er mit seinem ganzen Herzen hängt. Meistens ist
das eine völlig irre Sache. An die denkst du nur jetzt nicht. Wirst dich schon
noch erinnern“.
Sie
erzählte weiter von ihrem Freund und von dem Pelz und ich erzählte ihr von dem
Österreicher und sie wollte wissen: „Glaubst du, dass der dir einen Pelz
schenken würde?"
Ich
sagte: „Du, in seiner Branche braucht der jeden Cent. Der muss sparen, der ist
Geschäftsmann. Einen Pelz von dem, könnte ich mir kaum vorstellen. Ich hätte
auch lieber 'was anderes“.
„Ja? Was
denn“.
Ich
zögerte, weil mir gar nichts Konkretes einfiel, und ich auch gar keinen festen
Wunsch hatte.
Sie
bohrte aber nach und sagte: „Komm, nun musst du mir's aber auch sagen. Also
los, bitte“.
Ich sah
sie an und sagte: „Eine Windmühle“.
Ich
erschrak selbst über den Quatsch, den ich gerade geredet hatte. Sie guckte mich
eine Sekunde mit offenem Mund an, dann sagte sie, indem sie aufschrie vor
Lachen: „Eine was? Eine Windmühle? Was willst du denn damit? Eine richtige
Windmühle? Das glaubst du doch selbst nicht. Was für eine denn, eine die
klappert, etwa?"
Und
dann, als würde ihr schlagartig alles klar: „Ach, ich kann mir denken, was du
meinst! Eine kleine glitzerige, so eine zum Anstecken. Aha, ja, das kann ich
mir gut vorstellen. Groß und wuschelig darf es sein, oder klein und glitzerig.
Ausverschämt
bist du aber nicht“.
Ich wusste in dem Augenblick, als meine Freundin mich so
gefragt hatte, nicht, an was ich mit meinem Herzen hing. Mir war nichts
eingefallen. Da habe ich die Windmühle erfunden. Meine Freundin kam immer wieder
darauf zurück und fand die Geschichte zum Totlachen und wünschte mir Glück,
dass ich eine bekommen würde.
Ich
selbst fand das ganze nicht so zum Lachen. Ich war später sogar noch traurig
darüber, dass mir trotz allen Nachdenkens nichts eingefallen war. Alles, was
ich hatte, ging ich noch einmal durch und musste mir bei jeder Sache
eingestehen: ‚Kann ich drauf verzichten, hänge ich nicht dran, kann ich
vermissen und vergessen’. Selbst, dass ich wochenlang unseren Hundi nicht sah
und erst beim Wiederkommen, wegen der Freude des Tieres, mich wieder auf ihn
besann, bewies mir das und dass ich auch an diesem Vierbeiner nicht besonders
hing. Es ging aber bei meiner Freundin nicht um Tiere oder Menschen, sondern um
eine Sache, und da fiel mir leider nichts ein. Das fand ich so überhaupt nicht
in Ordnung, das wollte ich so nicht haben.
Ich
beschloss, auch an etwas zu hängen. Das sollten von nun an Windmühlen sein. Als
meine Freundin und ich das Kaufhaus verließen, trennten wir uns. Ich ging
zurück in die Spielzeugabteilung und kaufte mir nach langem Aussuchen eine
kleine Windmühle. Wenn man die anpustete, drehten sich richtig ihre Flügel. Das
gefiel mir. Ich pustete, sie drehte sich; ich tat etwas, sie tat etwas.
Das
wurde die erste Windmühle meiner Sammlung von Windmühlen.
Ich
brachte sie zur Oma. Die fand meine Neuerwerbung auch niedlich. Sie pustete sie
an und fragte: „Magst du Windmühlen?"
Ich
erklärte ihr: „Ja, ich sammle sie“.
„So, du
sammelst sie. Hast du schon viele?"
„Nein,
das ist meine erste“.
Die Oma meinte:
„Dann ist das dein erstes Windmühlenbaby. Ich gratuliere. Du kannst die
Sammlung hier bei uns unterbringen. Ist ja genug Platz im Haus“. Das hatte ich
sowieso vorgehabt.
Von nun
an sammelte ich etwa ein Dutzend Windmühlen. Die wichen nur wenig voneinander
ab. Alle hatten einen Stiel, die gefalteten Blätter waren bunt oder einfarbig
und sehr leicht zu bewegen. Es waren doppelte dabei, die auf derselben Nadel
saßen und sich in dieselbe Richtung drehten. Es waren Gegenläufer darunter, und
es saßen mehrere kleine Windmühlchen auf einem gemeinsamen Holzreifen, so dass
sie sich immer gleichzeitig im Wind drehen mussten. Ich begann meine Mühlen ein
wenig zu lieben und sie mir persönlichen Besitz werden zu lassen. Ich glaubte
beinahe, an den Mühlen zu hängen und zwar besonders dann, wenn ich mit ihnen
spielte, sie häufig in die Hand nahm, anpustete und zum Drehen brachte.
Eines
Tages kam ich auf die Idee, dass im Garten eine große Windmühle aufgestellt
werden müsste. Das erzählte ich der Oma, weil ich mir so eine Ausgabe nicht
hätte leisten können. Die Oma wusste, wovon ich sprach, und sie kannte ein
Geschäft, wo man sich solche Mühlen ansehen konnte. Wir entdeckten eine. Die
hatte, wie eine wirkliche Mühle, ein Haus. Sie war etwa eineinhalb Meter hoch
und das Haus schwenkte schon bei geringem Wind an den großen Flügeln, von ganz
alleine mit.
Auf der
gegenüberliegenden Seite der vier großen Flügel saß ein kleines Rad, das drehte
sich auch und sorgte für das Schwenken. Ich war begeistert. Die Oma freute sich
über mich und im Garten war genügend Platz. Sie kaufte die Mühle, die aus
richtigem Holz gebaut war und ließ sie in ihrem Garten an einer wunderschönen
Stelle aufstellen.
Mir
reichte das aber nicht aus. Ich wollte einmal eine richtige Mühle in Betrieb
sehen. Eine richtige Windmühle wollte ich sehen.
Zusammen mit dem Österreicher, der von meiner Sammlung
keine Ahnung hatte und nur wusste, dass ich ab und zu mal mit einer Windmühle
spielte, machte ich eines Tages einen Ausflug, der uns unversehens zu einer Mühle
führte. Von außen war die so, wie ich mir eine richtige Mühle vorgestellt
hatte.
Für mich
war es eine Märchenmühle. Ich bestaunte sie lange aus dem Auto heraus, dann
stiegen wir aus, weil ich um sie herum gehen wollte. Das war aber verboten. Ich
ließ es lieber sein.
In der
Mühle befand sich ein Cafe. Wir gingen hinein, um uns alles anzusehen.
Drinnen
waren die Fenster schräge im Dach und es war sehr gemütlich. Um zum Gästezimmer
zu gelangen, mussten wir in den Bauch der Mühle. Dort befanden sich mehrere
kleine Sitznischen. Es roch überall nach Holz. Das war angenehm und kam mir
irgendwie vertraut vor. Jemand sprach uns an und sagte: „Glück zu“.
Wir
schauten den Mann verdutzt an.
Der
sagte aber: „Hier heißt es nicht ‚Guten Tag' sondern ‚Glück zu“.
„Ach,
das wussten wir nicht“, sagte ich.
Dann:
„Können wir die Mühle besichtigen?"
Der Wirt
verneinte: „Das geht leider nicht. Wir sind ein Restaurant, und oben sind ein
paar Gästezimmer. Die Mühle selbst ist nur noch von außen an den Ruten und
innen an der Aufteilung der Räume zu erkennen“.
Ich
fragte nach: „An was?"
Er: „An
den Ruten, das sind die Flügel. Die drehen sich aber nicht mehr“.
Ich
wurde maßlos enttäuscht. Ich hatte gedacht, eine Mühle würde immer eine Mühle
bleiben.
Wir
haben dort noch Kaffee getrunken und uns alte Fotos angesehen, die an den
Wänden hingen. Als wir wieder draußen waren, fiel mir ein, dass der Wirt
vielleicht wusste, wo man noch eine intakte Mühle besichtigen könnte. Ich ging
also wieder hinein, während der Österreicher schon zu seinem Auto schlenderte.
Drinnen
habe ich nachgefragt. Der Wirt wusste überhaupt nichts.
Er
sagte: „Da muss man wohl oder übel ins Ausland fahren. Aber einen genauen Platz
kann ich Ihnen auch nicht sagen. Da müssen Sie herumhorchen. Vielleicht haben
Sie ja Glück. Nur so erfährt man solche Sachen. Mühlen, die noch in Betrieb
sind, gibt es praktisch nicht mehr. Vielleicht sollten Sie mal in Griechenland
Urlaub machen. Da soll es noch welche geben“.
Ich
dachte: ‚Du spinnst, Kerl. In Griechenland sind das doch ganz andere Mühlen und
dass die nur für das Ausquetschen von Oliven benutzt werden, weiß ich sogar’.
Ich habe
ihn freundlich angelächelt und zog dann ab in Richtung Ausgang.
Trotz meines Lächelns war ich wütend. Ich wusste nicht
einmal, ob auf den Wirt oder auf mich. Alles war gegen mich. Links vor dem
Ausgang war eine Tür. Hinter der Tür konnte ich den Beginn einer Wendeltreppe
erkennen. Die führte nach oben. Davor, noch im Türschatten, stand eine Putze.
Es war eine kleine ausländische Frau in einem Kittel. Sie war um die dreißig
Jahre alt. Der Kittel war mausgrau. Daran waren keine Ärmel. Unter dem Kittel
hatte sie, da war ich sicher, außer einem Höschen, bestimmt nichts mehr an. Ich
fand, dass sie ganz gut aussah. Zuvor hatte ich sie überhaupt nicht bemerkt.
Sie hatte mich aber wohl schon die ganze Zeit beobachtet.
Sie gefiel mir, und ich behielt mein Lächeln bei. Als ich
an ihr vorbei musste, sprach sie mich an: „Du, Frau. Du, liebe Frau, bitte
warten“.
Damit nahm sie meine linke Hand in ihre beiden Hände, hob
sie sich ganz sanft erst an die rechte Wange, dann an den Mund und küsste sie.
Sie küsste sie ein einziges Mal und legte sie dann förmlich, als hätte sie
etwas Zerbrechliches berührt, an ihren Platz zurück. Beim Loslassen sah sie mir
so tief in die Augen, dass ich ganz unsicher wurde. Ich hörte aber nicht auf,
sie anzulächeln. Sie drehte sich um und ging die finstere Wendeltreppe hinauf
nach oben.
‚Mein Gott’, dachte ich, ‚was es alles gibt’.
Und dann: ‚Muss die einsam sein’. Damit ging ich nach
draußen.
Dem Österreicher hab' ich davon nichts erzählt. Ich sagte
ihm nur, was ich von dem Wirt erfahren hatte.
„Ich weiß wo welche stehn“.
Er: „Wo?"
Ich wieder: „Ich soll nach Griechenland fahren, wenn ich
welche sehen will, sagt der Wirt“.
Der Österreicher lachte über mich: „Siehst, wenn’s du
schon so fragst, Madl“.
Wenn er sprach, machte er mich schwach. Es waren nicht die
Wörter, die er benutzte, sondern es waren die Laute und die Art, wie er Wörter
auf der Zunge zergehen ließ. Ich liebte ihn in diesem Augenblick, umarmte
ihn, küsste ihn und hätte mit ihm hier und jetzt alles gemacht, wenn er es nur
getan hätte.
Nach
einer kurzen Strecke Autofahrerei überkam es mich ganz heftig. Wir waren aber
mitten auf der Landstraße. Ich konnte nichts dagegen machen, Meine Liebe zu dem
Österreicher wurde körperlich und meine Wut und die Enttäuschung ließen auch
nicht nach. Am heftigsten war aber ein neues unbestimmtes Gefühl in mir
geblieben. Das saß unter meinem Hals in der Brust. Das hatte mit dieser Frau im
Kittel zu tun.
Es
durchzog mich ein seltsamer Schmerz, der war angenehm und brachte die Lust mit
sich, ihn zu steigern. Er wanderte in die Brustwarzen, erst in die eine, dann
saß er in beiden. Sie zogen sich zusammen und wurden fest und hart. Ich spürte,
wie es in mir wanderte, wie es in mir tiefer rutschte.
Ich
sagte zu ihm: „Streichel mich“. Ich bekam einen Orgasmus.
Ich saß
zu bequem und lag fast im Sitz. Ich nahm die rechte Hand des Österreichers vom
Steuer weg und legte sie mir auf den Unterleib.
Er wusste
gleich, was los war, und schob seine Hand unter meine Jeans und unter mein
Höschen. Das andere machte er während der Fahrt mit den Fingern. Meine rechte
Hand schob ich unter die Bluse auf meine Brust und wartete, dass die harten
Spitzen sich zurückbildeten.
Das
alles dauerte nicht lange, dann war ich wieder in Ordnung. Ich drehte mich zur
Seite und schaute aus dem Türfenster.
Der
Österreicher hatte es sehr sanft gemacht. Danach ging es mir besser.
Er sagte
nichts dazu. Ich weiß nicht, wie es ihm dabei ergangen ist und was er dachte.
Ich habe, ihn auch nicht gefragt.
Nach ein
paar Sekunden kam ich hoch und gab ihm einen Kuss auf die Wange.
Ich war
jetzt hellwach und dachte allen Ernstes über die Möglichkeit nach, nach
Griechenland zu kommen.
Das
konnte ich aber total vergessen. Woher hätte ich dafür das Geld nehmen sollen?
Es musste doch irgendwo in der Nähe so eine verdammte
Windmühle geben, die noch intakt und auch in Betrieb war.
‚Naja,
abwarten‘, dachte ich, ‚du kriegst schon noch deine Mühle zu sehen’.
Was ich
selbst nicht für möglich hielt, trat schon ganz kurze Zeit später ein.
Irgendjemand hatte einen Spendenaufruf zur Rettung einer uralten Windmühle
gemacht, die an der dänischen Küste stehen und für deren Erhalt man spenden
sollte. Am Spenden war ich nicht interessiert, aber die Mühle war abgebildet,
und ich fand, dass sie gar nicht so schlecht aussah. Es waren noch alle Flügel
dran. Sie stand in einer schönen, leicht verwilderten oder naturbelassenen Landschaft,
und man konnte im Hintergrund ein Stück vom der Ostsee sehen.
Das
gefiel mir alles. Das, so beschloss ich, sollte endlich meine Windmühle werden.
An ihr wollte ich von nun an hängen, von ihr wollte ich von nun an vor den
anderen Mädchen schwärmen.
Und so,
wie sie aussah, war sie wirklich süß. Alles stimmte an ihr. So hatte ich mir
immer eine Windmühle vorgestellt.
Ich sah
vor meinen Augen schon, wie sie sich drehte, langsam und bedächtig, und hörte
das Knarren in ihrem Inneren und wie die Balken ächzten.
Etwa
drei Wochen danach hatte ich den Österreicher soweit. Er holte für einen Tag
eine Vertretung in seine Spielbude, und wir konnten mit seinem Auto die Fahrt
dorthin machen. Wir waren stundenlang unterwegs. Die Gegend wurde immer
einsamer und die Straßen immer leerer.
Die
letzten zwanzig, dreißig Kilometer trafen wir niemanden mehr an.
Auf den
Wiesen standen braunweißgefleckte Kühe. Die sahen wirklich blöde aus. Sie
schauten immer hinter dem Auto her. Aber in ihrer Seele mochte es ganz anders
aussehen. Mir taten die Viecher leid. Eine tote Katze lag am Weg. Die war
bestimmt überfahren worden.
Ich
dachte: ‚Was kann so ein Geschöpf nun dafür, dass es Autos gibt. Wahrscheinlich
wusste es davon gar nichts’.
Ich
dachte in meinen Selbstgesprächen an mich selbst: ‚Stell dir vor, und davon bin
ich überzeugt, du lebst in einer Welt, in der du von Dingen oder Lebewesen
umgeben bist, von denen du nichts weißt, von denen du keine Ahnung hast. Deine
Vorstellungskraft reicht nicht einmal aus, überhaupt zu erfahren, um was es
sich handeln könnte. Plötzlich liegst du selbst als so ein Katzentier im
Straßengraben und weißt nichts und ahnst nichts und bist einfach tot.
Ist doch
unfair, ist doch ungerecht, oder?
Also
nicht dran denken. Weitermachen, weitermachen, immer weiter weitermachen‘. Ich
seufzte einmal auf.
Wir
trafen in einem winzigen Dorf ein. Von einer Mühle war nichts zu sehen. Aber
die Leute in einem Gasthof wussten Bescheid: „Ja, das ist richtig. Den kleinen
Berg hinauf, dann sehen sie sie schon. Die ist gar nicht zu übersehen“.
Wir
hatten die viele Fahrerei satt und gingen das kurze Stückchen zu Fuß. Ich war
sehr gespannt, wollte mir beim Hinaufgehen aber auch Zeit lassen.
Je mehr
wir uns der kleinen Anhöhe näherten, desto ungeduldiger erwartete ich, die
Flügelspitzen der Mühle in den Himmel ragen zu sehen. Erst ganz zum Schluss,
als wir schon fast oben waren, tat sich etwas. Es wurde eine Art Turm sichtbar,
der rundherum von verschiedenen schrägen Flächen begrenzt war. Der Turm war so
klein, dass man ihn bestimmt nicht hätte begehen können. Es war eine Art Spitze
ohne Spitze. Wir gingen darauf zu und kamen auf eine große Baustelle. Ich
erkannte sofort, dass der ganze Turm der Mühle, offenbar das Teil, an welchem
auch die Flügel saßen, abgenommen und auf dem Boden vor der Mühle abstellt
worden war. Er war mit einem Kran herab gehoben. Der Kran stand da noch, und
die Mühlenspitze mit den vier Flügeln war sorgfältig und als Paket verschnürt,
auf einem riesigen Holzgerüst abgelegt.
Es waren
keine Handwerker zu sehen.
Weit und
breit war überhaupt keine Menschenseele. Alles war mit durchsichtigen
Kunststoffplanen zugedeckt und für längere Zeit wetterfest verpackt.
Meine
Enttäuschung kannte keine Grenzen.
Ich lief
über ein nasses Feld daneben. Darauf standen Pfützen und der Boden war so
matschig, dass ich beinahe mit meinen Schuhen darin stecken geblieben wäre. Ich
stützte mich an dem Gestell mit der Turnspitze ab, warf mich auf eines der
Flügelenden und heulte drauf los.
Ich staunte
dabei über die Größe eines einzigen Flügels. Trotz meiner Tränen war ich davon
überrascht. Die Flügel schienen mir so gewaltig, dass ich Angst davor bekam.
Ich schlug mit beiden Fäusten auf diesen bescheuerten Mühlenflügel ein. Meine
Hände taten mir sofort weh, weil ich auf eine Stelle getroffen hatte, die
ziemlich spitz gewesen war.
Mein
Österreicher kam nicht auf den Einfall, mich zu trösten. Als ob ich überhaupt
nicht da wäre, als ob gar nichts mit mir los wäre, spazierte er herum und kam
schließlich auf mich zu: „Was meinst, woll'n wir?"
„Ja“.
Dem war
alles so Scheißegal. Ich stieg ins Auto. Er kam nach und wir fuhren die lange
Strecke zurück.
Nach ein
paar Tagen sagte ich zu ihm: „Ich wünsch mir 'was von dir“.
Dass ich
so einfach einen Wunsch von ihm erfüllt haben wollte, musste ihn fürchterlich
getroffen haben. Er wurde richtig blass und sein Mund öffnete sich zu einem
schmalen Spalt. Darüber erschrak ich wiederum und fragte: „Was denkst du denn,
was ich mir wünsche, he? Nu sag's bitte“.
Er konnte
sehr gut hochdeutsch sprechen, wenn er wollte, und sagte: „Na, was ihr Frauen
alle wollt“.
Ich wusste nicht, was er meinen konnte und guckte ihn an.
Ich
rätselte innerlich herum und sagte nichts und kam auf nichts.
Er aber:
„Ein Kind willst haben, ein Kind von mir, ja?"
Das kam
mir in dem Augenblick so schrecklich fremd und fern vor, so völlig außerhalb
jeder Wirklichkeit, dass ich richtig lachen musste.
Während
ich aber noch lachte, dachte ich: ‚Die Idee, mein Lieber ist gar nicht
schlecht. Warum soll ich mir das nicht mal vornehmen. Nur jetzt nicht. Nein,
jetzt bitte noch nicht’.
Ich
sagte unter Lachen zu ihm: „Wenn du unbedingt willst, auch das. Aber jetzt
sollst du mir bitte etwas kaufen“.
Er atmete richtig auf, war erleichtert, und sagte: „Ich
geb' dir Geld, kauf' es dir selber. Ich muss doch im Geschäft bleiben,
Schaatz“.
Er sagte Schatz immer mit so einer Dehnung, wie ich sie an
seiner Sprache liebte.
Ich war zufrieden und sagte: „Ist gut“.
Er gab mit reichlich Geld. Es war viel zu viel. Damit fuhr
ich in die Innenstadt in ein sehr teures Porzellangeschäft und suchte mir eine
kleine Delfter Mühle aus. Sie funktionierte nicht richtig. Die Flügel waren
nicht zum Anpusten, man konnte sie nur mit dem Finger anschubsen. Das reichte
aber schon. Das fand ich gut.
Sie war die allerkleinste und allerniedlichste aller
meiner Mühlen. Aus meinem Kopf wollte die ganze Zeit über der Gedanke an seine
Vermutung nicht wieder weichen. Immerzu musste ich mich fragen, ob ich mir ein
Kind wünschte oder nicht.
‚Das wird er wohl schon früher von mir erwartet haben’,
dachte ich. ‚Klar, dass er damit gerechnet hat’.
Ich war ungeschickt gewesen: ‚Warum war ich nicht viel
früher von selbst drauf gekommen. Das war es, was ich nicht an mir verstehen
konnte. Wozu hätte ich ihn sonst heiraten wollen, wenn nicht auch, um Kinder zu
bekommen. Ich hatte aber, um ehrlich zu sein, bis dahin noch nicht einmal den
Gedanken an ein eigenes Kind gehabt, geschweige denn, den Wunsch danach
verspürt. Das war etwas, was mich noch viel stutziger machte, als alles andere
zuvor‘.
Bei den
Gedanken an ein Kind, egal, ob ich es wünschte oder nicht, wurden die
Windmühlen innerhalb von wenigen Tagen zu irgendeinem Spielzeug, von dem ich
mit ganz eigenartigen Gefühlen Abschied nehmen musste. Es kam mir wirklich so
vor, als wäre ich mit einem Schlag aus einer Kinderkleidung herausgewachsen und
hätte nun endlich bemerkt, in welch engen Hemdchen ich herumgelaufen war. Ich
zog mich in eines der Zimmer der Oma zurück und dachte lange nach.
Die
Windmühlen waren gut zum Spielen. Sie ließen sich noch genauso schön in
Bewegung bringen, aber sie waren mir kein Bedürfnis mehr. Die Alte merkte, dass
mit mir etwas nicht in Ordnung war, und sie hielt sich zurück. Sie machte uns
Essen, und kümmerte sich absichtlich nicht um meine Angelegenheiten.
Wenn ich
mich an das erinnerte, was sie vor noch gar nicht langer Zeit beiläufig gesagt
hatte, dann, dachte ich, musste sie eigentlich eine enorm schlaue Frau sein.
Ob sie
es nun bewusst gesagt hatte oder nicht, weiß ich nicht, sie aber hatte doch
dieses Wort von einem Windmühlenbaby in die Welt gesetzt. Sie wusste
wahrscheinlich nur zu gut, was sie damit hatte andeuten wollten: ‚Wenn schon
kein richtiges Baby, dann eben ein Windmühlenbaby‘.
Der Oma
traute ich das glatt zu. War andererseits aber auch ein lieber Zug von ihr,
denn sie hatte begriffen, dass das Leben weiterging und nicht nur aus Klamotten
und dummem Gefasel bestand. Meine Selbstgespräche auf der Fahrt zur Mühle:
‚Weitermachen, weitermachen’, reichten eben nicht aus.
Jetzt
dachte ich: ‚Tun musst du etwas, Tanja, richtig etwas tun. Das ist etwas ganz
anderes als nur weitermachen’.
Und, was
sollte ich tun? Vielleicht war das mit dem Kind ein Tipp. Vielleicht wünschte
er sich ja ein Kind von mir. Wenn er schon nichts dagegen hatte, dass ich ihn
oder dass wir heiraten würden, dann musste er doch ebenso wie ich davon
ausgehen, dass wir auch Kinder haben würden. Das hatte er mich ja nun deutlich
genug wissen lassen. Die Pille wegzulassen, lag nicht drin. So ein Betrug kann
schwer ins Auge gehen. Nein, der muss so heiß werden, dass er von sich aus noch
einmal darauf zurückkommt und ich ihm dann den Wunsch erfülle.
Dann
kann ich sagen: ‚Gut, wenn du dir unbedingt ein Kind wünschst, lass ich die
Pille weg und wir werden sehen’.
Wenn ich
die Oma fragen würde, wie die das früher angestellt haben, dann wird die wieder
sagen: ‚Die einfachste Methode ist immer noch die beste’.
Aber
dann ist sie mit ihrer Weisheit auch schon am Ende. Die hat doch nie die Pille
gekannt. Überhaupt, wie die das wohl früher gemacht haben? Immer enthaltsam
leben? Immerzu in Angst leben? Oder Kinder kommen lassen, wie es nun mal
passierte? Ich glaub' die haben alles gleichzeitig betrieben. Dann kamen noch
Abtreiben, Fremdgehen und Benutzen von Kondomen dazu. Betrügen nannten die das
früher: ‚Sie hat ihn mit dem und dem betrogen; oder er hat sie mit der und der
betrogen’.
Ich
finde ja auch, dass es Betrug ist, aber es ist erst Betrug, wenn der andere
nichts davon erfährt. Und die früher meinten, dass es Betrug wäre, wenn der
Partner es erfährt. Ach, ich weiß nicht, was ich machen soll’. Ich überließ
mich meinen Spekulationen und hoffte auf den Zufall. Der kam aber nicht.
Ich habe
mich dann doch der Oma anvertraut. Die war nicht so dumm, wie ich dachte.
Sie
sagte so: „Wenn du ein Kind von ihm haben willst, kannst du es ihm sagen.
Vielleicht will er es auch. Wenn er aber ‚Nein‘ sagt, kannst du in Zukunft
reden, soviel und was du willst, dann ist der Zug abgefahren, und du wirst die
eigentliche Zustimmung von ihm nur noch schwer bekommen. Bei Männern ist das
so. Wenn du also unbedingt ein Kind von ihm haben willst, dann darfst du ihn
nicht fragen.
Du kannst dich zum Beispiel rarmachen. Das ist auch eine
Methode. Bei Eurer heutigen Freizügigkeit ist das aber für einen Mann gar kein
Problem. Der findet immer was und wartet, bis du dich nicht mehr so anstellst.
Noch
einfacher wäre es, die Pille wegzulassen. Das ist aber Betrug, und wenn es an
die Unterhaltszahlungen geht, kann er immer sagen, dass du ihn hintergangen
hast; dass du den Verkehr nur gesucht hast, um ein Kind zu bekommen. Das ist
auch nicht gut und du stehst schlecht da. Und warum die Kuh, die Milch gibt,
schlachten, he? Vielleicht liebst du ihn sogar, dann kommt so etwas für dich
schon gar nicht in Frage.
Ja, und
dann gibt es noch die ‚einfache' Methode und die ist bestimmt die beste“.
Ich hab'
gefragt: „Und wie geht die?"
Sie
wieder: „Sie ist nicht todsicher, aber sie hat sich bewährt. Erst einmal machst
du ein paar Knöpfe deiner Bluse schön brav zu. Wenn er sich daran gewöhnt hat,
machst du sie wieder etwas auf. Du wirst sehen. Dass du sie zugemacht hast,
wird er kaum bemerkt haben, dass du sie aber wieder aufmachst, sieht er sofort.
Wenn er etwas
dazu sagt, machst du sie noch weiter auf, dann kommt er und will 'was von dir.
Das lässt du ruhig zu, aber jedes Mal, wenn es soweit ist, musst du sagen: ‚Du
denkst nur an dich. Dass ich auch Wünsche habe, ist dir egal’. Oder so ähnlich.
Dann fragt er schließlich nach deinen Wünschen. Die verrätst du aber nicht, die
muss er erraten. Irgendwann trifft er ins Schwarze. Dann sagst du, dass du dir
das doch so sehr von ihm wünschst, aber er und so weiter und so weiter. Und so
komm der Wagen ins Rollen. Das alles immer, bevor er zu dir kommt, ist doch
klar, oder?"
Ich
sagte: „Nein, warum denn vorher? Da hört er doch sowieso nicht zu, und
hinterher pennt er“.
Sie
wieder: „Mein Gott, hinterher nützt das doch nichts. Da ist doch alles
passiert, ja?"
Sie
hatte recht.
Ich
sagte: „Und die Pille, die ess' ich doch vorher“.
Sie
wieder: „Ich glaub', die kannst du auch noch hinterher schlucken. Bis zu zwei
oder sogar drei Stunden, glaub ich. Hauptsache ist, dass du sie regelmäßig
isst. Und wenn es anders ist, dann sagst du, dass du mit seinem Einverständnis
gerechnet hast und die Pille schon weggelassen hast. Dann lässt du sie eben von
da an weg“.
Ich:
„Hört sich vernünftig an“.
Sie
wieder: „Willst du denn überhaupt ein Baby?"
Ich:
„Ich glaube schon“.
„Weißt du,
Tanja“, sagte sie, „wenn so ein Wurm erst einmal da ist, sieht alles ganz
anders aus. Dann ist es, als wäre es schon immer da gewesen, als ob es niemals
anders gewesen wäre.
Kein
Mensch fragt dann, ob es nicht besser gewesen wäre ohne das Kind oder so. Auf
so eine Idee kommt niemand mehr. Das wird immer nur vorher gefragt“.
Ich
wunderte mich, was die Alte alles drauf hatte.
Nachdem
ich eine Woche hochgeschlossen herumgelaufen war, ließ ich wieder etwas nach.
Mehr Großherzigkeit kam meiner Natur eher entgegen als so eine
Stehkragenjungfernhaftigkeit. Draußen war es noch ziemlich kalt, so dass ich
gewaltig fror, wenn ich nun, wieder offenherzig, mal nach draußen musste.
Der
Österreicher bemerkte tatsächlich, dass ich mehr zeigte als zuvor und begann
ein wenig mich zu umgarnen. Das gefiel mir und ich ließ ihn gewähren. Besonders
stürmisch wurde er aber dadurch nicht, sondern er versuchte immerzu mit mir in
ein Gespräch zu kommen, welches ich natürlich auf die gemeinsamen Bettstunden
verlegen wollte. Es schien mir auch, dass er mir etwas sagen wollte, wofür er
eine gewisse Überwindung brauchte.
Wenn ich
dann zu ihm sagte: „Du, können wir nicht heute Abend darüber sprechen“, dann
war er zwar damit einverstanden, aber nicht wegen des Abends oder weil er dann
allein mit mir war, sondern offenbar nur, weil es ihm lieb war, nicht schon
jetzt damit herausplatzen zu müssen.
Ich lief
ihm absichtlich mit engen Jeans vor der Nase herum und hatte ein dekolletiertes
Oberteil mit eingebautem Formteil an. Ich fand, dass das schrecklich klemmte,
aber es schob den Busen als zwei kleine Wellen deutlich aus dem Ausschnitt
heraus. Es erinnerte mich ein bisschen an die Dekolletés von Burgfräuleins. Es
war ein moderner Schnitt, und alles war aus glattem, schwarzem Leder. Natürlich
völlig ohne Arme, schon wegen der Tätos.
Das
Oberteil saß hauteng wie die Hose. Wenn ich mich im Spiegel betrachtete und
vergaß, dass es überall drückte, fand ich mich: ‚Scharf. Scharf siehst du aus,
Tanja. So gefällst du mir’.
Ich war
mit meinem Aussehen also zufrieden, obwohl es eine richtige Anmache war und kam
trotzdem auf meine Kosten.
Der
Österreicher hatte offenbar andere Probleme. Mit denen rückte er nur langsam
heraus. Er traute sich nicht recht, mit mir darüber zu sprechen.
Bei ihm
war eine Bedienung ausgefallen oder er hatte sie hinausgeschmissen. Jedenfalls
fragte er mich nach langem Zaudern, ob ich nicht aushelfen könnte. Eigentlich
war dagegen nichts zu sagen, denn er war immer großzügig zu mir. Ich sprang
ruhig ein. Darüber war er ungeheuer erleichtert.
So, wie
ich aussah, passte ich total in den Laden. Die Männer, seine Kunden, fanden
mich schick und versuchten ab und zu sich an mich heranzumachen. Das konnte der
Österreicher tatsächlich verhindern. Dass ich mit dem Kassieren nicht
zurechtkam, fiel überhaupt nicht auf, weil ich derartig viel Trinkgeld bekam,
dass es den Österreicher überraschte. An einem Abend konnte ich manchmal über
einhundert Euro kassieren. Das waren nur Trinkgelder. Fast alle Männer fragten
mich nach den Tätowierungen und ich habe zu Anfang viel erklärt. Später habe
ich nur noch gesagt: „Das sind alles Spuren von meinen Liebhabern“.
Der
Österreicher sagte mir, nachdem wir dieses Spiel schon über zwei Monate
betrieben hatten, dass durch mich, und das könnte er ganz einfach vergleichen,
der Umsatz sich mehr als verdreifacht hätte. Mir war das recht und die Arbeit
machte mir Spaß. Dass wir nur nachts arbeiteten, kam mir gelegen. Der Umgang
mit den Männern brachte das eine oder andere Mal tatsächlich eine Verabredung,
oder sie gaben mir ihre Visitenkarte: „Ruf ruhig 'mal an. Bin jederzeit zu
erreichen unter der Nummer. Sagst nur deinen Namen, das reicht, ja?"
„Ja,
ja“.
Es wurde
aber nie etwas Ernstes daraus. Das verhinderte ich immer selber. Der
Österreicher sprang nur ein, wenn jemand zudringlich wurde und mich
angrapschte.
Die
Männer, die in diese Spielbude kamen, waren fast nur auf das Spiel aus, und
nicht auf eine Bekanntschaft. Das verstand ich überhaupt nicht, denn die Spiele
waren ja immerzu die gleichen. Abend für Abend waren es die gleichen Spiele und
die Männer, vor allen Dingen sehr viele, sehr junge Männer, waren wahnsinnig
leidenschaftlich, verhext und wie besessen. Bei einigen musste ich stehen
bleiben, um ihnen Glück zu bringen. Wenn sie gewannen, waren sie großzügig.
Wenn sie verloren, waren sie es auch. Sie gaben mir dann trotzdem Geld als eine
Art Opfer, um das Glück zu zwingen. Das wollten sie später nicht wieder zurück
haben. Ich durfte immer alles Geld behalten. Einigen Spielern sah man an, dass
sie süchtig waren, richtig süchtig nach dem Spiel. Vor denen hatte ich Angst.
Auch die anderen gingen denen aus dem Weg. Man konnte es an ihren Augen sehen.
Darin war ein irrer Blick. Die liebten auch nicht den Gewinn, weil sie ihn ja
sofort wieder einsetzten. Die liebten nur das Spiel. Die liebten die Zeit, wenn
das Spiel gemacht wurde. Ich konnte das nicht verstehen.
In
diesen Wochen ließ ich mich kaum bei der Oma sehen und Zuhause war ich schon
sehr, sehr lange nicht mehr gewesen. Ich bekam aber plötzlich Sehnsucht und
fiel bei meinen Eltern ein.
Mein
Hundi freute sich am meisten. Meine Mutter hatte eine Frage auf den Lippen, die
hing bestimmt mit meiner Kleidung zusammen, aber die verkniff sie sich. Ich war
müde und schlief im Flur auf dem Fußboden unter einer Decke. Hundi lag neben
mir und wich nicht von meiner Seite. Das tröstete mich. Ich musste dabei
einmal, ohne eine einzige Träne geweint zu haben, tief aufschluchzen. Ich
fragte mich, schon halb im Schlaf, warum ich so ohne ersichtlichen Grund hatte
aufschluchzen müssen. Das hatte mich ohne Ankündigung überrascht. Es war
einfach mit dem Einatmen über mich hinweggegangen. Das kannte ich nur an mir,
wenn ich gerade aufgehört hatte zu weinen, wenn keine Träne mehr kommen konnte.
Ich schlief dann aber ein.
Nachts
wurde ich hellwach. Alle schliefen fest. Da bin ich aufgestanden, hab' das Haus
verlassen und bin den ganzen Weg zu Fuß zur Oma gegangen. Die bemerkte nichts
von meinem Kommen. Dort ging ich ins Bett und schlief mich aus.
Am
frühen Nachmittag erwachte ich. Die Oma war völlig überrascht, mich in ihrer
Hütte zu sehen. Das fanden wir lustig und verbrachten einen schönen Nachmittag.
Der Österreicher hatte ja keine Ahnung, wo ich sein könnte, und ich meldete
mich nicht. Ich hatte mir vorgenommen, bei der Oma zu bleiben. Die Alte war gut
zu mir.
Wir
sprachen über meine Mühlen und ich sagte ihr: „Ich hänge nicht mehr an den
Dingern“.
Sie
gleich: „Das ist gut“.
Dann:
„Kommst du morgen mit auf den Markt? Zum Einkaufen?"
Ich
sagte: „Ja, mach' ich“.
Ich zog mich
pausenlos um. Meine schwarzen Hemdchen zog ich so herum und verkehrt herum an.
Alles nur, weil mir das Umziehen Spaß machte.
Die eine
Bluse, mit dem großen Rückenausschnitt war am attraktivsten. Ich zog sie auch
verkehrt herum an. Ich war richtig albern und übermütig.
Mein
Busen schwabbelte vorne im Rückenausschnitt.
So ging
ich zur Oma und sagte ganz ernsthaft. „Ich muss jetzt zur Arbeit. Wie findest
du meinen Auftritt?"
Sie kam
nah heran und sagte genauso ernst wie ich: „Arbeitest du jetzt als Bardame,
he?"
Das
brachte mich auf den Boden zurück. Verflucht, die Alte hatte alles und alle
durchschaut. Der Österreicher, dieses Schwein, hatte mich, statt mir ein Kind
zu machen, auf eine ganz linke Tour zu seiner Bardame gemacht. Deshalb hatte er
so herumgedruckst, weil er sich nicht getraut hatte, mir das richtig zu sagen.
Und ich oberblöde Kuh hatte den ganzen Quatsch auch noch mitgemacht und
gedacht, dass ich ihm helfen könnte. Dabei hat er mich noch nicht einmal aufs
Kreuz gelegt, denn er hat bezahlt, er hat mich machen lassen, was ich wollte,
und das allerschlimmste oder allerschönste war, dass ich ihn noch nicht einmal
soweit hatte, dass er ein Kind von mir wollte.
Er
konnte gar nichts dafür.
Trotzdem,
nie im Leben würde der mich da wieder sehen. Glück hatte der gehabt, dass mir
gerade bei der Alten ein Licht aufgegangen war. Dem hätte ich einen Tanz
gemacht. Und ins Bett hat er mich auch immerzu gekriegt. Oh, mein Gott, was war
ich für eine dumme Ziege. Für so saudämlich hätte ich mich selbst nie gehalten.
Ich
dachte, wenn ich jetzt sofort mit der Pille aufhören würde, ob das wohl noch
reichte, um ein Kind daraus werden zu lassen? War natürlich auch Unsinn. Das
war gerade das besondere an der Pille: ‚Schützt bei regelmäßiger Einnahme’.
Ich
sagte zur Oma: „Die einfache Methode hat nicht geklappt“.
Sie:
„So? Und warum nicht?"
Ich:
„Weiß nicht, ich bin zu blöd“.
Sie
wieder: „Sei ehrlich, er weiß doch gar nichts davon, stimmt's? Hast du ihm
gesagt, dass du ein Kind willst? Nein. Ich sag's dir auf den Kopf zu: hast du
nicht, aber..."
Ich
holte gerade Luft, um loszulegen, sie fuhr einfach fort: „Du darfst dabei eines
nicht vergessen: wir sind nicht allein auf der Welt. Vielleicht sollte es nicht
sein, noch nicht. Da oben ist noch jemand Höheres. Wer weiß, was der mit dir
vorhat. Wer kann das wissen?"
Ich
schnappte wieder nach Luft, aber sie ließ mich nicht zu Wort kommen: „Könnte
doch sein, dass du den Richtigen erst kennenlernen sollst. Wer weiß das, Kind,
warte ab“.
Ob ich
'was zu dazu sagen wollte oder nicht, interessierte sie einen feuchten Käse.
Sie schickte mich in den Keller: „Da steht noch eine schöne Flasche Schampus“,
sagte sie, „die holst du bitte rauf, die werden wir köpfen“.
Aus
Alkohol mache ich mir nun überhaupt nichts. Das konnte sie ja nicht wissen. Ich
ging also runter, fand die Flasche und brachte sie nach oben. Es lag sicher
daran, dass ich so selten trinke, und prompt lag ich nach dem ersten halben
Glas der Oma an der Brust und heulte wie ein Schlosshund.
Die
Kleider der Oma rochen ganz eigenartig, so dass ich es nicht lange aushielt.
Das war ein Geruch, den ich kannte. Es war ein Geruch, der zugleich Erinnerung
für mich war. Vor mir stieg ein blauer Fliederstrauch mit seinem warmen Duft
auf, und es roch, nein, es schmeckte in meinen Mund nach Blut.
Ich
erschrak darüber sehr. Um sicher zu sein, nahm ich einen Zipfel des Kragens
ihrer Schürze, und wischte mir damit die Tränen ab. Ich roch noch einmal so
intensiv und so unauffällig wie nur möglich. Es gab keinen Zweifel. Die Oma
roch nach Flieder, und es schmeckte dabei in meinem Mund nach Blut. Das machte
mich völlig unsicher und betroffen. Ich konnte nicht mehr weinen und wusste
nichts mehr zu sagen. Ich war wieder völlig nüchtern.
Den
ganzen Abend versuchte ich herauszubekommen, ob die Oma ein Parfüm benutzte,
das ich nicht kannte. Ich untersuchte später und am anderen Tag alle ihre
Seifen. Ich roch an ihren Waschlappen, an ihren Handtüchern, an allen Kleidern
und in ihren Kleiderschrank. Ich fand nichts.
Sogar
den Kittel beroch ich noch einmal, als sie ihn kurz vor dem Weg zum Markt
abgelegt hatte. Aber er roch, wie die Sachen einer alten Frau riechen: nach
Küche, etwas nach Schweiß, nach Körperlichem, nach nichts weiter. War alles nur
Einbildung gewesen? Durch dieses Erlebnis war ich verstört. Ich konnte mir
nichts richtiges vornehmen, wusste nicht mehr, was ich eigentlich wollte. Ich
wusste überhaupt nichts mehr.
Auf dem
Markt tauchte die Erinnerung an den Fliederstrauch noch einmal auf. Es war mir
unerklärlich, wie ich beides, den Geruch und den Geschmack, hatte wieder
wahrnehmen können.
Die
ganzen Tage, die ich bei der Oma verbrachte, blieb ich still und unruhig. Ich
dachte nicht mehr an den Österreicher und schon gar nicht daran, wie ich von
ihm ein Kind bekommen könnte.
Ich
hatte meine Handtasche schon zigmal ausgekramt und darin ziellos
herumgestöbert. Einige Visitenkarten waren dabei zutage gekommen. Die legte ich
beiseite.
Eine war
von einem Franzosen, eine andere von einem Süddeutschen. An dem hatte mir die
Aussprache zu gut getan. Dann hatte ich noch eine Handgeschriebene. Davon hatte
der einen ganzen Stapel gemacht. Waren alle mit der Hand geschrieben. Das fand
ich witzig.
Er aber
nicht: „Das ist der erste persönliche Eindruck, den ich vermitteln kann. Den
darf ich doch nicht von einer Maschine herstellen lassen“. Ich fand, da war
'was dran. Es war aber auch sehr viel Arbeit, die Dinger alle von Hand zu
schreiben.
Eine
andere stammte von einem gemütlichen Dicken, einem Schweden. Der war auf der
Durchreise. Er hatte hier Station gemacht. Wenn mir gar nichts weiter einfallen
würde, könnte ich den in seinem Hotel anrufen. Der würde sich bestimmt freuen.
Irgendwie erinnerte er mich an meinen Hundi.
Der
Schwede musste in einem vernünftigen Alter sein. Ich schätzte so um die vierzig.
‚Dick und älter’, dachte ich, die sind treu. Dick ist gemütlich, das wärmt so
schön von innen’.
Die
anderen waren junge Springer, so um die zwanzig. Ich habe es lieber, wenn mein
Freund nicht so jung ist. Mögen könnte ich sie
trotzdem alle. Aber der Schwede war wirklich ganz süß.
Der
sagte doch einmal zu mir: „Weißt du, wir beide könnten richtig verliebt
ineinander sein. Du bist so hübsch. Weißt du das?"
Ich fand
den so süß, zum Anbeißen. Dann hat er mir einfach seine Visitenkarte
hingehalten.
Die Oma
rief nach mir. Sie wollte zum Markt. Ich ging mit. Das hatte ich ihr ja
versprochen. Von da brachte ich mir zwanzig grüne Stengel mit. Es waren
Narzissen, deren Blüten noch völlig geschlossen waren. Sie sahen aus, als
würden sie es niemals schaffen, da herauszuwachsen und mit ihren strahlenden
Gelb und ihren königlichen Formen zu erscheinen. Sie hatten jetzt wirklich nur
eine Verdickung. Die war ebenso grün wie die Stengel selbst.
Ich
wollte ihnen bei mir, in der Vase, zuschauen können, wie sie aufblühen würden.
Es fiel mir immer wieder schwer, zu glauben, dass aus diesen hässlichen
Stengelenden so schöne Blüten hervorbrechen würden, obwohl ich wusste, dass das
so ist, und obwohl ich es mit eigenen Augen schon oft genug gesehen hatte.
Die
zwanzig Blumen waren nur zwei Bunde. Die hatte ich mir an einem Stand geben
lassen wollen.
Die
Marktfrau hatte sie unter dem Tisch in einem Pappkarton liegen. Als ich danach
fragte, wollte sie mir die nicht verkaufen.
„Tanja,
ich geb' dir schon Angeblühte, die sind weiter auf, aber nicht die ganz
Grünen“.
Damit
packte sie mir einfach die anderen ein.
Als sie
mir die geben wollte, sagte ich ganz leise: „Nein, bitte nicht. Bitte die
anderen“.
Ich sah,
wie der Frau Tränen in die Augen schossen. Sie sagte aber nun nichts, packte
die Blumen wieder aus und nahm wirklich die grünen und wickelte die ein.
Dann
sagte sie: „Nimm sie. Bitte“, und legte mir die in die Hand. Ich wusste, sie
würde jetzt keinen Cent von mir nehmen wollen. Ich war mir aber nicht ganz
sicher und lächelte und wartete einen kleinen Augenblick ab. Sie streichelte
mir kurz über die Hand und schob mich tatsächlich mitsamt den Blumen von sich
weg und auf den Weg. Ich hatte das Gefühl, dass sie sich zwang, mir nicht
weiter nachzuschauen.
Sie
bediente eine andere Kundin. So sind die auf dem Markt zu mir. Das ist ein ganz
eigenartiges Völkchen.
Ein
schöner neuer Tag, der mit Sonnenschein beginnt, mit Sonne, die mir direkt ins
Gesicht fällt, die mich schon im Bett durch ein Fenster begrüßt, ein neuer Tag,
der mich so begrüßt, ist für mich wie der Beginn eines neuen Lebens.
Ich
hatte sofort den Gedanken: ‚Heute besuch ich meine Eltern. Vielleicht hat Mami
sich beruhigt und nörgelt nicht mehr an meinen Sachen herum’.
Außerdem,
so beschloss ich, würde ich, wenn ich sie heute besuchen ginge, in einem ganz
braven Kleid aufkreuzen. Ja, in einem Kleid und nicht in Hosen. Sicher hatte
sie bei meinem letzten Auftritt einen Schlag bekommen. Ich musste ihr ja als
Flittchen vorgekommen sein. Hätte in der Aufmachung glatt vom Strich kommen
können. Ich hatte gesehen, wie es ihr auf den Lippen brannte, dazu etwas zu
sagen. Sie hatte es sich aber verkniffen. Wahrscheinlich wäre es am nächsten
Morgen zur Sprache gekommen. Bestimmt.
Zu
meinem Vater wird sie wieder gesagt haben: ‚Heute sag' ich nichts zu ihrem
Aussehen. Tanja soll sich erst einmal wieder wie Zuhause fühlen’.
Kenn'
ich alles. Dem sagt sie nie die Wahrheit. Will er auch gar nicht wissen.
Komisch eigentlich. Wahrscheinlich schön bequem für ihn: ‚Was ich nicht weiß,
macht mich nicht heiß’. Nach so einem Spruch lebt er.
Herrlich
war der Morgen: ‚Tanja, freu dich, es wird ein goldener Tag. Freu' dich
darauf’.
Die Oma
war auch guter Dinge. Der Österreicher konnte nicht stören und der Schwede war
mir egal.
Wenn ich
das schon höre: ‚Bin auf Geschäftsreise, auf der Durchreise’.
Man
sollte denken, dass Geschäftsreisen etwas Schlimmes sind oder doch etwas
Unangenehmes, weil sie mit Entbehrungen zu tun haben. Ist aber nicht so. Es
wird hingestellt, als hätte derjenige, der sie macht, eine Freikarte für die
Eroberung der Welt gewonnen. Einerseits wollen diese Typen dauernd bedauert
werden, wie schwer sie es haben. Wenn man aber was sagt, sind sie empört.
Andererseits haben sie sich dieses Leben aus dem Koffer gewünscht: „Das ist das
wahre Leben“.
Alles
Spinner. Die denken nur ans Geld. Das ist alles:
money, money, money. Wahrscheinlich
haben sie ihre Gedanken sogar in den verschiedenen Währungen im Kopf. Naja,
gibt natürlich Ausnahmen. Gut, also reg' dich wieder ab, Tanja. Heute besuchst
du deine Eltern und bist das artigste Mädchen von der Welt.
Die Oma
hatte Frühstück gemacht, und ich sagte zu ihr: „Ich möchte dir Geld geben, weil ich doch so oft hier bin, und du
immer alles bezahlst“.
Sie:
„Hast du denn was?"
Ich:
„Ja, sehr viel. Trinkgeld und der Österreicher war auch nicht knauserig. Ich
habe reichlich“.
Damit
holte ich meine Handtasche hervor, die war dick und prall und ging kaum zu. Ich
legte ihr daraus fünfhundert Euro auf den Tisch. Die Alte sah gar nicht richtig
hin. Mit der linken Hand schob sie das ganze Geld zurück, dass es mir in den
Schoß segelte: „Heb's dir auf, du dummes Küken“.
Dann
beugte sie sich zu mir und gab mir einen Kuss auf die Stirn. So ist die. Nie
will sie etwas haben. Vielleicht sollte ich ihr ein Geschenk machen. Es hatte
auch keinen Sinn, ihr das Geld aufzudrängen. Ich glaube, sie wollte und sie
brauchte es nicht.
Ich habe versucht, das Geld wieder zurück in die Tasche zu
stopfen. Es war nämlich so viel Geld, ich glaube an die fünftausend oder sechstausend
Euro, dass sie sich gar nicht mehr richtig schließen ließ. Ich wollte das Geld
auch irgendwie loswerden. Ich hatte keine Lust
es immerzu mit mir herumzuschleppen und holte alles heraus. Ich wollte
es zählen und leerte die Tasche auf dem Tisch aus. Das war mir dann aber auch
zu blöd. Die Oma sah mich mitleidig an. Sie nahm alles Geld an sich, zählte es
sorgfältig und langsam und sagte: „Das sind fast neuntausend Euro. Das schlepp
lieber nicht mit dir herum. Geh in den Keller. Hinter dem Wein steht eine
Kassette. Da liegt mein Geld drin. Nimm dir einen Umschlag und leg' deins dazu.
Schreib' deinen Namen rauf, aber ganz groß, damit ich es nicht verwechsle. Du
kannst doch nicht so viel Geld mit dir herumschleppen, Kind“.
„Du hast
recht. Ist die Kassette offen?"
„Bestimmt.
Die hab' ich noch nie abgeschlossen“.
Ich
steckte mein Geld in einen Umschlag, ging in den Keller und tat es dort noch
einmal in eine Tüte, auf der ganz groß mein Name stand. Nun war ich es los.
Das
erleichterte mich.
Ich
hätte zwar keine Angst gehabt, mit dem Geld herumzulaufen, aber ich fand es
besser so. Und ein Depot hat auch seine beruhigende Wirkung. Ich hatte
inzwischen gelernt, dass es ganz gut sein konnte, über eigenes Geld zu
verfügen.
Die
Sonne hielt sich, und ich begann einen ausgedehnten Spaziergang. Zum Schluss
wollte ich bei meinen Eltern ankommen. Der 0ma sagte ich nur, dass ich
spazieren gehen würde. Sie fragte zum Glück nicht nach, ob ich zum Mittagessen
wieder da sein würde oder so.
Draußen
war die Luft fast lau, es war eine Art beginnender Frühling. Man hörte das
Klingeln der Blaumeisen. An liebsten hätte ich meine Arme in die Luft geworfen,
nur um zu sehen, was dann passieren würde. Ich ließ mich gehen und wollte auf
nichts mehr achten müssen. Das kam, weil mich eine innere Leichtigkeit
überraschte. Das war ein sonderbares Glücksgefühl: Nie in Leben würde ich
wieder wegen irgendetwas Angst haben müssen. Es schien mir geradezu lächerlich,
jemals Befürchtungen gehabt zu haben.
Ich
begann mit dem ganzen Körper ein wenig zu schwingen und geriet dabei ins
Schwanken, als ob ich innerlich tanzen würde, als ob ich mit einer inneren
Musik, die gar keine richtigen Töne hatte, die einfach nur da war, in Einklang
geraten wollte. Ich musste mich an einer Hauswand abfangen. Alles drehte sich
in meinem Kopf. Ich legte die Stirn an das kalte Mauerwerk und empfand eine
köstliche Frische.
Eine
Frau sagte neben mir: „Kann ich Ihnen helfen? Ist Ihnen nicht gut?"
Ein Mann
stand etwas weiter fort, und der: „Hat sie 'ne Fahne?"
Die Frau:
„Ihr geht es nicht gut, das siehst du doch“.
Und zu
mir: „Sie sind ja ganz blass“.
Dadurch,
dass ich mich so solide angezogen hatte, bekamen die beiden einen guten
Eindruck von mir.
Ich
sagte: „Mir geht es wirklich gut, ich glaube, das kommt von meiner Schwangerschaft“.
Dabei lächelte ich die Frau an.
Die
sagte gleich: „0, Gott. Sind Sie wirklich sicher, dass alles in Ordnung
ist?"
Ich:
„Ja, ja, geht schon wieder. Ist ja keine Krankheit“.
Das
munterte die Frau auf. Sie legte ihren Arm um mich und ging mit mir ein paar
Schritte in die falsche Richtung.
Ich
sagte zu ihr: „Vielen Dank, Sie sind sehr lieb. Ich kann jetzt alleine
weitergehen, ich muss sowieso in die andere Richtung. Danke“.
Die Frau
wollte ihren Arm gar nicht wieder von meiner Schulter nehmen. Ich schob ihn
aber ganz sorgfältig und langsam über meinen Rücken und musste dabei ihr
Handgelenk anfassen. Sie wurde nun willig und sah auf meine Hand an ihrem Arm.
Der Mann
war stehen geblieben.
Die Frau
schwieg eine Weile, dann blickte sie auf und sagte: „Also, alles, alles Gute
für Sie. Soll ich nicht doch noch ein Stück mitkommen?"
„Nein,
danke. Es wird schon gehen, muss gehen. Vielen Dank“.
Sie
wieder: „Seien Sie tapfer. Auf Wiedersehen“.
Nach
etwa zwei Metern kam sie hinter mir her und sagte mir ins Ohr: „Wissen Sie,
dass werdende Mütter eine ganz besondere, eine innere Schönheit
ausstrahlen?"
„Ja?“
„Wirklich,
Sie sind das lebende Beispiel dafür. Ihnen strahlt buchstäblich ein Glück aus
dem Gesicht, dass man sich dem nicht entziehen kann“. Damit gab sie mir einen
Engelskuss auf jede Wange. Ich mochte das. Ich erwiderte den aber nicht. Das
erwartete sie auch nicht. Sie ging fort, als hätte sie einer Sache zur
Vollendung verholfen. Mein Glücksgefühl hielt an, und ich kam an das Haus
meiner Eltern. Leider hatte ich den falschen Schlüssel eingesteckt, jedenfalls
passte er nicht.
Ich
versuchte es immer und immer wieder, aber er öffnete nicht. Ich konnte mir
nicht erklären, warum ich einen falschen Schlüssel hatte, denn mein
Schlüsselbund war immer das gleiche. Ich dachte zum Schluss: ‚Die werden wohl
ein neues Schloss eingesetzt haben, oder dein Schlüssel klemmt’.
Ich
klingelte also. Es machte niemand auf. Der Hund schlug auch nicht an. Das tat er
bei mir sowieso nicht, aber ich hätte ihn normalerweise hinter der Tür
schnaufen und vor Freude jaulen hören müssen.
Diese
Stille gefiel mir nicht. Ich hatte es bereits dreimal versucht. Jetzt erst fiel
mir auf, dass ich die Klingel nicht, wie gewohnt, hören konnte. Da stimmte
etwas nicht.
Ich
schaute nun suchend überall herum und entdeckte einen Zettel an der Tür. Er war
von meiner Mutter geschrieben und in eine Ritze im Holz geschoben: „Bitte
melden bei der Nachbarin, Frau Z“.
Die
kannte ich. Warum sollte man sich denn bei der melden? Ich ging hin.
Frau Z.
kam an die Tür: „Hallo, Tanja, hast du noch `was vergessen? Kommt vor, nicht?
Warte, ich geb' dir den Schlüssel. Ist schon ein neues Schloss drin. Bring' ihn
mir nachher wieder. Ach, hier ist noch ein Brief für dich. Von deinen Eltern“.
Sie gab
mir einen Brief im Umschlag, den Schlüssel und fragte: „Wird's lange
dauern?"
Ich
sagte, weil ich auch nicht wusste, was in dem Brief stand: „Nein, nein. Ich
bring' den Schlüssel gleich wieder“.
Dann
ging ich nach nebenan und schloss auf.
Im
Eingang gähnte mich eine schreckliche Leere an. Alles war fremd. Die Läufer waren fortgeräumt, der Schlüsselkasten
war nicht an seinem Platz. Dort, wo kleine Bilder gehangen hatten, zeichneten
sich helle Flecken an den Wänden ab. Die Tapete sah schmutzig und verstaubt
aus. Meine Mutter war eine Frau, die immer alles sauber hielt. Reinlichkeit
ging ihr über alles. Wie oft hab’ ich mich deswegen mit ihr gestritten. Das
hier musste sie übersehen haben. Ich setzte mich auf die unterste Treppenstufe
und langte nach oben, um, das Licht anzumachen. Aber selbst die Lampen waren
fort. Ich öffnete den Brief und las in dem Dämmerlicht, das von draußen durch
das Fenster in der Eingangstür hereinfiel.
Es war
natürlich meine Mutter, die geschrieben hatte:
"Liebe
Tanja,
wenn du
diesen Brief liest, sind wir schon umgezogen. Sieh mal, du und deine Schwester
sind kaum noch zu Hause, und wir haben mit dem Haus so viel Arbeit, wo wir doch
beide berufstätig sind. Papa hat für die Bienen ein wunderbares Quartier
außerhalb gefunden und wir haben nun eine Wohnung dort in der Nähe bekommen
können. Wir sind umgezogen. Wir konnten dich nicht erreichen. Der Österreicher
hatte deine Adresse auch nicht. Als du kürzlich bei uns warst, wollte ich dir
alles erzählen, aber du bist dann ja wieder auf und davon. Natürlich kannst du
jederzeit bei uns unterkommen, wenn du willst. Genauso, wie deine Schwester.
Wir haben es jetzt sehr gemütlich. Hundi fühlt sich auch wohl. Wir haben den
Wechsel gut überstanden. Besuch' uns bitte.
Die neue
Anschrift steht unten.
Gruß,
Mami“.
Ich weiß
nicht warum ich es tat, aber ich habe den Brief nur dieses eine Mal gelesen und
ihn dann ganz langsam erst in Streifen und die Streifen dann in Stücke
gerissen. Die Stücke wurden so winzig, dass sie als segelnde Flocken zu Boden
schwebten. Ich blieb lange dort sitzen und starrte ohne Gedanken auf die
Schnipsel.
Erst
nach einer ganzen Weile besann ich mich: ‚Wer weiß, vielleicht willst du später
einmal den Brief wieder und wieder lesen. Du solltest alles aufheben und wieder
zusammenkleben’.
Ich
machte mich also daran, das ganze Werk einzusammeln. Vielleicht würde ich es
schaffen, wenigstens den geschriebenen Teil noch halbwegs lesbar wieder
zusammen zu flicken.
Den Umschlag
hielt ich noch in der Hand. Dort hinein füllte ich alles. Dann ging ich die
Treppe nach oben, um mir alle Zimmer ein letztes Mal anzuschauen. Es war
trostlos. Nichts mehr verband mich mit ihnen.
Es gab
auch nichts wiederzuerkennen. Die Zimmer schienen mir viel größer zu sein als
sonst. Ich hatte sie so viel kleiner in Erinnerung. Der Flur war ewig lang,
dass ich meinte, in einem Museum zu sein. Aus einer offenen Zimmertür glaubte
ich für einen Augenblick meine Mutter kommen zu sehen.
Dass
Hundi hier nicht herumturnte, machte alle Zimmer und das ganze Haus zu einer
leblosen Scheune, zu einem Gehäuse, in welchem ich mich einmal ausgekannt haben
sollte. Ich konnte und ich wollte das nicht glauben. Es musste doch irgendetwas
Vertrautes für mich zurückgeblieben sein. Es musste sich doch noch etwas finden
lassen können, dass mir bestätigen würde: ‚Siehst du, Tanja, es ist nicht alles
verloren. Dies ist ein Beweis, dass du hier wirklich gelebt hast, dass dies
einmal dein Zuhause gewesen ist’.
Eine
Sache wenigstens, nur einen Gegenstand, nur ein Stückchen das mir gehört hatte,
wollte ich finden. Das Haus sollte in meiner Erinnerung nicht leer bleiben, es
sollte mich mit einem kleinen Abschiedsgeschenk entlassen. Dann, das versprach
ich, würde ich allen verzeihen.
Was
faselte ich da?
Wem
würde ich was verzeihen?
Meine
Eltern konnten doch machen, was sie wollten, oder etwa nicht? Doch, doch, aber
sie hatten kein Recht, die Erinnerung an meine Jugend, an mein Zuhause, mit
einem Umzug, mit einem einzigen Schlussstrich so zu beenden und so zu
zerstören. Das Recht hatten sie nicht. Beruhig dich, Tanja, die werden sicher
alles von dir mitgenommen haben. Die wollten außerdem nichts zerstören. Ist
doch Quatsch. Die sind umgezogen, verstehst du, umgezogen. Millionen Menschen
ziehen täglich um. Da wird das eine und das andere eben auch ’mal vergessen,
stimmt's? Genau! Und danach suche ich jetzt.
Die
Zimmer waren bis in die Winkel leer. Es gab nichts mehr, was an Vormieter oder
Vorbesitzer erinnerte.
Ich
kletterte auf den kleinen Boden. Nichts. Keine Schachtel, kein Karton, einfach
nichts. Kein Stück war übriggeblieben.
Mich
überkamen Wut und Trauer, und ich dachte: ‚Wenn ich gar nichts finde, schraube
ich einen Schalter ab’. Aber dafür hatte ich kein Werkzeug. Und außerdem, was
hätte das wohl gebracht.
Ich ging
in den kleinen Keller. Der war so sauber, so ordentlich, und wieder so über
alle Maßen leer, dass ich erschrak. Nein, es war ganz sicher, hier war nichts
mehr zu holen. Mir blieb nur eines übrig: Mit Anstand und ohne Tränen Abschied
nehmen. Wieder so ein dämlicher Spruch.
Ich
fragte mich, woher ich diese Parolen hatte, so'n leeres Gequatsche. Ich müsste
lügen, wenn ich jetzt Tränen wegen meines verlorenen Zuhauses vergießen wollte.
Dafür war ich schon zu lange fort gewesen. Ein anderes Gefühl beschlich mich.
Es war der Abschied für immer. Das war neu, das war schmerzlich. Das Haus wurde
zwar nicht abgerissen, ich würde es
mir jederzeit von außen wieder ansehen können, aber das war doch nicht das
gleiche.
Ich suchte
also weiter und saß schließlich wieder auf der untersten Stufe der Treppe im
Eingang, wie zu Beginn.
‚Mein
Gott, mein Gott‘, dachte ich, ‚lass ein Wunder geschehen, schenk mir eine
Kleinigkeit, die ich anfassen kann, die ich mitnehmen kann. Erhöre mich’.
Ich
seufzte nach diesem Stoßgebet und stand auf. Es war nichts mehr zu besorgen,
nichts mitzunehmen, von gar nichts Abschied zu nehmen.
Ich
wollte den Flur gerade verlassen, da fiel mein Blick auf einen Abreißkalender.
Der hing noch an der Wand. Den hatten sie vergessen. Ich stand direkt mit
meiner Nase davor.
‚Das’,
dachte ich sofort, ‚soll doch wohl nicht das Abschiedsgeschenk sein? Nein,
lieber Gott, das nicht, das ist zu einfach’.
Ich
spürte die Ohnmacht und dachte: ‚Das erkenne ich nicht an, das akzeptiere ich
nicht’.
Ich ließ
den Kalender hängen, wo er war und wunderte mich nur, dass ich ihn zuvor
übersehen haben musste. Ich hatte doch überall ganz gründlich gesucht. Mein
Stoßgebet schien zwar erhört, aber auf eine teuflische Weise erfüllt worden zu
sein. So eine Erfüllung wollte ich nicht. Ich ging hinaus, schloss hinter mir
ab und sah auf die Uhr. Wenn ich richtig rechnete, war ich nicht einmal eine
halbe Stunde drinnen gewesen.
Ich
brachte den Schlüssel zur Nachbarin zurück: „Vielen Dank, Frau Z. Wissen Sie
zufällig, ob es schon neue Mieter gibt?"
Sie antwortete schnell: „Natürlich, Tanja. So eine Wohnung
kann doch nicht leer stehen, Mein Sohn und seine Frau werden dort einziehen.
Deine Eltern wissen das“.
Es war
mir wirklich egal, wer die Wohnung übernehmen würde. Ich wollte nur für mich
wissen, ob ich wirklich Abschied nehmen musste.
Ich
sagte: „Das freut mich für Sie. Tschüss“.
„Grüß
deine Eltern, Tanja“.
„Ja,
mach' ich. Auf Wiedersehen“.
Damit ging
ich, und die Frau schloss ihre Tür ab. Ich hörte hinter mir, wie sie zweimal
umschloss und noch eine Kette vorlegte. Wovor mochte die solche Angst haben?
Wir wohnten hier in einer sehr ruhigen Gegend. Überall standen Einzelhäuser und
die Nachbarn kannten sich seit Jahrzehnten untereinander.
Ich
dachte: ‚Die spinnt’.
Vor
unserem Haus stellte ich mich noch einmal an den Zaun und wollte alle
Einzelheiten in mich aufnehmen. Den Flieder würde ich bestimmt nicht vergessen
können. Ich wünschte ihm ein langes Leben. Der eigentliche Garten lag hinter
dem Haus, aber ich hatte keine Sehnsucht, mir den noch einmal anzusehen. Mein
Blick fiel auf den Mülleimer. Der stand fast an der Straße und jetzt genau
neben mir. Ich starrte ihn an, als ob er mir etwas zu sagen hätte.
Ich
erinnerte mich, wie ich damals die Blätter des Flieders dort hineingestopft
hatte und konnte mir meine Mutter gut vorstellen, wie sie das Haus bei ihrem
Auszug saubergemacht hatte, wie sie alles, was sie nicht mitnehmen wollte, in
den Mülleimer gestopft hatte. Konnte ja sein, dass der noch nicht geleert
worden war, konnte ja sein, dass er noch ’was Brauchbares enthielt. Der Deckel
war ganz geschlossen. Er sah nicht so aus, als ob der Eimer voll wäre.
Ich
guckte die Straße rauf und runter. Niemand war zu sehen. Ich langte über den
Zaun und lüftete den Deckel ein ganz klein wenig. Gleich darunter lag schon
eine volle Tüte. Ich traute meinen Augen nicht. Es war meine eigene Sammeltüte.
Die hatte immer in meinem Bettkasten gelegen. Dahinein hatte ich schon als
Mädchen meine Schätze getan. Es musste auch noch mein Name darauf stehen. Ich
warf den Deckel ganz nach hinten und nahm die Tüte heraus. Sie war so, wie sie
seit Jahren unter meinem Bett gelegen hatte, in den Müll gewandert. Auf der
anderen Seite stand auch tatsächlich mein Name. ‚Das nenne ich Glück. Das, mein
lieber Gott, nenne ich aufmerksam’. Bei dem Gedanken an mein Stoßgebet und die
jetzige Fügung zog für einen Augenblick ein Frösteln über meinen Rücken. In der
Tüte waren nur wertlose Dinge, aber unter diesen Umständen gewannen sie für
mich an Bedeutung. Nie wieder hätte ich sie zurückerhalten können. Ich nahm die
Tüte in meine Arme und drückte sie fest an meine Brust. Ich umschloss sie wie
ein Kind, dass mir durch ein kleines Wunder in die Arme gelegt worden war. Das
war also der Grund für meine Sehnsucht nach Zuhause gewesen. Ich forschte nicht
weiter in den Abfällen herum, sondern war zufrieden mit meinem Fund und
wanderte den ganzen Weg zur 0ma zurück. Das dauerte ziemlich lange und ich kam
spät an.
Die Alte
freute sich, als sie mich wiedersah. Ich erzählte ihr, dass ich eine fummelige
Aufgabe zu erledigen hätte. Von dem Umzug meiner Eltern sagte ich ihr nichts:
„Ich habe mir ein Puzzle mitgebracht“.
„So ein
Spiel für Verrückte? Zum Zusammensetzen?" Sie lachte dabei. „Hab' ich
früher auch gemacht. Ich hatte eines mit über tausend Teilen“, erzählte sie.
Ich
sagte: „Meines ist nicht ganz so groß, aber es sind dafür alles winzige
Schnipselchen aus Papier. Ich will einen Brief wieder zusammensetzen“.
„Ach“,
sagte sie, „das Spiel kenn' ich. Hast ihn vor Wut zerrissen und nun willst du
ihn wieder ganz haben, he?"
„Ja, so
ungefähr“. Ich ging in mein Zimmer und schüttete alle meine kleinen
Habseligkeiten aus der Tüte auf den Tisch. Das meiste, muss ich ehrlicherweise
sagen, konnte ich nicht mehr erinnern. Das störte mich aber nicht. Alles
gehörte mir, alles war ein Stück meiner eigenen Vergangenheit. Unter anderem
fand ich ein kleines Landschaftsbild, richtig in Öl gemalt. Darunter stand mein
Name. Der Name war so geschrieben, wie ich ihn immer selbst geschrieben habe.
Dass dieses Bild aber wirklich von mir sein sollte, konnte ich nicht glauben.
Ich dachte nach und dachte nach, erinnerte mich aber nicht.
Ich
hatte mich ein wenig aufs Bett gelegt und war darüber eingeschlafen. Spät in
der Nacht, erwachte ich, weil ich fror. Ich hatte einen Traum gehabt. Im Traum
hatte ich den Mülleimer geöffnet und mich selbst daraus hervorgeholt. Ich war
mir dann weggelaufen.
Ich
holte mir eine Decke und schlief wieder ein.
Der
andere Tag begann so schön wie der gestrige. Ich war aber misstrauisch und
blieb die ganze Zeit in der Wohnung. Am Nachmittag begann ich mit meinem
Puzzle. Das dauerte bis nachts um elf Uhr. Ich musste sehr oft die Schnipsel
hin- und her drehen, um die Vorder- und die Rückseite zu unterscheiden.
Wenigstens die Schrift wollte ich wieder lesen können. Mit viel Herumrätseln
gelang es mir schließlich.
Als ich
fertig war, dachte ich: ‚Wie gut, dass du die Schnipsel überhaupt mitgenommen
hast. Sonst wüsstest du noch nicht einmal, wohin deine Eltern verzogen sind.
Das stand ja nur als Fußnote darunter‘.
In den
nächsten Tagen habe ich das kleine Ölbild rahmen lassen. Der Rahmen war
geschnitzt und vergoldet.
Das war
nicht billig.
Als es
dann fertig war, erkannte ich es nicht wieder, so sehr hatte es sich verändert.
Es schien mir ein ganz großes Meisterwerk zu sein. Ich hängte es in meinem
Zimmer auf.
Dann
dachte ich an den Schweden.
Mit dem
Schweden verbindet mich eine völlig unnormale Leidenschaft. Leidenschaft ist
deshalb das richtige Wort, weil wir uns in unserer Liebesbeziehung sehr viel
Schmerzliches zugefügt haben. Dabei litt er unter mir wahrscheinlich mehr als
ich unter ihm.
Kennengelernt
haben wir uns beim Österreicher. Das Gute am Schweden war, dass er nicht
spielte. Er suchte nur Unterhaltung und Ablenkung. Dass ich auf ihn aufmerksam
wurde, kam, weil seine Augen meistens an meinen Fußspuren hingen und nicht nur
an denen. Er wurde nicht zudringlich oder etwa aufdringlich. Mehrere Abende
hintereinander kam er in die Spielbude und sagte einmal: „Bist du die gute Fee
in diesem Laden?"
Er hatte
mich früher schon einmal angesprochen und mir dabei seine Visitenkarte gegeben.
Ich fragte zurück: „Findest du?"
Er
wieder: „Ja, finde ich“.
Etwas
später kam er noch 'mal an: „Du weißt doch, dass ich dich mag. Bist du
verheiratet?" Das war ganz schön plump, und ich antwortete: „Verheiratet?
Nein, aber wenn ich heirate, dann den da drüben. Der weiß nur noch nichts von
seinem Glück“. Ich zeigte ganz kurz auf den Österreicher.
Da hat
der Schwede gelacht. Das fand ich frech.
In der
Spielbude geht es immer bis kurz nach Mitternacht. Dann hat mich der Schwede
noch einmal angesprochen: „Du, ich wüsste, wo man noch essen gehen kann. Hast
du nicht Lust mitzukommen? Ich möchte dich so gerne einladen“.
Darauf,
wie es zwischen mir und dem Österreicher stand, nahm der überhaupt keine
Rücksicht.
Dann:
„Noch bist du doch frei, oder?"
Schließlich
habe ich gedacht: ‚Sympathisch ist er mir. Er wird wenigstens vernünftig mit
mir essen gehen, und es nicht so eilig haben’.
Gesagt
habe ich aber: „Du wohnst im Hotel, ja? Na, ist gut. Ich bin bald fertig, dann
können wir los. Aber nur essen, klar?"
„Ja, ist
klar“.
Er hatte nur wenig getrunken. Das fand ich auch gut. Dem
Österreicher brauchte ich nichts zu erklären. Der war beschäftigt. Wir zogen
also los. Er wusste ein wirklich gutes Restaurant, und wir haben uns sehr nett
unterhalten. Der Bursche flog auf mich. Das spüre ich und das mag ich. Wenn's
bei mir so anfängt, dann endet das meistens bei ihm. Also sind wir nachher zu
ihm aufs Zimmer. Das fand er wohl ganz normal. Wir haben es uns gemütlich
gemacht, obwohl es schon auf den frühen Morgen zuging. Er bestellte noch etwas zu
trinken, aber nur für sich. Ich mochte keinen Alkohol, schon gar nicht so spät.
„Weißt du, Dicker“, sagte ich, „morgens trinke ich schon
mal ein Glas Sekt. Das regt den Kreislauf an. Aber wenn ich nachts trinke, kann
ich überhaupt nicht einschlafen“.
„Ist
doch gut, wenn du schön wach bleibst“.
Er
setzte sich dann zu mir auf die Armlehne vom Sessel und war mit seinen Händen
überall.
Ich
sagte: „Kann ich mich ein bisschen frisch machen?"
„Ja, da
drüben. Du bleibst also?"
„Wenn du
artig bist, vielleicht“.
Da hat
der Dicke sich richtig gefreut. Ich hatte beinahe den Eindruck, dass er rot
wurde und sich ein bisschen schämte. Das konnte ich aber nicht richtig glauben.
Ich bin
also ins Bad und hab' mich frisch gemacht und bin auf die To gegangen. Er zog
sich im Zimmer um.
Er rief
zu mir: „Kann ich zu dir kommen?"
Ich
dachte: ‚Hier im Bad? Das muss doch nicht sein. Vielleicht noch auf den harten
Fliesen? Wirst es schon noch abwarten müssen’.
Er stand
aber schon in der Tür und schaute zu mir.
Wenn ein
Mann zu heiß ist, geht das ruck zuck. Das mag ich nicht. Das ist mir zu
schnell. Dann habe ich nichts davon. Ich will aber auch etwas davon haben. Ich
spür' sofort, wenn einer das nicht abwarten kann. Meistens ist es aber dann
schon zu spät. Passiert mir oft.
Der Schwede
stand in der Tür und schaute nur auf mich. Bei dem regte sich nichts. Ich
dachte: ‚He, was hat der denn. Braucht der nur 'ne Mutti zum Schnullern? Kann
doch wohl nicht sein. Oder ist der'n Homo. Na, besser so als anders. Homos
können sehr nett sein. Und wenn er keine Lust hat, umso besser’.
Eigentlich
wollte ich mir ein Handtuch umbinden. Das reicht immer ganz genau vom Schritt
bis eben über die Brust. Bei dem war das aber alles nicht nötig. Der fuhr
einfach nicht auf mich ab.
‚Tanja’,
sagte ich mir, ‚das spricht nicht für dich. So etwas erlebst du selten. Na
gut’.
Ich ging
an ihm vorbei, wollte ich jedenfalls, da waren seine Hände wieder überall an
mir.
‚Na
also, klappt ja doch‘, dachte ich, aber sonst tat sich bei ihm immer noch
nichts. Ich habe mich deshalb aufs Bett gelegt. Ganz schlicht: Arme hoch und
Beine ganz normal.
‚Das
muss nun aber reichen’, dachte ich. Ich wurde langsam müde.
Er kam
mir nach und versuchte es an mir und an sich.
Nichts.
Ich dachte: ‚Muss ja nicht sein‘, und habe ihm gesagt: „Lass dir Zeit, Dicker.
Komm leg dich zu mir“. Das tat er auch.
Wir
haben versucht uns zu unterhalten, aber er wollte mir immerzu erklären, warum
es nicht klappte. Ich wollte das gar nicht wissen und drehte mich um und lag
nun auf dem Bauch. Das reizte ihn wieder ein wenig und er versuchte mich
zurückzudrehen: „Sieh mich an. Ich muss dir das erklären“.
„Brauchst
du nicht. Kommt eben vor. Dicker, leg dich zu mir und schlaf“. Ich begann schon
in kleinen Etappen wegzutreten. Ich hörte trotzdem, wie er sagte: „Das hängt
mir dir zusammen“.
Ich
wieder: „Nu, schlaf. Wir holen das nach. Versprech' ich dir. Wahrscheinlich
erinnere ich dich an deine Mami, ja? Mach' dir nichts draus. Ich bin sowieso
müde“.
Dann hat
der sich zu mir gelegt und ich habe mich so richtig in ihn hinein gekuschelt.
Das wurde eine schöne Nacht für mich. Für ihn wohl nicht so. Ach, wenn man die
Männer öfter mal dazu bringen könnte, dass sie einem zum Nest werden. Er war
auch sehr lieb zu mir und hat mir den Rücken gestreichelt. Am nächsten Morgen
war er vor mir wach, war mucksmäuschenstill beim Anziehen und hat mich mit der
größten Liebe wach geküsst. Es war wie in einem Märchen.
Er hat
mich an dem Morgen auch nicht mehr bedrängt.
In der
Nacht habe ich ihn richtig liebgewonnen: „Du bist zum Anbeißen. Du bist ein
ganz Süßer“, hab' ich gesagt, und das hab ich auch so gemeint.
Tagsüber
haben wir einen Stadtbummel gemacht, und er hat sich um mich gesorgt, als wäre
ich hochschwanger oder irgendwie krank und könnte alleine keine drei Stufen
hinaufgehen. Überall war er hilfsbereit und machte es mir bequem. Das kann ich
nicht sehr lange aushalten, aber für einen Nachmittag habe ich mich darauf
eingelassen. Dabei habe ich schließlich aus lauter Spaß mitgemacht und ein
wenig übertrieben. Wir standen nämlich vor einem Schaufenster und ich konnte
mich wunderbar beobachten. Hinter uns drängten sich noch andere Leute, es war
Publikum vorhanden. Da habe ich ganz theatralisch meine linke Hand an die Stirn
geführt und gesagt: „Oh, mein Dicker, mein geliebter Schatz, ich weiß nicht,
wie wird mir, so komisch, so schwindlig. Ich glaube, ich habe einen
Schwächeanfall“.
Er nahm
das für bare Münze: „Mein Gott, du wirst mir doch nicht ohnmächtig werden“.
Ich habe
mich neben ihn sinken lassen, und er musste mich richtig festhalten. Das fand
ich super. Im Schaufenster habe ich alles beobachtet, und die Leute schauten
nur noch auf mich und auf meinen großen, starken Retter. Beinahe hätte ich
dabei lachen müssen.
Der
Dicke nahm aber alles ernst und sagte in einem fort: „Daran hab' ich die
Schuld, das ist nur meine Schuld. Komm, ich helf dir auf die Bank“.
Eins,
zwei, drei saß ich auf der Bank.
Eine Frau kam zu mir und sagte: „Immer dasselbe. Die Männer
haben nur ihren Spaß. Aber wenn es ernst wird, wissen sie nicht, was sie tun
sollen. Lassen Sie ihn mal ordentlich schmoren. Sind alles Verführer. Aber wir
zwei wissen Bescheid, nicht wahr. Sie machen das goldrichtig“. Damit schüttelte
sie mir die Hand mit einem derartig festen Händedruck, als wäre ich ein Kerl.
Und zu
dem Dicken sagte sie: „Zerbrechlich! Ich sage Ihnen nur eines: die Frau ist
ganz zerbrechlich. Vorsicht, Vorsicht. Größte Vorsicht. Glauben Sie mir“.
Dann
gingen die Leute wieder auseinander, und der Dicke war nicht mehr zu beruhigen.
Ich
sagte: „Du, das war doch nicht so gemeint“.
Das
verstand er noch falscher. Er hatte wirklich die Sorge oder die Angst, dass es
mir fürchterlich schlecht ginge, und dass das nur seine Schuld war: „Ich mach
mir die größten Vorwürfe, weil ich bei dir versagt habe, und ich weiß ganz
genau, dass das das allerschlimmste ist, was einer Frau passieren kann. Von mir
will ich gar nicht reden. Und statt
dass du dich schonst, schlepp' ich dich auch noch mit in die Stadt. Das ist
unverantwortlich von mir. Ich bringe dich jetzt zu dir nach Hause“.
Ich
dachte: ‚Der spinnt. Der ist nicht ganz richtig. Vor allen Dingen, was redet
der von nach Hause bringen. Wohin will er mich denn bringen’.
„Ich
bestell uns ein Taxi. Sag' du dann, wohin er fahren soll, ja?“
So war
mir das gar nicht recht.
Ich
sagte: „Du bist so lieb zu mir. Ich möchte bitte alleine fahren“.
„Das ist
auch gut. Ich werde dem Fahrer genügend Geld geben“.
Er rief
tatsächlich eine Taxe heran, beredete mit dem Fahrer etwas und schon saß ich drin,
ganz allein und ohne Aufpasser.
„Der
Fahrer gibt dir das Restgeld 'raus, wenn du Zuhause bist“.
„Danke,
mein Dicker. Bist ein richtiger Schatz“.
Der
Fahrer fuhr los.
Ich gab
ihm eine Straße in der Nähe der Wohnung der Oma an. Ich wusste ja nicht, ob er
dem Dicken wohlmöglich die Adresse durchgeben sollte. Man kann ja nicht wissen.
In der Beziehung bin ich sehr misstrauisch.
Die
nächste Nacht war ich wieder beim Österreicher. Wir hatten aber keinen Verkehr
miteinander. Die Nacht darauf wollte der Schwede mich wieder in seinem Hotel
haben. Ich fand, dass er ein Recht darauf hatte. Wir gingen wieder essen, dann
zu ihm und das gleiche Theater, bis ich bei ihm einschlief und mich wieder so
herrlich wohl fühlen konnte. Darauf hatte ich insgeheim gewartet. Ich war
darüber glücklich und war dem Dicken dankbar. Auf alles andere konnte ich gut
verzichten. Er litt aber sehr darunter, so dass ich ihm versprach, etwas für
ihn zu tun, damit er auch zu seinem Recht kommen würde.
Wir
ließen ein paar Tage verstreichen, dann nahm ich mir ein ganz heißes
durchsichtiges Nachthemd mit und streifte es immer wieder an mir herunter, wenn
er sich gerade ein bisschen vorbearbeitet hatte. Irgendwann, ich schlief schon
fast, merkte ich, dass er in Stimmung kam. Das machte mich richtig munter und
ich geriet nun auch in Fahrt. Ich wollte ihn aber nicht stören und hielt mich
sehr zurück. Ich fühlte, wie er sein Ding endlich irgendwie in mir hatte und
alles Mögliche dabei anstellte. Er schob mich quer über die Doppelbetten, bis
ich mit meinem Kopf an die Bettkante stieß. Da hat er aber meinen ganzen Körper
mit einer einzigen Handbewegung wieder richtig hingelegt. Im selben Augenblick
hat er mich von hinten ums Genick gepackt, dass ich aufschrie: „Willst du mir
den Kopf abreißen?"
Er: „Du
darfst jetzt nicht reden, sonst klappt es wieder nicht“.
Bei mir
war auch schon alles in Wallung geraten und ich fand es nicht gut, dass er sich
aufrichtete. Er rutschte wieder raus.
Er: „Es
liegt an deinem Gesicht. Du bist so unantastbar, dass ich mich fürchte, dir etwas anzutun. Du bist so zerbrechlich
schön. Ich kann es so nicht“.
Nun
wollte ich aber. In mir kochte es und ich sagte: „Dann mach das Licht aus“.
„Das
nützt alles nichts, ich sehe dich doch trotzdem“.
„Meine
Güte, wenn es daran liegt“.
Ich
stand auf, trippelte ins Bad und holte ein Handtuch: „So, leg' das drüber“.
„Worüber“.
„Über
mein Gesicht, Dicker. Und denk an wen du willst. Gut?"
Da
strahlte der Held. Ich legte mich wieder hin. Er deckte tatsächlich mein
Gesicht mit dem Handtuch zu, war im nächsten Moment schon wieder drauf und wohl
auch drin. Er war dabei aber nur mit sich beschäftigt. Das verrieten seine
Hände auf meinem Schoß. Darüber wurde ich wütend. Seine Hände waren nicht da,
wo sie hingehörten. Mir wurde das ganze zu bunt. Ich nahm das blöde Tuch vom
Gesicht und sagte: „Lass mich das machen. Ich kann das besser“.
Damit
war er wieder draußen. Ich weiß, dass das gemein ist. Vielleicht war er noch
nicht einmal an mir fertig geworden.
Er lag
dann neben mir, als ein gestürzter Baum. Ich machte es mir allein. Er musste es
ertragen. Es dauerte eine ganze Weile. Dann ließ es nach, und ich kroch zu ihm,
als wäre nichts geschehen.
Er war
sehr lieb und freundlich zu mir und nahm mich in seinen Armen auf.
Dann
sagte er: „Ich möchte dir was Gutes tun. Hast du einen Wunsch?"
Ich habe
immer Wünsche. Aber den Mann nun auch noch auszunutzen, fand ich unfair. Ich
dachte also nach. Dann lachte ich und sagte, weil es so schön in den verrückten
Abend passte: „Du kannst mir zur Hochzeit eine Windmühle schenken. Aber eine
echte, eine die sich richtig dreht und auch funktioniert“.
„Würdest
du mich denn trotzdem heiraten?"
„Vielleicht.
Ausfransen tu ich jedenfalls nicht bei dir“.
„Gut,
versprochen. Aber heute will ich dir etwas Geld geben, damit du dir selbst eine
Kleinigkeit kaufen kannst“.
„Wenn du
unbedingt willst. Aber nur unter einer Bedingung, ja?"
„Die
wäre?"
„Es darf
nur ein einziger Schein sein“.
Er
sofort: „Das ist mir recht. Ein einziger Schein. Ich leg' ihn auf den
Nachttisch“.
Er hat mir
tatsächlich Geld hingelegt. Aber ich war so müde und habe nicht nachgesehen.
Gegen Morgen bin ich viel zu früh aufgewacht. Er schlief noch ganz fest. Da bin
ich leise raus aus dem Bett, habe nur meine Sachen genommen und wollte hinaus.
Er hatte
aber doch etwas bemerkt, denn er kam kurz hoch und fragte: „Ist was?"
„Nein,
nein, schlaf weiter“.
Ich bin
in Richtung Bad und dann aus der Zimmertür hinaus auf den Flur. Das konnte er
nicht mitkriegen, weil beide Türen in einem kleinen Vorflur lagen.
Ich dachte: ‚Ist das nun ein Mann zum Heiraten? Hat sicher
Frau und Kinder. Quatsch, wie soll er denn zu den Kindern gekommen sein, bei
der Verklemmtheit. Ist auch egal. Meine Männer sind fast alle verheiratet. Ist
eben mein Pech. Trotzdem ist er süß. Wenn das mit dem Österreicher doch nichts
wird, kann ich auch zu dem Schweden zieh’n. Der ist wenigstens nicht so
anstrengend. Im Bett jedenfalls nicht’.
Dann
musste ich lachen über den verrückten Einfall mit dem Tuch auf dem Gesicht, und
er tat mir noch einmal leid.
‚Er wird
bestimmt nicht gleich abreisen‘, dachte ich, und beschloss, ihn ein wenig
zappeln zu lassen.
Ganz zum
Schluss, als ich schon auf der Straße war, war ich mir ganz sicher: ‚Als
Bardame fange ich jedenfalls nicht wieder an. Da halte ich mich lieber an den
Dicken. Der wird bestimmt nicht ohne mich abreisen’.
Davon
war ich überzeugt.
Protokoll
der Vernehmung in Sachen Tanja W.
"Die
Tanja ist ein Schatz, den man mitnehmen möchte. Verstehen Sie? Sie ist etwas
zum Vorzeigen. Ich möchte zu jedem sagen: ‚Seht, das ist Tanja. Meine Tanja’.
Sie ist ein Juwel. Man muss sie lieben. Ich wollte sie vom Fleck weg heiraten.
Das hab' ich ihr mindestens zweimal gesagt. So eine Frau ist zerbrechlich. Ich
möchte sie beschützen. Andererseits habe ich auch meine Bedürfnisse, die
Wünsche eines Mannes an eine Frau, wenn ich so sagen darf, und es fällt mir
schwer, sie zu meinem begehrenswerten Objekt zu machen. Sie hindert mich nicht
daran, aber ich selbst habe dabei ein schlechtes Gewissen.
Wir
waren dreimal im Hotel zusammen. Jedes Mal musste ich dieses eigenartige Gefühl
überwinden, um sie richtig lieben zu können. Mir war tatsächlich zumute, als
machte ich etwas an oder in ihr kaputt.
Sie
hatte keine Probleme, sie ließ sich einfach nehmen. Und das mit ihrem Lächeln. Also
dieses Lächeln. Naja, das alles wollen Sie ja gar nicht wissen“.
„Doch,
doch. Erzählen Sie weiter. Ich muss Ihnen nur noch erklären, warum wir Sie vom
Schiff heruntergebeten haben“.
"Kann
ich mir denken. Geht um ihre Fahrerflucht, nicht wahr. Hab' ihr gleich gesagt:
‚Tanja, geh zur Polizei. Damit ist nicht zu spaßen’. Aber sie macht ja was sie
will.
Sehen
Sie, das Mädchen taucht auf und verschwindet. Einfach so. Sagt nichts, ist weg
und ist wieder da. Einfach so“.
„Ist
dieser Brief von Ihnen? Ich meine dieser Briefumschlag? Warten Sie bitte, bevor
Sie antworten. Ich möchte Ihnen noch etwas erklären.
Wenn Sie
sich jetzt äußern, dann ist das kein Verhör, sondern es ist eine Befragung. Ich
bitte Sie, mir auf meine Fragen so ausführlich wie möglich zu antworten. Ich
will jetzt auch kein Protokoll schreiben, aber wenn es Ihnen recht ist, schalte
ich ein Tonband ein und Sie quittieren am Ende mit Ihrer Unterschrift, dass Sie
das freiwillig besprochen haben. Ihre Antworten sollen uns bei der Ermittlung
eine Hilfe sein. Sind Sie damit einverstanden?"
„Ja, das
geht so“.
„Sie
sagten, dass Sie sie vom Fleck hätten heiraten wollen. Meinten Sie das
wirklich, oder war das nur so eine Redewendung. Könnte Tanja verstanden haben,
dass Sie sie wirklich heiraten wollten?"
„Ganz
ohne Frage. Absolut korrekt, was Sie sagen. Ich mein' es ernst mit ihr. Wenn
sie zustimmt, heirate ich sie“.
„Wir
lesen aber aus den Unterlagen über Sie..“.
„Was für
Unterlagen denn.."
„Ach,
ja, wir haben uns im Vorwege ein Telex mit Ihren persönlichen Daten schicken
lassen. Ist Ihnen doch recht, oder? Wir können auch darauf verzichten, wenn Sie
wollen. Wir brauchen die nicht unbedingt“.
„Nein,
nein, ist mir schon recht“.
„Also
daraus geht hervor, dass Sie verheiratet sind. Sie haben drei Kinder und leben
nicht getrennt von Ihrer Frau, stimmt das?"
„Absolut
korrekt“.
„Sie
haben Tanja aber die Ehe angeboten?"
„Absolut
korrekt. Das ist doch gar kein Problem. Mit Tanja beginne ich ein neues Leben,
wenn sie einwilligt. Ich lass mich scheiden. Das ist kein Problem. Das ist ganz
normal. Eine Frau wie Tanja wird bei uns in Schweden auf Händen getragen. Sie
ist absolut einmalig, schon wegen der Tätowierungen. Aber wegen ihres Lächelns,
ihres ganz besonderen Lächelns, ist sie Königin bei uns. Das öffnet einem Tür
und Tor. Das öffnet dem Mann, der sie besitzt, alle Wege.
Wir in
Schweden sind in der Beziehung ganz anders als ihr Deutschen. Wir verehren
solche Frauen. Wir machen sie uns zu wahrhaftigen Königinnen“.
„Das
haben Sie dem Mädchen so aber nicht gesagt, oder?"
„Für
lange Gespräche war keine Zeit. Sehen Sie, ich bin Geschäftsmann. Dauernd auf
Reisen. Unterwegs habe ich nie etwas mit Frauen. Das ist Prinzip bei mir. Aber
es gibt Ausnahmen. Meine jetzige Frau zum Beispiel kommt auch aus Deutschland.
Sie ist ein Mitbringsel sozusagen“.
„Also,
wenn Sie Tanja gegenüber vom Heiraten gesprochen haben, dann haben Sie es
letzten Endes auch so gemeint. Ist das richtig?"
„Absolut
korrekt“.
„Gut.
Dann noch einmal zurück zu diesem Brief. Kennen sie den, ist der von
Ihnen?"
„Absolut
korrekt. Den hab' ich für sie im Hotel zurück gelassen. Ich hatte gehofft, dass
sie da noch einmal nach mir fragen würde. Der Portier sollte ihr den persönlich
aushändigen.
Wissen
Sie, Tanja war nicht zu erreichen. Ich habe mit ihrem Freund gesprochen, mit
einem Österreicher und der hat bei ihren Eltern angerufen. Nicht meinetwegen,
sondern weil sie in seinem Laden fehlte. Führt so eine kleine Spielhölle, und
Tanja ist da Bedienung, Glücksfee für die Spieler und eigentlich Bardame. Gibt
sich viel Mühe mit dem Bedienen und Abrechnen und so weiter, aber ihren Profit
kassiert sie aus ihrem Zauber. Den übt sie auf die Männer aus. Ich glaube auf
Frauen auch“.
„Haben
Sie dafür einen Grund? Ich meine, dass Sie annehmen, dass Tanja auch eine
besondere Ausstrahlung oder Wirkung auf Frauen hat?"
„Das
kann ich mir gut vorstellen, aber einen genauen Grund, nein, einen Grund habe
ich nicht dafür. Sie ist der Typ, auf den alle Frauen fliegen, nicht nur
bestimmte, aber die mit Sicherheit“.
„Sie
haben also keinen konkreten Grund, anzunehmen, dass sie ein Verhältnis mit
einer Frau hatte“.
„Nein,
hab' ich nicht. Sie hat bestimmt nichts mit einer Frau. Schließlich weiß ich
wie sie im Bett ist“.
„Das kann täuschen. Aber Sie sagen es ja. Und was
ist nun mit dem Brief?"
„Den
sollte der Portier ihr vorlesen, wenn sie sich melden würde“.
„Darf
ich das etwas genauer zusammenfassen? Sie sagten vorhin, dass der Portier ihr
den Brief geben sollte. Ist es so richtig, dass der Portier ihr von dem Brief
berichten sollte, wenn sie anrufen würde und dass sie ihn sich dann selbst bei
ihm hätte abholen sollen?"
„Absolut
korrekt. Hab' ihm
zehn Euro dafür gegeben. In dem Brief, es steht ja nicht viel
drin, bitte ich sie, mir nachzufahren. Ich schreibe ihr, dass ich in dieser
Stadt noch einmal Station machen muss, bevor ich auf die Fähre gehe. Das ist
erst ein paar Tage her.
Das
Hotel habe ich ihr auch aufgeschrieben, und ich glaube auch, wie lange ich hier
noch zu erreichen bin.
Der
Österreicher ist nichts für sie. Für den ist sie nur eine engere Beziehung zu
einer Mitarbeiterin. Das hab' ich sofort gesehen. Von Liebe ist bei dem keine
Spur. Bei ihr ja, aber bei ihm nicht. Bei dem klingen die Glocken nur, wenn es
in der Kasse stimmt. Tanja ist für den viel zu schade. Er nutzt sie aus, ohne
dass sie es merkt. Ist ein Jammer. Keiner sagt ihr das, keiner will ihr weh
tun. Für die meisten ist sie eine Heilige.
Das ist
ganz merkwürdig. Sie sollten sie 'mal kennenlernen, sollten sie mal besuchen.
Was hab'
ich noch geschrieben. Na, den Brief selbst wird Ihnen Tanja wohl nicht gegeben
haben, oder?"
„Doch,
wir haben auch den Brief, nicht nur den Umschlag. Aber ich möchte Sie bitten,
uns alles so zu erzählen, wie Sie es in der Erinnerung haben“.
„Ich
habe ihr noch ein paar persönliche Worte geschrieben, dass ich sie liebe und so
weiter. Was man so schreibt.
Was
wollen Sie denn nun eigentlich von dem Unfall, von der Fahrerflucht wissen? Bin
ja schließlich ihr Fahrgast gewesen. Hab' sie noch selbst gebeten zu fahren,
wegen des Alkohols, verstehen Sie? Aber Tanja war völlig nüchtern. Sie ist nur
einfach viel zu lange weitergefahren. Das war falsch“.
„Können
wir darauf später zurück kommen? Erzählen Sie mir bitte erst einmal, warum
Tanja Sie im Hotel besucht hat und wie oft“.
„Na,
warum wohl. Das dürfte doch klar sein. Ich habe mich völlig in sie verliebt.
Hört sich in meinem Alter billig an, aber es ist so. In der Spielhölle hab' ich
sie angesprochen und zum Essen eingeladen. Da ist sie mitgegangen“.
„Durfte
der Österreicher davon wissen? Der ist doch ihr Freund, sagten Sie das
nicht?"
„Absolut
korrekt. Der ist ihr Freund. Mit dem ist sie auch intim. Bin mir ziemlich
sicher. Darüber haben wir aber nicht gesprochen. Tanja mag mich auch. Sehen Sie
mich an: hab' schon ein bisschen Bauch. Darauf steht sie. Sagt sie jedenfalls.
Sie findet mich süß und gemütlich.
‚An dich
könnt ich mich gewöhnen‘, sagt sie. ‚Wenn ich bei dir bin, wird mir so richtig
von innen her warm‘. Ja, ich glaub schon, dass sie mich mag.
Nach dem
Essen sind wir ins Hotel. Da ist sie dann zweimal geblieben, bis zum Mittag,
weil es nachts doch sowieso schon spät geworden war. Ein drittes Mal ist sie
plötzlich in den frühen Morgenstunden aus dem Bett und raus und weg. Ich hab'
das nicht richtig mitbekommen. Ich dachte, sie geht mal ins Bad. War aber
falsch. War weg. Dann hab' ich sie abends in der Spielhölle vermisst, bis sie
unvermittelt wieder auftauchte. Sie ist der reine Sonnenschein. Alle atmeten
auf. Den richtigen Spielern muss sie Glück bringen. Wenn die nicht unter den
Gästen ist, läuft da gar nichts“.
„Hat es
zwischen dem Österreicher und Tanja Streit gegeben? Denken Sie ruhig nach“.
„Streit?
Nein niemals. Er lässt sie machen, was sie will, alles“.
„Gab es
Auseinandersetzungen, wegen Geld zwischen ihr und dem Österreicher?"
„Nein,
jedenfalls nicht, solange ich sie beobachtet habe. Wenn der mit ihr Streit
angefangen hätte, wäre sie gleich auf und davon. So dumm ist der nicht“.
„Und wie
ist es mit Ihnen? Gab es Streit zwischen Ihnen und Tanja? Im Hotel? Im Auto?
Sie haben sie doch heiraten wollen. Das haben Sie sie auch wissen lassen,
ja?"
„Absolut
korrekt“.
„Sie
sind aber ohne sie abgereist. Wie konnte sie das dann noch glauben. Vielleicht
war sie enttäuscht von Ihnen“.
„Tanja
enttäuscht? Da muss ich lachen. Nein, ich glaube, dass sie sich deshalb nicht
gleich für mich entschlossen hat, weil sie noch an dem Österreicher hängt.
Einmal
sagte sie: ‚Heiraten? Heiraten tu ich den da. Der weiß nur noch nichts von
seinem Glück‘. Damit hat sie auf den Österreicher gezeigt.
Ich
dachte: ‚Den liebt sie also mehr als mich. Aber so kommt eine Frau nicht zu dem
Mann, den sie liebt’.
Dass der
nicht wollte, wusste ich sofort. Das konnte niemals was werden. Also, ich habe berechtigte
Hoffnung auf sie, aber natürlich nur, wenn sie den Österreicher aufgibt“.
„Und wie
war das denn die drei Nächte im Hotel? Gab es da Streit zwischen Ihnen und dem
Mädchen?"
„Auch
nicht, nein da haben wir uns über schöne Dinge unterhalten. Ich hab 'was
getrunken, sie nicht, weil sie Alkohol nicht mag. Sonst war sie sehr lieb und
nett zu mir“.
„Sie
sind mit ihr intim geworden, ja?"
„Sagte
ich doch schon. Wenn mich eine Frau im Hotel besucht, dann bedeutet das etwas
ganz Bestimmtes. Wir haben uns sehr geliebt“.
„Haben
Sie Tanja bezahlt? Dafür, dass sie zu Ihnen kam?"
„Tanja
kann man nicht bezahlen. Die ist nicht so wie man es von so einer Frau
vielleicht annimmt: ‚Also, Mädchen, was kostest du, komm mit in mein Hotel’. So
ist Tanja überhaupt nicht. Sehen Sie, Tanja liebt, wen sie will. Man kann da
nur wenig nachhelfen. Sie bestimmt darüber.
Ich
wollte ihr aber auch `was Gutes tun und hab' sie gefragt, ob sie einen Wunsch
hat. Sie hat mich richtig ausgelacht und etwas ganz komisches zu mir gesagt:
‚Ja, Dicker, kannst mir einen Wunsch erfüllen. Schenk mir eine richtige
Windmühle zur Hochzeit’.
Kann man
einen solchen Wunsch erfüllen? Nein.
Stellen
Sie sich das bitte vor: Das Mädchen lag splitterfasernackt auf dem Bett und
wünschte sich eine Windmühle.
Also,
was sollte man da machen“.
„Was
macht man da?"
„Wissen
Sie das nicht?"
„Nein“.
„Das ist
doch einfach, man verspricht, was die Frau will und hofft, dass sie es
vergisst. An dem Abend war ja noch nicht die Hochzeit.
Außerdem
hab ich ihr tausend Euro gegeben, damit sie sich 'was kaufen kann“.
„Hat sie
die angenommen?"
„Wissen
Sie, für mich sind tausend Euro nicht viel. Für so ein Mädchen, dachte ich
aber, ist das eine ganze Menge. Sie hat sich nicht einmal dafür bedankt und hat
den Tausender außerdem noch auf dem Nachttisch liegen lassen. Richtig
vergessen. Ich habe ihn ihr erst abends in der Spielbude geben können. Sie hat
ihn wortlos eingesteckt. Mehr Geld habe ich nicht gewagt ihr anzubieten“.
„Wenn
Sie nun das Mädchen beschreiben sollten, ihr Aussehen, was sie angezogen hat,
alles, was Sie wissen“.
„Wie sie
aussieht? Ich glaub sie ist erst zwanzig, sieht aber aus wie sechzehn oder
siebzehn höchstens. Sie trägt gerne Jeans. Oben keine Unterwäsche, also keinen
BH.
Sie
sagt: ‚Das engt mich ein’.
Ich wollte
ihr 'mal Unterwäsche kaufen. Hat sie auch angenommen, aber ohne BH. Eigentlich
trägt sie immer nur schwarze, ärmellose Blusen. Davon muss sie unendlich viele
haben. Sie kam immer frisch und appetitlich in den Spielsalon“.
„Sah sie
aufdringlich aus? Ich meine.“.
„Sie
meinen, wie eine Nutte? Nein, nur ganz selten zog sie sich wie eine Bardame an.
Dazu gehörte eine sehr enge schwarze Lederweste mit einem sehr tiefen
Ausschnitt. Ärmelfrei, versteht sich, wegen der Tätowierungen. Die zeigt sie
immer“.
„Können
Sie die beschreiben?"
„Wissen
Sie, ich weiß nicht einmal die Augenfarbe des Mädchens. Ich kann mir von den
Tätowierungen nur merken, dass immer, wenn sie kassiert, jeder ihren Namen
automatisch von ihrer Hand ablesen muss. Irgendwo steht ‚Tanja' an ihr, aber
sonst kann ich sie nicht genauer beschreiben. Sorry“.
„Sie ist
aber mehrfach tätowiert, ja?"
„Absolut
korrekt“.
„Auch an
eindeutigen Körperstellen? Erinnern Sie das?"
„Sorry.
Kann ich nicht sagen“.
„Trägt sie
Schmuck? Etwas Auffälliges, Besonderes, ein Kettchen oder so? Möglicherweise ums Fußgelenkt?“
„Schmuck habe ich nie an ihr gesehen. Dafür ist sie sicher
zu eitel“.
„Zu eitel? Wieso?"
„Ja, wegen der Tätowierungen. Dazu würde doch kein Schmuck
passen. Find' ich jedenfalls“.
„Da mögen Sie recht haben.
Ich möchte aber noch einmal darauf zurückkommen, dass Sie
Tanja zum Nachreisen bewegen wollten. Das ist doch richtig so“.
„Absolut korrekt“.
„Und es ist ganz offenbar und eindeutig so, dass Tanja
ihnen auch nachgereist ist“.
„Was? Stimmt das? Ist sie hier? Also, doch. Hab ich mir
doch denken können. Wo ist sie“.
„Sehen können Sie das Mädchen nicht. Es geht auch bei
dieser Befragung nicht um die Unfallflucht. Ich möchte Ihnen vielmehr einen
Artikel aus der gestrigen Tageszeitung vorlegen.
Hier, nehmen Sie. Lesen Sie. Es ist angestrichen“.
„Das hier? Frauenmord in Lübeck?''
„Ja, bitte. Auch wenn es schlimm ist für Sie, und wir Sie
noch einmal um Ihre Unterstützung bitten müssen“.
„Ein Jogger hat gestern Morgen am Rande eines Rapsfeldes
eine weibliche Leiche gefunden. Nach Erkenntnissen der Kripo wurde die
unbekannte Frau ermordet. Sie hat mehrere Tätowierungen: am linken Unterarm
zwei Herzen und eine Rose, am linken Handgelenk ,Tanja, “
„Oh Gott. Sie meinen, das könnte Tanja sein? Wie
furchtbar. Soll ich Sie identifizieren?"
„Sie wären dazu bereit? Das würde Ihnen nichts
ausmachen?"
„Nein, von wir aus. Das würde ich machen, wenn es sein
muss“.
„Es ist so, dass wir ziemlich sicher sind, dass es sich um
Tanja handelt. Wir haben am Hals der Toten ein goldenes Kettchen gefunden mit
einer kleinen Windmühle aus Gold daran“.
ISBN 978-3-84
23-4987-2