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Harald Birgfeld, Webseite seit 1987/ Website since 1987 …da liegt mein Herz, Geschichten aus Niemandsland 2022 -2024 (im
Entstehen) z.B.: 100 Jahre „Kafka“, eine herrenlose Fundsache (neu) |
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GESCHICHTE EINES
AUSSENLAGERS, KZ SASEL *)
Theaterstück
*) In Anlehnung an: „Geschichte eines Außenlagers,
KZ-Sasel“,
Freie und Hansestadt Hamburg, 1982
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Harald
Birgfeld
Copyright 2019 beim Autor, Harald
Birgfeld. Alle Rechte vorbehalten.
Harald Birgfeld, geb. in Rostock, lebt seit 2001 in 79423
Heitersheim. Von Hause aus
Dipl.-Ingenieur, befasst er sich seit 1980 mit Lyrik.
In
mindestens 23 Anthologien ist
er vertreten.
Harald Birgfeld schrieb seine Gedichte sowie dieses Theaterstück
überwiegend während der Fahrten in der Hamburger S-Bahn zur und von der Arbeit.
Im vorliegenden Theaterstück wird in Anlehnung an
„Geschichte eines Außenlagers KZ Sasel“
der Freien und
Hansestadt Hamburg, der Behörde für Schule,
1982, versucht nachzuerzählen, was sich im KZ Sasel in den letzten Kriegsjahren
ereignet hatte. Es ist wichtig, der Jugend immer wieder davon zu berichten. Die
Form eines bereits erschienen Epos sowie dieses Theaterstück scheinen dem Autor
dafür dauerhafte Möglichkeiten zu sein.
Aus dem
Gutachten, 1986, einer an der Universität Freiburg tätigen
Literaturwissenschaftlerin:
"Es
lohnt sich, einmal einen heutigen Dichter kennen zu lernen, der mit der
deutschen Sprache einen faszinierend fremden Weg betritt und trotzdem dem Leser
Freiraum lässt für eigene Gedankengänge, ohne dass die Probleme in erhobener
Zeigefingermanier zu zeitkritischen Trampelpfaden werden."
Herausgeber, Autor, Redakteur: Harald
Birgfeld.
e-mail:
Harald.Birgfeld@t-online.de
Im Internet unter :
www.Harald-Birgfeld.de
Buchumschlag: Harald
Birgfeld
In dem Stück kommen vor:
1. Jugendliche, Mädchen (1.Jug.) 2. Jugendlicher, Junge (2.Jug.) 3. Jugendlicher, Junge (3.Jug.) 1. Insassin, (1.Ins.) 2. Insassin, (2.Ins.) 3. Insassin, (3.Ins.) 4. Insassin, (4.Ins.) 1. Stein 2. Stein 1. Verkäuferin (1.Verk.) 2. Verkäuferin (2.Verk.) 1.Häftling 2.Häftling Bewacher (Bew’er.) Bewacherin (Bew’in.) Schwarzhemd, (Schw.) |
Frau B. Schwester Frau B. (Schw. Frau B.) Frau D. Frau D. Frau E. (1) Frau E. (2) Frau F. Frau H. Frau I. Frau K. Frau P. Frau R. Frau U. Frau Y. Frau Z. Dr. Y. Dr. Z. jr. Dr. Z. sen. Probst H.P. (Pr.) Drei Frauen: 1.Frau, (1.Fr.) 2.Frau, (2.Fr.) 3.Frau, (3.Fr.) |
Herr B. Herr F. Herr K. Herr N. Herr P. Herr X. Herr Y. Junge, (Ju.) Karrenschieber Kleines Mädchen (Mäd.) Kusine (Kus) Lautsprecher, (Laut.) Lena G. Maria, Sulejka Offizier Pol. (Polizist) |
Und einige andere.
Die Bilder in der Reihenfolger
1. Akt |
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Urgespräche |
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Totenkammern |
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Gebot der Steine |
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Spottdrossel |
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Ein Interview |
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Der Kassenwart |
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2. Akt |
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Verkehrte Welt |
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Sulejkas Tod |
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Singsang |
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Wen klagt ihr an |
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Unsre eigenen Probleme |
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Lena G.: „Frauen müssen Frauen helfen“ |
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3. Akt |
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Im Gnadenfutter |
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Wir wollen einmal unsre Ruhe haben |
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Schiff der Hoffnung? |
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Ein langer Schlaf |
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Die Obrigkeit hat gratuliert |
Auf der linken Seite der Bühne befinden sich
Jugendliche,
auf der rechten Seite ältere Erwachsene mit
Briefen und Zetteln in der Hand.
Zwischen den Gruppen befindet sich ein Zaun
der reicht bis an die Decke.
Man könnte ihn allerdings seitlich umgehen.
1.Jug., ein Mädchen,
2.Jug., ein Junge.
Die Jugendlichen versuchen ein Gespräch mit
den Erwachsenen.
1.Jug.: Frag doch die.
Die sind doch alle aus der Zeit.
2.Jug.: Die würden uns auch grad was sagen,
Das
hat keinen Sinn.
Da
kannst du gleich mit Steinen sprechen wollen.
Denen
hält doch das Gewissen
Beide
Hände auf den Mund.
1.Jug.: Die soll‘n sich nur erinnern,
Soll‘n
uns sagen wie es damals war,
An
was sie sich erinnern können.
Hab‘n
doch hier gelebt, im Alstertal in Sasel.
Gehen
immer noch durch ganz genau
Dieselben
Straßen.
Soll‘n
sich nur erinnern.
Herr X.: Unsre Jugend hat ein Recht darauf
Von
uns zu hören, wie es damals war.
Ich
möchte endlich einmal drüber reden können.
Niemand
spricht davon.
Die
reden alle immer nur drum rum.
Ich will euch sagen, was
ich weiß
Und
wie es war.
Die
Schwarzhemdtyrannei war schlimm
Als
sie in Blüte stand.
2.Jug.: Das
ist schon wieder so‘n Gewäsch.
Das
woll‘n wir gar nicht wissen.
Keiner
will das wissen.
Was
wir wissen wollen, ist
Wie
es in Sasel war nur hier, an dieser Stelle.
Was
Sie davon wissen,
Was in diesem Nest geschah.
Genau. Was hier geschehen ist.
Wir
können es uns nicht erklären,
Sagen
Sie uns, was Sie davon wissen.
Alles
andre schlagen wir in Büchern nach.
Frau U.: Es ist doch immer gleich.
Nun will man mal erzählen, und was ist?
Die hör‘n noch nicht mal zu
Ich bin Frau U.
Ich könnte euch sehr viel erzählen.
Hier in Sasel war die Welt noch nicht zu Ende.
Jeder denkt, die großen Schrecken
Waren nur an großen Plätzen.
Nein, sie kamen bis zu uns.
Sie krochen in die letzten Ritzen
Und versteckten sich in jedem Winkel.
Denkt nur an die Bombennächte überall.
Ich geb‘ es zu:
Wir hatten unsren eig‘nen Schrecken,
hier im Dorf,
An unsrer Seite.
Ja wir wohnten Tür an Tür mit ihm.
Der Schrecken wohnte unter uns,
Er ging in unsrem Dorf spazieren.
Leider haben wir sehr oft nicht
hingesehen.
Frauen waren es, sehr viele Frauen,
Bis zu fünf Mal hundert Frauen,
Die den Schrecken so spazieren tragen
mussten,
Davon wollt ihr hören, ja?
Den Frauen ging es schlecht, sehr
schlecht.
Ihr wollt ja alles wissen,
Fragt und fragt und fragt.
Die Frauen damals hatten auch gefragt.
Naja, das klärt heut‘ niemand auf.
Die standen dauernd unter Wache.
„Schwarze Hemden“ standen überall
herum.
Ein Schwarzhemd kommt
herein, ein völlig schwarz gekleideter Mann (Schw.).
Er hat ein Rutenbündel
im Arm. Daraus schimmert eine blanke Axt.
Er geht auf Frau U.
zu.
Frau U.: Ich war so jung wie ihr.
Frau U. nimmt ihr
Kopftuch ab. Sie ist jetzt ein junges Mädchen.
Frau U.: Das Reich der tausend Jahre ging zu Ende.
Damals war es niemandem genau bewusst.
Ich war Studentin.
Schw.: Du
bist doch das Fräulein U.?
Studentin?
Frau U.: Ja, das stimmt.
Schw.: Naja,
damit ist erst mal Schluss.
Jetzt müssen alle helfen,
Auch die Frauen und die jungen Mädchen.
Studium wird hintenan gestellt.
Ist eine Art von Kriegseinsatz.
Du brauchst dafür nicht in den Krieg,
Verstehst du mich? Sei froh.
Du kannst noch wählen.
Frau U.: Ich soll wählen? Was denn.
Schw.: Zwischen
Kettenwerk der Munitionsfabrik
In Ochsenzoll, naja, und Schaffnerin
Auf einer Straßenbahn.
Frau U.: Als Schaffnerin auf einer Straßenbahn?
Die hat doch keinen Bunker.
Soll ich meine Angst spazieren fahren?
Hin und her?
Das mach ich nicht. Nein.
Sagen Sie, die anderen,
Was machen denn die anderen?
Schw.: Die
geh‘n in die Fabrik.
Die meisten jedenfalls.
Du brauchst auch keine Angst zu haben.
Er lacht.
Schw.: Eher
ist es umgekehrt.
Die in der Munitionsfabrik, die haben
Angst vor euch.
Frau U.: Vor uns? Warum.
Schw.: Weil
ihr von gar nichts eine Ahnung habt.
Ihr müsst ganz schnell vergessen,
Was ihr wisst. Das braucht dort keiner.
Was ihr wissen müsst, bring‘n die euch
bei.
Frau U.: Was soll‘n wir da denn naschen?
Schw.: Produzieren!
Produzieren!
Hülsen für Granaten.
Ihr lernt schnell. Drei Wochen
höchstens.
Dann seid ihr dort Meister.
Frau U.: Hülsen für Granaten? Lieber Gott!
Das Schwarzhemd geht fort. Frau U.
bindet das Kopftuch wieder um.
Frau U.: Wir Mädchen damals waren „ordentlich“.
Heut ist das völlig anders.
Wir versteckten unsre Reize
„ordentlich“.
Als der mich angesprochen hatte, dachte
ich,
Dass sich die Winzigpunkte schwarzer
Hemden,
Die einst ineinander liefen,
Nun im Raster wieder aufzulösen
schienen.
Nein, ich hatte nicht damit gerechnet,
Doch noch in die Munitionsfabrik zu
müssen.
Dann sagt der auch noch, ich könnte
wählen.
Ja, ich hatte längst gewählt.
Verliebt war ich. In jemanden verliebt.
Das war sofort vorbei.
Das hätt‘ ich dem nie sagen dürfen.
Wenn ich schon verlobt gewesen wäre,
wenigstens verlobt.
Das wär vielleicht ein Unterschied gewesen.
Das wär‘ jedenfalls wie die es sagten
„Ordentlich“ gewesen.
Das versteht ihr heute nicht.
Ist besser so. Ist sicher besser so.
Ihr wurdet nie getötet, nie beraubt,
Beplündert mit Gesetz und Ordnung.
Alles, was ich weiß will ich erzählen.
Viel wird man noch schreiben und
erzählen müssen,
Bis man‘s irgendwann vielleicht
versteht,
Erkennt und das Erkennen lernt,
Wenn es noch nicht zu spät ist.
Damals dachte ich die Angelegenheit
beträfe
Mich persönlich, ganz persönlich.
Heute weiß ich auch,
Dass es natürlich nicht nur mich
betraf.
2.Jug.: Sie
haben recht.
Wir leben hier in Watte.
Seh‘n Sie uns doch an.
Wir leben in Ansorge, völlig ohne
Sorgen.
Unser Garten ist ein Paradies.
Das heißt, es könnte eines sein,
Wenn wir nicht wüssten, was hier vorher
war.
1.Jug.: Es
geht um uns.
Um junge Menschen.
Es macht allen von uns Sorge,
Dass wir ohne Sorgen sind.
Verstehen Sie? Wir möchten uns
vermissen können.
Doch wie sollen wir,
Wenn wir uns niemals umeinander sorgen
können.
2.Jug.: Unser
Heim liegt mitten
In der grünen Landschaft,
Aber die ist gar nicht grün für uns.
Wie soll‘n wir es erkennen,
Wenn wir doch vom toten Grau des
Grauens,
Das vor uns hier war, nichts wissen.
Immer endet alles an dem Zaun. Und
dann?
1.Jug.: Das
Alstertal ist unser Leben.
Wenn wir nicht die Zeugen hätten,
Unsre Steine, wüssten wir von all dem
wenig.
Sie geht auf einen Findling zu.
1.Jug.: Unsre
Steine waren Augenzeugen
War‘n schon damals da.
In ihnen stecken die Gespräche immer
noch.
Da drinnen ist das erste Echo.
Aber alles eilt und drängt.
Wir kommen fast zu spät.
In ihnen hat sich alles auf‘s
Vergessenwerden
Vorbereitet.
2.Jug.: Was
wir wissen, wissen wir von unsren Steinen
Und,
Zu den Erwachsenen gewandt.
2.Jug.: Ihr
sollt uns helfen,
Dass wir auch verstehen, was die uns
erzählen.
Alles, was die reden
Müssen wir erst übersetzen lassen.
1.Jug.: Wo
wir stehen, stand zuvor ein Lager.
Das war aufgestanden und danach
zerfallen,
Bis auf einen Rest. Geblieben sind die
Steine.
Die sind nass von immer neuen Tränen,
Und sie sind so grau,
Dass man um sie herum das Grün erkennen
kann.
2.Jug.: Hör‘
auf! Das ist Geschichte. Bla, bla, bla... .
1.Jug.: Wir
wissen noch viel mehr von ihnen.
2.Jug.: Ja,
dass sie in Rätseln sprechen.
Oder kannst du sagen, was sie meinten,
Ale sie sagten:
„Grau wird sich noch schrecklich
Mit dem Rot vermischen
Dass man auf das Grün,
Um dessentwillen ihr mit uns, den
Steinen, sprecht,
Wird kaum noch hoffen können“.
1.Jug.: Warte
ab.
Da
drüben steh‘n ja die, die leben, überlebten.
Ein Erwachsener kommt mit einer Liste,
die er gerollt durch den Zaun schiebt.
Frau I.: Diese Liste haben wir in Bergstedt
Unter einem Stein gefunden.
Darin müsst ihr lesen. Alles Namen…
1.Jug.: Eine
Liste?
Herr X.: Eine Totenliste.
Dass die alle tot sind, weiß sonst
niemand.
Offiziell hab‘n die noch nicht mal
existiert.
Ihr müsst uns eins versprechen.
Alle Erwachsenen:
Niemals dürft ihr unsre Namen nennen.
Nein, wir wollen nicht, dass ihr nach unsren
Namen fragt...
Alle Erwachsenen:
Wir sagen sonst kein Wort.
Wir woll‘n ja gerne helfen,
Aber namenlos.
2.Jug.: Bei
uns wird keiner angeklagt.
Mein Gott.
Wir sprechen nicht von Schuld.
1.Jug.: Von
uns wirft keiner einen Stein.
Ihr seid doch hinter diesem Zaun.
Ihr wärt doch nie gekommen,
Wenn wir diesen Zaun nicht hätten.
Herr X.: Wir, Frau U., Frau I., Herr D.
Und alle andren wollen nicht,
Dass Bilder, die wir zeigen,
Letzten Endes doch belichtet werden.
Das hat nichts mit Schuld zu tun.
Ihr müsst uns auch verstehen.
Alles ist erst fünfzig Jahre her.
In uns lebt noch der Schrecken.
Tag für Tag.
Die wahre Sonne
Scheint uns allen nicht zu scheinen.
Alle Erwachsenen:
Uns scheint keine wahre Sonne.
Frau I.: Ihr wärt uns zum Steinewerfen viel zu jung.
Und ihr habt recht,
Es steht der Zaun dazwischen.
Ich bin außerdem zu alt dafür,
Vielleicht auch nur zu müde.
Überhaupt trifft man mit Steinewerfen
Ausnahmslos die Falschen.
Und sich selbst
bewirft man nicht.
Und Spiegel stellte
keiner auf.
2.Jug.: Die
Steine sprechen wieder.
Alles, was' sie sagen
Übersetzen sie uns
Aus Liszkowski in die Gegenwart.
1.Stein: Von der Geburt der Schwarzhemdtyrannei.
Das ist nun fünfzig Jahre her.
Wir reden so.
Wir sagen, die Geburt war eine
Sonnenfinsternis,
Die fing mit einer Sonnwendfeier an.
Die feierte das ganze Land.
Man ließ die Feuerräder von den Bergen
laufen.
Damals staunten viele über diese Wende.
Wir, die Steine, haben es gehört...
Herr X.: Es sind nur wenige von denen damals
Nachgeblieben.
Außer uns sind doch nicht alle tot?
Ein Jammer, welch ein Jammer.
1.Jug.: Was
bejammert er denn nun?
1.Stein.: Wir reden so.
Vor fünfzig Jahren hatten die,
Die in der Krippe lagen
Sich als Wunder der Natur allein
gezeugt,
Allein aus sich heraus geboren.
Anfangs haben sie sich auch allein
genährt,
Doch dann, in einer Folge rascher
Dieberei,
Die Brüste junger Mütter andrer Kinder
ausgetrunken.
Und sie, wenn die Mütter schrien,
Gezwungen sie zu säugen,
Bis zu deren Tod.
Sie tranken auch die fremde
Muttermilch,
Wenn sie nicht mehr zu trinken war.
Sie, so sagen wir, die Steine,
Wählten sich alleine aus.
Als Zeichen hatten sie die Axt,
Die trugen sie versteckt im
Rutenbündel.
Die, die diese Axt entdeckten,
Sahen sie fast immer viel zu spät.
Die andren sahen nichts,
Und viele sahen nicht in das Versteck.
Sie waren ausgewählt.
Wir Steine sagen, dass die Ausgewählten
Schon bekleidet auf die Welt gekommen
sind.
Sie trugen unter ihrer Haut die
schwarzen Hemden
Als ein Fruchtbarkeitssymbol
Die wurden später sichtbar.
Ihre Hemden legten sie nie ab.
Die Schwärze war ein Panzer,
Der das Überleben garantieren sollte
Und der die Verbreitung sicherte und
ihren Fortbestand,
Den planten sie sofort
Auf über tausend Jahre.
Im Hintergrund eine kümmerliche Baracke,
davor Stacheldraht.
Links vorne, wie in einem Versteck die
Jugendlichen,
rechts genauso die Erwachsenen.
In der Baracke drei jämmerlich bekleidete
Frauen.
2.Jug.: In
die Steine fragen! So ein Unsinn!
So
kommt man doch überhaupt nicht weiter.
1.Jug.: Steine
kann man nicht befragen
Man
muss sie belauschen.
Steine
führen ihre eigenen Gespräche, Urgespräche,
Und
sie haben frische Narben.
2.Jug.: Tausend
Jahre sind doch für die Steine
Gar nichts.
Stell dir vor, die mussten sich
Den ganzen Unsinn anhör‘n
Den die schwarzen Hemden sagten.
1.Jug.: Meinst
du, weil sie tausend Jahre leben wollten?
2.Jug.: Ist
doch klar.
Das
bringt die Steine nur zum Lachen.
1.Jug.: Stell
dir vor, die Steine lagen damals
Ganz
genau wie jetzt.
2.Jug.: Mit
diesen Hütten drauf.
Von den Erwachsenen kommt Frau I dazu.
Frau I.: Ich seh‘ es noch vor mir, als wär es heut‘.
Die Steine lagen vor dem Eingang zu der
Villa
Auf der andren Seite.
Alles spielte sich vor diesen Steinen
ab.
Herr X.: Und auch darauf!
Von
dort hielt man die „Reden an das Volk“.
Frau I.: An diese Kreaturen.
Herr X.: Jede, die hierher kam, machten sie dazu.
Ja, wirklich, Kreaturen waren sie.
Kein Mensch, der ihnen half.
Frau I.: Da, in der Villa, wohnten die Bewacher.
Frau U.: Alles Schwarze Hemden.
Herr X.: Lebten da mit ihren Schwarzhemdfrauen.
Frau U.: Und ganz oben wohnten die drei Könige,
Herr
P., Herr T., Herr T.
Die
wechselten sich täglich ab.
Herr X.: Sie waren die Bewacher über den Bewachern.
Täglich zogen sie nach drüben hinter’n
Stacheldraht.
Die Frauen waren dann schon lange
draußen.
Frau I.: Wenn man nur bedenkt,
Dass in den kleinen
Räumen bis zu
Fünfmal hundert Frauen leben mussten.
Herr X.: Leben konnte man das nicht mehr nennen.
Leben konnte man dort nicht.
Bewohnen konnte man nicht einen Meter.
Die behausten und belebten diese
Schreckenskammern.
Frau I.: In den Büchern heißen sie lakonisch:
Die Insassinnen.
Herr X.: Nein, die belebten nichts.
Die konnten diese Räume nur besterben.
Sechs von den Baracken standen hier.
Das Schwarzhemd tritt auf und stellt
sich auf den Stein.
Schw.: Hört
her!
Damit ihr wisst, worum es geht.
Ist ein Befehl aus Neuengamme! Äh, äh,
äh...
Ich les‘ nur das, was wichtig ist...
Ihr sollt hier Heime für die Not
errichten.
Durch die Bomben unsrer Feinde...
Na, das geht euch auch nichts an, äh,
äh
Ihr sollt hier Plattenhäuser bauen...
Klar, mit Fundamenten. Klar.
Dann müsst ihr in die Ziegelei zur
Arbeit.
Auch klar, und ihr sollt... ganz
klar....
Die Trümmer zu beseitigen...
Im Falle eures eignen Todes haben wir
euch
Zu beseitigen...ist auch ganz klar..
Ach, wichtig! Jetzt hört zu!
Von euch darf keine, na ich pass ja
auf..
Ihr habt euch also streng daran zu
halten.
Niemand darf Kontakt zu der
Bevölkerung...
Und die natürlich nicht zu euch..
Die werden alle hart bestraft..
Ihr habt euch streng von denen
abzuschnüren,
Nicht ein Wort zu denen!
Wie ihr wisst, lebt die Bevölkerung
Sehr nah an uns.
Ihr richtet euch danach!
Und denkt daran:
Dies Lager ist noch praktisch neu.
Erst seit August. Ihr seid die ersten.
Ja, in diesem Jahr.
August des Jahres 1944....
Arbeitslager…..Arbeitslager…
Herr D.: Und es war das letzte eures Tausendjahrereiches.
Arbeitslager!!!
Nein, ein Arbeitslager war es sicher
nicht,
Bestimmt nicht.
Schwarzhemd tritt ab.
Frau I.: Nächstes Jahr im Mai war alles aus.
Es wurde wieder abgerissen.
Frau U.: Bis auf eine Hütte. Die steht heute noch.
Ich glaube eine Frau wohnt drin.
Ich bin nicht sicher.
2.Jug.: Mai,
der Wonnemonat.
1.Jug.: Dieser
Mai war keiner mehr ein Wonnemonat.
2.Jug.: Da
kam die Befreiung,
Wenn das keine Wonne war?
1.Jug.: Ein
Wonnemonat ist doch ganz was anderes.
Die Insassinnen waren doch fast tot.
Das könn‘n wir, glaub‘ ich,
Gar nicht nachempfinden.
Herr X.: Unsre Jugendlichen..
Frau U.: Waren Sie nie jung?
Herr D.: Ich weiß, dass diese Frauen wirklich
Kleine Siedlungshäuser bauen mussten,
Und sie bauten.
Herr X.: Keine Siedlungshäuser, sondern Plattenhäuser
Für die Ausgebombten.
Von dem Lager gab es einen Lageplan.
Herr D.: Natürlich.
Aber von der Totenliste
Hab‘ ich in den Protokollen nichts
gelesen.
Stellen Sie sich vor!
Darauf sind 35 Namen. Alles Tote.
Und kein Mensch, der davon weiß.
Und dann spricht der von einem
Arbeitslager.
2.Jug.: Er
hat recht.
Die Steine haben davon nichts gesagt,
Es nicht einmal erwähnt.
1.Jug. Sie
müssen sich erinnern,
Wenn sie so was können.
2.Jug.: Sich erinnern,
Ohne sich an etwas zu erinnern,
Das ist Art der Steine.
1.Jug.: Oder das Vergessen einfach wollen.
Alles damals war so
nah am Ende.
2.Jug.: Dass der Krieg zu Ende ging,
Erfuhr doch keiner.
1.Jug.: Sicher hofften es die meisten.
2.Jug.: Die mit ihren schwarzen Hemden
Fürchteten bestimmt den Tag.
Die wollten nicht dran glauben.
Auf der Bühne wird es dunkler und die Baracke
wird in einen hellen
Lichtkegel getaucht. Frau B. tritt auf.
Frau B.: Ich bin Frau B.
Ich rede nicht von dem
Was man Gewissen nennt,
Und die Geschichte mit der Schuld
Hab ich nie ganz verstanden.
Frau B. zeigt zu den Jugendlichen.
Frau B.: Ihr da drüben wollt ja Einzelheiten hören.
Was ich meine sind nicht Einzelheiten
Sondern Glieder einer bösen Kette.
Frau B. macht ihre Haare auf. Sie ist jetzt
eine junge Frau.
Frau B.: Peter! Peter! Was ist das für Licht!
Das ist doch streng
verboten. Sieh mal hin!
Der Mann von Frau B. tritt auf.
Herr B.: Tu‘s lieber nicht. Wir sehen nichts.
Frau B.: Da draußen, auf dem Feld ist alles hell erleuchtet.
Herr B.: Das geht uns nichts an.
Frau B.: Was uns im Dorf verboten ist,
Ist auf dem Feld erlaubt?
Herr B.: Sei still.
Sprich wie die and‘ren
Hinter vorgehalt‘ner Hand.
Daher sind doch die Frauen,
Die die Häuser bauen müssen.
„Plattenbüttel“. Na? Kapiert?
Die müssen Unterkünfte bauen für die Menschen,
Die nicht unterkommen.
Ausgebombte!
Diese Frauen dürfen selbst natürlich
nicht dahin.
Frau B.: Das weißt du alles?
Warum hast du mir das nie erzählt?
Weißt du noch mehr? Erzähl‘.
Es hört doch keiner zu.
Herr B.: Ist vielleicht besser so.
Dann weiß ich‘s nicht allein.
Komm her. Ich zeig dir was. Komm mit.
Sie gehen an eine Stelle wo ein langes weißes
Tuch
über eine Bodenöffnung gelegt ist.
Herr B.: Du weißt, ich bin gewissenhaft.
Das Grabbuch für den Friedhof Bergstedt
Führ‘ ich nun schon all die Jahre.
Ich, kein anderer, darf etwas darein
schreiben.
Und es steht tatsächlich auch nichts
Neues drin.
Von mir nicht
Und von keinem anderen.
Und nun sieh hin.
Er zieht das Tuch beiseite.
Herr B.: Sieh in die Grube.
Frau B.: Ist das da ein Grab? Mein Gott ein Grab. So lang.
So viele Beine.
Sind das alles Tote? Tote Frauen?
Liegen die auf Stroh? Auf weiter nichts?
Herr B.: Das Grab mit all den Frauen hab‘ ich so gefunden
Wie du es hier siehst.
Die sind hineingeworfen worden.
Frau B.: Die sind nur noch Haut und Knochen.
Und die Köpfe!
Herr B.: Alle kahlgeschoren. Schlimm.
Die armen Menschen.
Wer hat die hierher geschafft.
Ich kann es nicht begreifen.
Frau B.: Weißt du auch wie viele darin liegen?
Herr B.: Nein, nein. Weiß ich nicht.
Sind alle namenlos.
So kahlgeschoren.
Was bleibt einem Menschen,
Wenn man ihm die Haare raubt.
Sie liegen an der Friedhofswand.
Da dürfen keine Gräber sein.
Frau B.: Brutal.
Dahinter schließt sich doch der Gasthof
an,
„Zur Linde" nicht?
Herr B.: Ich hab‘ gehört, dass eine wie die andre
Jüdin sei.
Ein Gärtner hat‘s erzählt.
Der hat das Grab geschaufelt.
Herr B. tritt wieder zu den Erwachsenen.
Frau B erzählt weiter und steckt dabei ihre
Haare wieder auf.
Frau B.: Selbst im Grab ließ man die Frauen
Nicht in Ruh‘.
Man schaufelte es nicht mal zu.
Sie wurden selbst der Ruhe in dem Grab
beraubt.
Man nahm sie wieder raus.
In einer Nachtaktion hat man sie gleich
danach
Herausgenommen. Einfach so.
Sie waren plötzlich wieder fort.
Es lag nur noch das Stroh im Grab.
Für die gab‘s wirklich keine Ruhe.
In den Tod gejagt, getrieben
Jagte man sie nach dem Tod in einen
neuen Tod
Und aus dem Grab heraus.
Wir
konnten ihren Weg nicht mehr verfolgen.
Frau B. geht zurück zu den Erwachsenen.
2.Jug.: Ich bin wie benommen.
1.Jug.: Mir ist richtig schlecht geworden.
Von den Erwachsenen kommt Frau E.
Sie hat einen Korb mit Äpfeln und Brot. Davon
versteckt sie in einem Gebüsch.
Frau E.: Damals, als man sie dann freiließ,
Das war viel, viel später,
Aber mir fällt‘s jetzt grad‘ ein...
Das Lager war ganz dicht an unsrer
Gartengrenze.
Deren Grenze grenzte gleich an unsren
Zaun.
Ich hatte oft, so oft es ging, in einer
Hecke
Brot und Äpfel für die Frau‘n versteckt.
Die haben‘s sich geholt, ganz heimlich,
Haben‘s gleich gegessen oder
mitgenommen.
Als man sie dann freiließ...
In der Baracke stehen die Frauen auf und
kommen auf Frau E. zugelaufen.
Herr B.: Wenn ich mich daran erinner‘,
Die Insassinnen bestürmen sie.
1.Ins.: Das ist sie, die hat uns auch geholfen.
1.Ins. küsst Frau E. die Hand.
Die anderen Insassinnen hängen ganz schnell
drei,
vier schwarze Hemden auf eine Wäscheleine.
2.Ins.: Mein
Freude...Nein..Du Freundin...
Du uns Kleider geben..
Du nicht Kleider schwarz, nicht rot,
nicht braun.
Du mich sehen? Hab‘ ich Zahne? Alles
Gold?
Alles nicht kaputt.
Du mich glücklich.
Frau E.: Ja, ich geb‘ euch Kleider.
Die könnt ihr von mir
aus haben.
Frau X gibt jeder ein Kleid.
2.Ins.: Ich Paris, Franzosin.
Ich Geschäft Paris. Du viel Geschenke:
Seife, Seife. Du Parfum.
Ich danken, danken!
Die Frauen gehen wieder in die Baracke
zurück.
Sie legen die Kleider wieder weg und nehmen
die Hemden von der Leine.
Frau E.: Nein, es war noch lange nicht so weit.
Es fiel mir auch nur
ein.
An Seife dachten alle.
Reinigung des Leibes.
Jeder dachte an die Reinigung des
Leibes.
Nein, es war noch lange nicht so weit.
Von den Erwachsenen stürzt Herr X. auf
Frau E. zu.
Herr X.: Gefang‘ne fliehen aus der Stadt. Aufs Land!
Zu uns !
Frau E.: Zu uns?
Herr X.: Es heißt, ein Mann aus unsrem Dorf
Hilft ihnen.
Hat vier Wagen voll mit Frauen,
Die er nach hier draußen schaffen will.
Er hätte beinah‘ einen Polizisten
umgefahren,
Aber der hat ihn und alle laufen lassen.
Wohin soll das führen,
Was soll bloß noch werden!
Frau E.: Bald weiß keiner, wer wen fliehen lassen wird
Und kann,
Und wer selbst zu den Fliehenden
gehört.
Von den Erwachsenen kommt Frau K. dazu.
Frau K.: Es stimmt, was Sie erzählen.
Trotzdem war es
anders, ja ganz anders.
Auf die Bühne stürmen Herr K. und neun
der Insassinnen.
Sie sind völlig erschöpft. Der Mann
treibt sie an.
Herr K.: Los, macht weiter.
Wenn die uns erwischen ist es aus.
Die stell‘n uns an die Wand.
1.Ins.: Nein, lasst mich, ich will sterben.
Herr K.: Du stehst auf! Mach zu.
In Sasel bring ich euch auf meinem
Boden unter.
Los steh auf.
Die andren Frauen helfen. Ein
Schwarzhemd tritt auf und schlägt sofort auf Herrn K. ein.
Schw.: Schon
auf der Flucht? Ich wird‘ euch helfen.
Los zurück,
verfluchtes Pack.
Herr K.: Hör‘ auf, du Idiot. Du bist verrückt!
Wir sind doch
unterwegs!
Die Stadt brennt lichterloh.
Kein Mensch kann mehr zurück.
Lass uns schon durch.
Sieh zu, dass du dich selber rettest!
Hinter uns ist eine Feuerwand.
Mach Platz! Geh weg!
Das Feuer ist gleich
hier!
Das Schwarzhemd ist erstaunt und bleibt
stehen und
lässt die Flüchtlinge durch und tritt ab.
Die Gehetzten kommen zu Frau K. zurück.
Herr K.: Wir müssen helfen.
Frau K.: Sind die aus der Stadt?
Herr K.: Ich weiß nicht,
Hab‘ sie unterwegs
gefunden.
Frau K.: Los schnell auf den Boden. Und seid ruhig.
Legt euch oben hin. Seid still.
Ich bring‘ euch Suppe.
Nehmt euch Decken mit.
Ein bisschen Kohl, ein bisschen Mehl
und Wasser.
Mehr ist nicht.
Herr K. tritt ab. Die Insassinnen
ebenfalls.
Aus der Baracke kommt Herr Y. Er geht
auf Frau K zu.
Herr Y.: Du kennst mich gut.
Ich habe viel geseh’n,
Und jetzt im Krieg ist alles möglich.
In der Hütte liegt ein junges Mädchen.
Hat ein Kind gekriegt.
Nein, das ist alles ganz und gar
unglaublich.
Herr Y. schüttelt immerzu den Kopf.
Herr Y.: Nicht ein bisschen Hilfe durfte ich ihr geben,
Und es ist doch mein
Beruf.
Herr Y tritt ab.
Frau K.: Herr Y hat niemals mehr davon gesprochen.
Nie mehr, bis er
starb.
Frau K geht zurück zu den Erwachsenen.
Aus der Baracke kommen zerlumpte Frauen
mit ihren Bewachern.
Die Frauen murmeln unentwegt.
Insassinnen: Hunger. Hunger. Hunger.
Von den Erwachsenen kommt Frau I.
Frau I.: Das müssen mehr als hundert sein.
Hier, nehmt mein
Frühstücksbrot.
Sie holt ihr Frühstücksbrot aus der Tasche
und wirft es in die Reihen.
Sofort schlägt die Wache mit einer Peitsche
nach der
ersten Insassin, die sich zu bücken wagt.
Ein anderer schlägt mit der Peitsche nach
Frau I.
Das Brot bleibt unter ihren Füßen liegen.
Frau I.: Wir haben wirklich nicht viel mehr gewusst, als dies.
Wir wohnten auch sehr weit entfernt.
Ganz in der Nähe aber wohnten Schreber.
Ja, die wohnten Tür an Tür mit denen.
Schrebergärtner solltet ihr befragen.
Die hab‘n mehr gewusst
Ich glaube, die sind alle
Längst, längst tot.
2.Jug.: Du siehst, sie hat von nichts etwas gewusst.
1.Jug.: Die arme Frau. Die Ärmste.
1. Akt, 3. Bild. Gebot der Steine
Bühnenbild wie zuvor. Herr N. tritt
auf.
Herr N.: Auf die Steine dürft ihr gar nicht achten.
Die verstehen von so kleinen Zahlen
nichts.
Das Lager stand doch nicht nur
Von August bis Mai.
Nein, das stand mindestens schon
Ein Jahr länger hier. An dieser Stelle.
Arbeitslager? Nein das war kein
Arbeitslager.
Die Baracken standen in der Nähe
Der Kanonen gegen Luftkommandos.
Herr N. legt seinen Mantel ab und ist
jetzt ein Hitlerjunge.
Herr N.: Die Baracken waren nur zum Schutz der Flak.
Das ist ganz sicher.
Nachts war alles hell erleuchtet.
Davon war ich damals ganz begeistert.
Überhaupt von allem war ich damals ganz
Begeistert.
Ich war überall. Ich stromerte herum.
Ich sah in jedes Fenster.
Herr N. sieht in eines der
Barackenfenster.
Plötzlich ertönt ein lautes
Frauenkreischen aus der Baracke.
Herr N.: Die da drinnen sind nur Haut und Knochen,
Werden abgeduscht.
Das Wasser ist natürlich eisig kalt.
Ist ihre Waschbaracke, glaube ich.
Die müssten wegen ihrer vielen nackten
Knochen
Aneinander schlagen.
Ein Bewacher kommt heraus.
Bew‘er.: Na, du Bürschchen?
Musst in fremde Fenster gucken?
Hau man lieber ab. Nu mach schon!
Ist doch nichts für dich.
Aus der Baracke kommt ein Zug Frauen in
blauweißgestreifter Kleidung.
Darauf sind große schwarze Zahlen zu sehen.
Sie tragen Holzpantinen.
Der Wachmann geht und begleitet die Frauen.
Es sind auch Bewacherinnen mit blanken
Stiefeln dabei.
Bew‘in.: Was machst du da! Hau ab! Sofort!
Herr N.: Bringt ihr die weg?
Bew’in.: Die geh‘n zur Arbeit. Jetzt sei still!
Verschwinde, dass wir dir nicht Beine machen
müssen.
Die Bewacherinnen schlagen mit den Peitschen
zwischen die Frauen.
Herr N.: Warum seid ihr denn so viele?
Bew’in.: Bist du jetzt wohl still?
Sonst hetz ich unsren Schäferhund auf dich!
Bew’er.: Die gehen in die Stadt, in ausgebombte Viertel.
Da sind Trümmer zu beseitigen,
Nu weißt du, was sie machen. Nu hau aber ab.
Herr N geht und zieht seinen Mantel wieder
an.
Herr N.: Es hieß, dass man sie in die Trümmer schickte,
Um die Leichen auszubuddeln,
Und man sagte auch,
Die würden vollgepumpt mit Schnaps.
Das soll die Übelkeit in ihnen
unterdrücken.
Jeden Morgen gingen sie durchs Dorf,
Auf immer neuen Straßen.
Viele waren es. Ein langer Zug.
So zweimal hundert Frauen.
Morgens ging es ab nach Poppenbüttel,
Dort in einen Zug und los.
Dle hatten etwa dreißig Männer zur
Bewachung.
Waren ausgerüstet und bewaffnet
Wie die Schwarzhemdmänner.
Schäferhunde hatten sie.
Viel schlimmer, als das Eis der
Duschen,
Waren die Bewacherinnen.
Was die machten, machten die gleich
ganz.
Die machten ganze Arbeit,
Und die bildeten sich toll was ein
Auf ihre blauen Augen und die blonden
Haare.
Waren alles junge Frauen.
Jede war in einem unersättlich reifen
Frauenalter, zwischen zwanzig, dreißig
Jahren.
Die Bewacher waren sehr viel älter,
Sehr viel freundlicher und milder. Um
die sechzig.
Frau I. wirft wieder Brot in die Reihen,
genau, wie im vorigen Bild.
Bew’er. zu einer Insassin:
Bew’er.: Hast‘s nicht geseh‘n? Heb‘s auf. Ist gut.
Die Leute woll‘n euch Gutes tun.
Die Insassinnen stürzen sich sofort darauf.
Wie im vorigen Bild holt jetzt auch Frau E.
aus ihrem
Korb Äpfel und Brot und verteilt sie an die
Insassinnen.
Die reißen ihr das aus der Hand und
verschlingen es gierig.
Bew’er.: He, gute Frau, das ist verboten.
Lassen Sie das lieber sein,
Sonst werden Sie noch abgeholt.
Frau I.: Ist ja schon gut.
Sie sehen doch, wie die Hunger haben.
Und das bisschen Brot, ‘n Appel.
Is‘ doch nichts dabei.
Herr N.: Die Männer war‘n nicht streng.
Die ließen vieles durch.
Die war‘n zwar im Vollzug,
Doch sie vollzogen nicht, wie manche
glaubten.
Insassinnen, Bewacher ab. Herr N. Frau I. zurück
zu den Erwachsen.
Bei den Jugendlichen klingelt ein Telefon.
Frau P. wird eingeblendet. Sie ist
bettlägerig.
1.Jug.: Ja?
Wer spricht?
Frau P.: Ich bin Frau P. Ich weiß noch einiges
Das könnt‘ euch
intressieren.
Damals war ich selber Kind.
So elf, zwölf Jahre.
Niemand der Familie hätte je Kontakt
Zu den KZ- Insassinnen gehabt.
Das war ja gar nicht möglich.
War viel zu gefährlich.
Aus dem Lager drang nun wirklich gar
nichts raus.
Bis zur Umzäunung hätte sich
Kein einziger von uns gewagt.
Man fürchtete, wenn ich so sagen darf
Dass die Umzäunung um sich greifen
würde.
Plötzlich säß man selber drinnen.
Nein, kein Mensch ging an den Zaun.
Nur meine Mutter, diese kleine Frau.
Von den Erwachsenen kommt eine Frau auf dem
Fahrrad und radelt hastig auf den Zaun zu.
Sie wirft kleine Päckchen,
die sich im Gitter verfangen. Dann radelt sie
schnell zurück.
Frau P.: Sie fuhr mit ihrem Fahrrad auf das Lager zu.
Man sah ihr ihren Mut nicht an.
Ihr Kommen war ein Eilen, Fliehen.
Reste Brot und was sie sonst noch hatte
Und entbehren konnte, warf sie denen
zu.
Das meiste blieb im Stacheldraht,
Im hohen Gitter hängen.
Immer war sie wieder fort,
Wenn die Bewacher kamen.
Ein Bewacher kommt heraus.
Bew’er.: War doch schon wieder einer da!
Verflucht noch mal.
Frau P.: Die drinnen träumten von ein wenig Suppe.
Später nahmen wir Zigeunerinnen auf.
Die haben uns erzählt,
Wie man dort drinnen strafte für
Verbrechen,
Wie die sagten,
Wo‘s doch wirklich nichts mehr zu
verbrechen gab.
Eine Bewacherin tritt auf und zerrt eine
Insassin mit sich mit.
Mit Fußtritten stößt sie die zu Boden.
Bew‘in.: Das nächste Mal stell ich dich wieder
In das kalte Becken.
Kommst den ganzen Tag ins kalte Wasser.
Hab heut‘ meinen guten Tag.
Heut kriegst es warm.
Drück nur die Kippe auf dir aus.
Sie reißt der Insassin die Lumpen hoch und
die
Beine auseinander und drückt genüsslich die
Zigarette in ihrem Schenkel aus.
Bew‘in.: Ich warn dich, wehe, wenn du schreist.
Du Miststück, Jetzt kommt der
Geschmack.
Halt still, kein Wort,
Sonst schick ich dich nach Neuengamme.
Die Insassin windet sich, sagt aber kein
Wort.
Bew‘in.: Ah, das hat gewirkt.
Die Bewacherin holt aus der Tasche zwei kleine
Glasfässchen.
Bew‘in.: So, erst ein bisschen Salz.
Ja, das tut gut.
Sie reibt mit dem Finger nach. Die Insassin
schweigt und windet sich.
Bew‘in.: Gefällt dir wohl?
Und jetzt als Nachtisch Pfeffer.
Wehe, wenn du nur ein Tönchen sagst.
Du darfst dich kratzen.
Kratz dich! Los! Nach Herzenslust, mein
Täubchen!
Wehe du nimmst Spucke!
Miststück, Hure! Machst du nur
Theater?!
Die Insassin springt auf und läuft zurück in
die Baracke.
Die Bewacherin hinterher.
Bew‘in.: Jetzt schlag ich dich tot!
Wenn ich dich kriege!
Frau P.: Die Zigeunerfrauen haben uns erzählt,
Dass man in Sasel keine Folterungen
vornahm.
Dies war eine Kleinigkeit an dem
Was andre litten. Das war allen klar.
Wir fanden trotzdem,
Dass die zwei Zigeunerinnen fast schon
tot war‘n
Als sie zu uns kamen.
Die im Lager kriegten reine
Wassersuppe.
Die bestand aus Wasser und
Kartoffelschalen.
Aus sonst nichts. Aus gar nichts
weiter.
Ja, das wollte ich euch sagen.
Ein Bewacher soll ein Mensch gewesen
sein.
Der half den Frau‘n beim Tragen schwerer
Kannen.
Damals hatten sie die
Milch zu schleppen.
War in Sasel. Dort
steht jetzt ein Supermarkt.
Frau P. legt auf.
1.Stein: Hört her, hört zu.
Wir Steine geben euch ein Rätsel auf.
Wir sagen:
„Wir, die Steine, haben ein Gebot:
Von uns darf sich kein einziger ent -
setzen,
Und dort, wo wir stehen,
Müssen wir ver - stehen lernen.
Das ist unsre Art sich zu bewegen,
Und be - greifen werden wir nie
können“.
Von den Erwachsenen kommt Frau D.
Frau D.: Jemand muss mal einen Schlussstrich zieh‘n.
1.Jug.: Den
Schlussstrich? Unter was?
2.Jug.: Die weiß noch immer nicht,
Was wir hier machen.
Sie, Frau D.,
Bis jetzt zieht immerzu an irgendeiner
Stelle
Irgendjemand. seinen Schlussstrich,
Und die woll‘n wir grade ausradieren.
Kann man das denn nicht versteh‘n?
Wir wären kopflos,
Könnten überhaupt nichts mehr
verstehen,
Wenn wir einen Schlussstrich gelten
lassen würden.
Frau D.: Ich weiß nur, dass viele Frauen
Essenreste an das Gitter brachten
Und hinüberwarfen.
Und den Zug der Frauen, sah‘n wir alle,
Zog sich manchmal endlos durch die
Straßen.
Aus der Baracke kommen in Decken
gehüllte Frauen heraus.
Frau D.: Keine hatte jemals ordentliche Kleider.
Höchstens eine alte Decke umgehängt.
Die gingen immer bis nach Poppenbüttel.
Dann in einen eignen Wagen.
Wenn die drin waren, wurd' der einfach
abgeschlossen.
Nicht von drinnen. Wie ein Viehzug.
Dann ging‘s ab.
Die trugen keine Holzpantinen.
Hatten doch nur Lappen an den Füßen.
Die Bewacher schlugen sie,
Wenn sie sich nach den Essenresten
bücken wollten,
Oder, wenn sie sich nicht schnell genug
bewegten.
Damals war ich sechzehn, siebzehn.
Meine Güte!
Mir war alles gar nicht so bewusst.
Ich dachte auch, dass das so ist.
Das muss so sein, hab‘ ich gedacht.
Ich hab' gedacht:
Das alles hat so seine Ordnung.
Bühne wie zuvor. Zwei große Steine sind
ausgeleuchtet.
Sonst ist niemand auf der Bühne.
1.Stein: Die horchen frech in unsre Urgespräche.
2.Stein: Für so kurze Augenblicke
Lebt ein Stein zu lange.
1.Stein: Viel zu lange
2.Stein: Die vergessen, dass wir hier schon lange..
1.Stein: ...als noch gar nichts war..
2.Stein: Wir sind schon dagewesen,
Als die anderen vor ihnen,
Noch nicht existierten.
1.Stein: Und die davor auch noch nicht.
2.Stein: Die Tausendjährigen,
Du weißt doch,
1.Stein: Ach, die dachten, dass sie schlauer wären.
2.Stein: Alles haben wir erlebt.
1.Stein: Und niemals eingegriffen.
2.Stein: Niedertracht und Glück und Blutvergießen,
Schicksal, Unglück.
Alles hat sich über uns ergossen.
1.Stein: Nach dem Maß der Steine…
2.Stein: Alles wurde aufgerichtet und gerichtet...
1.Stein: Was uns färben kann
Sind Regen und ein bisschen Schnee.
2.Stein: Ob die das nicht bedenken,
Die sich auf uns hocken
Sich auf unsre Augen stellen?
Von außerhalb kommen einige Insassinnen,
die werden von einer Bewacherin angetrieben.
Sie sollen zurück in die Baracke.
Eine Insassin ist verletzt und muss auf einem
Bein hinken.
1.Ins.: Unter
den Bewacherinnen ist die P. die schlimmste.
Sonst würd‘ ich der Ärmsten helfen.
2.Ins.: Lass
das sein, du kommst in Teufels Küche.
Hat sie eben Pech gehabt.
1.Ins.: Jetzt
geh ich einfach hin
Und stütz' sie ab.
1. Insassin geht zu der Hinkenden und will
ihr helfen. Sofort geht die
Bewacherin dazwischen.
Bew'in.: Ich schlag euch tot
Wenn ihr der helft.
Wir spielen „Hinkefuß“ bis zur Baracke.
Hast doch selber schuld!
Was wirfst du dir die Steine auf die
Füße.
Denkt, ich fall‘ drauf rein.
Ihr Simulantenpack.
Na, lange macht ihr‘s sowieso nicht
mehr.
Die Zeit, die ich euch hab‘,
Sollt ihr genießen.
1.Ins.: P.
Den Namen merk‘ ich mir.
Wenn ich hier jemals rauskomm',
2.Ins.: Wirst du sicher nicht.
1.Ins.: Wenn
ich hier jemals rauskomm'
Knöpf‘ ich mir die vor. Privat,
verstehst du.
Beide Brüste werde ich ihr eigenhändig
drehen,
Dass sie keinem Mann sich mehr zu
Zeigen wagen wird.
Bew'in.: Ihr redet miteinander? Da!
Für jedes Wort ein Schlag auf euren Kopf,
Auf euer Maul!
Ihr habt vergessen,
Dass ich meinen Mann verloren hab‘.
Ist eure schuld! Durch euch!
Den Krieg habt ihr uns aufgedrückt.
Ich hab‘ nicht nur die Peitsche.
Ihr vergesst, dass ich die Rache dafür
will.
Das ist mein dritter Arm.
Ich quäl‘ euch allesamt zugrunde!
Die verletzte Insassin bricht zusammen.
Bew'in.: Stehst du auf! Steh‘ auf sofort!
Ich schlag dich auf der Stelle tot!
3.Ins.: Helfen
Sie mir doch. Ich fleh Sie an.
Erlauben Sie, dass mir die andren
helfen.
Alles wird‘ ich für Sie tun.
Bew’in.: Das Spiel heißt „Hinkefuß“. Steh‘ auf!
3.Ins.: Den
ganzen Weg vom Bahnhof bis hierher..
Bew’in.: Sonst geht‘s nach Neuengamme!
Überleg‘ es dir.
3.Ins.: In
eins, zwei Stunden
Kann ich wieder laufen. Das geht schnell
vorbei.
Sie küsst der Bewacherin die Stiefel.
3.Ins.: Lassen
sie sie helfen, bitte, bitte.
Eine nur, dann geht‘s.
Bew’in.: Dir helf‘ ich selbst.
Wenn du‘s so willst, dann bitte, bitte.
Schlägt mit der Peitsche auf sie ein.
Die Verletzte kriecht jetzt auf allen Vieren
weiter.
Bew’in.: Wie heißt unser Spiel?
3.Ins.: „Hinkefuß".
Bew’in.: Steh‘ auf, komm hoch, verfluchte Simulantin.
Was ihr braucht, ist jemand,
Der euch antreibt, der euch Beine
macht.
Ich müsste strenger mit euch umgeh‘n.
Unter meiner Peitsche starb noch keine.
1.Ins.: Das
ist wahr.
An ihren Schlägen ist noch keine
umgekommen.
In den andren Lägern soll es viel, viel
Schlimmer sein. Viel schlimmer.
2.Ins.: Sollten
ihr noch dankbar sein.
1.Ins.: Ich
könnt‘ sie küssen.
Werd‘ ich bei Gelegenheit.
2.Ins.: Vielleicht
vergisst sie dann den Mann.
1.Ins.: Die
ganz bestimmt nicht.
Bew’in.: Gut, du willst es ja nicht anders.
Die Bewacherin setzt sich auf den Rücken der
Verletzten und treibt sie an.
Bew’in.: Will dir deinen Wunsch erfüllen.
Los, trab ab. Hü, hott! Hü, hott!
Gleich sind wir da!
Mein Pferdchen lauf!
Galopp! Galopp!
Alle verschwinden in der Baracke. Es klingelt
ein Telefon.
Man hört, wie ein Hörer abgenommen wird.
Man erkennt die Stimmen von Frau H. und den
Jugendlichen.
Frau H.: Ihr seht mich nicht. Ich bin Frau H.
Ich bin so alt und bin so furchtbar
hässlich.
Nein, ich zeig‘ mich nicht.
Ich will euch aber etwas zu dem Hunger
sagen,
Auch, wenn ihr es nicht versteht.
2.Jug.: Wir
hör‘n Sie gut und wir versteh‘n Sie gut.
Wir wollten grad‘ zum Essen geh‘n.
Wir wissen also, was das ist.
Wir haben nämlich Hunger.
Frau I.: Hört mir bitte zu.
Es dauert doch nicht lange.
Wir, die damals Hunger hatten
Und die Frauen aus dem Lager, wissen,
Dass der Hunger mehr als nur Bedürfnis
ist.
Er ist Erfahrung, die man nie vergisst.
2.Jug.: Noch
etwas?
Frau H.: Hört noch zu. Das ist doch wichtig.
Hunger war die Frage nach der Existenz,
Wenn die durch Sasel zogen,
Einzelne Insassinnen kommen in Lumpen
gekleidet aus dem Lager heraus.
Frau H.: War der Zug so lang,
Dass wir durch ihre Reihen gehen mussten,
Wenn wir einfach auf die andre Straßenseite
wollten.
Alle hatten runde, off‘ne Münder,
Tupfer,
Kleine Höhlen im Gesicht.
Die riefen, murmelten.
Die Insassinnen haben immerzu das Wort auf
den Lippen.
Insassinnen: Hunger..Hunger…Hunger…Hunger…
Ein Bewacher kommt hinterher gelaufen.
Bew.: Lasst
verdammt noch mal das Betteln,
Lasst das Betteln sein.
Auf einen der Steine springt plötzlich ein
Schwarzhemd.
Frau H.: Plötzlich stand ein Schwarzhemdstandortarzt
Auf einen dieser Steine,
Und er wollte,
Dass die Frauen zum Appell erscheinen.
Für die Frauen war ganz klar,
Was kommen musste: Selektion.
Frau I.: Für viele würd‘ das heißen:
Ab nach Neuengamme oder sonst wohin
In die Vernichtung.
Die Insassinnen geraten in wilde Panik und
Hektik
und füllen sich ihre Lumpen mit Papier auf
und
versuchen mit allen Mitteln und mit Fetzen
Buntpapier sich
Farbe ins Gesicht zu zaubern.
Gezank unter den Frauen.
Frau I.: Plötzlich waren alle wach.
Das brachte sie in Trapp.
Sie hatten alle irgendeinen Rest von roter
Farbe,
Auf Papier, in irgendeinem Stoff.
Das schmierten sie sich ins Gesicht
Und
schminkten sich, das war zu ihrem Schutz.
Sie stopften sich die Lumpen auf mit
Gras,
Papier, mit irgendetwas, dass sie
dicker wurden,
Und erschienen zum Appell.
Sie hofften, so nicht aussortiert zu
werden.
Jede, die man aussortierte,
Würde auch beseitigt werden, das war klar.
Ich wünsche keiner Jugend dieser Welt
Den Hunger, den die hatten.
Es ist einen Augenblick total still. Alle
lauschen auf das Gezwitscher einer Amsel.
Schw.: Bin
euer Schwarzhemdstandortarzt.
Geh‘ allen Klagen nach und kontrolliere.
Man beklagt das Essen.
Überall. Nicht nur bei euch.
Hab‘ Essen untersucht, bei euch.
Die Werte liegen wenig unter Werten,
Wo die Werte für Verpflegung liegen
sollen.
Reichen eben aus. Das ist genug..
Gehalt an Kalorien ist festgelegt,
Ist wissenschaftlich untersucht!
Stellt ganz und gar neutrales Amt
zufrieden.
Weicht nur wenig ab mit einer Toleranz
nach unten.
Andre liegen viel, viel tiefer.
Habe selbst Vergleiche mit Tabellen
angestellt;
Kann euch nur gratulieren.
Euch geht‘s gut.
Wir wollen ja nicht Winterspeck
ansetzen, oder?
Arzt lacht: Kleiner Scherz von mir.
Arzt wieder streng.
Schw.: Es
ist nicht angestrebt,
Mit der Ernährung zusätzliche Polster
anzulegen.
Kann nicht Sinn des Arbeitslagers sein.
Arzt schreit sie an.
Schw.: Alle
sollen alles geben und nichts dafür nehmen!
Arzt wieder ruhig.
Schw.: Zubereitung,
Sauberkeit
Sind in der Häftlingsküche ausgezeichnet.
Spreche hier von vorbildlich und
musterhaft.
Hab‘ nichts Bemerkenswertes,
Meine Ungesundes, in mein Protokoll zu
nehmen.
Schwarzhemdstandortarzt befindet alles
„Gut“ und „Sauber, einwandfrei“.
Verwaltung ist gerecht.
Ein Glücksfall dieses Außenlager Sasel.
Andre Läger leben mit ganz andren
Kompromissen und Entscheidungen.
Wir singen jetzt ein Lied, drei, vier….
Er stimmt an.
Schw.: „Vernichtung
durch die Arbeit..“
Keiner singt mit.
Schw.: Keiner
kennt das? Oder dies:
„Die Arbeit macht euch frei, die
Arbeit...“
Auch nicht? Na, dann hör‘n wir mal in
die Natur.
Die kann das besser.
Die Drossel singt wieder.
Schw.: Schön,
nicht wahr?
Das ist ‘ne Amsel oder eine Drossel, nicht?
Ein Bewacher antwortet sofort befehlsgemäß
und brüllt über die Leute.
Bew’er.: Herr Oberarzt, ist eine Drossel!
Eine Spottdrossel, Spottdrossel!
Einige, wenige Insassinnen lachen laut auf.
Dann tritt einen Augenblick Ruhe ein.
Stimme von Frau H.
Frau H.: Von den Sas‘lern ist das Frauenlager
Völlig übersehen worden.
1. Akt, 5. Bild. Ein Interview
Bühnenbild wie zuvor. Es kommen 1. und 2.Jug.
und andere Jugendliche auf die Bühne.
Rechts stehen wieder die Erwachsenen.
Zwei Bewacher montieren ein Schild an der
Baracke.
1.Bew.: Jetzt
hat alles seine Ordnung.
2.Bew.: Liest
sich gut.
Die Schrift ist sauber:
„Arbeitslager Sasel
Stehenbleiben ist verboten“!
Das schreckt ab.
Die Bew. wieder ab. Von den Erwachsenen kommt
Frau B.
auf die Jugendlichen zu und übergibt denen
ein Papier.
In der anderen Hand trägt sie ein
Tonbandgerät.
Das händigt sie mit aus.
2.Jug.: Ich
denk‘ wir geh‘n jetzt Essen?
Hat das nicht noch Zeit mit ihr?
Die sagt kein Wort!
1.Jug.: Sie,
gute Frau, wir woll‘n erst Essen gehen,
Danach geht es weiter!
2.Jug.: Stumm
wie ‘n Fisch. Die sagt kein Wort.
Was soll der Zettel.
Nimm ihn mal.
1.Jug. Nimmt
den Zettel und liest vor.
Ich bin stumm, ich kann nichts sagen.
Aber auf dem Kasten ist ein Tonband,
Wie wir‘s früher hatten.
Darauf ist ein Interview.
Ich bin nicht so modern, wie ihr.
Ihr habt Kristalle, weiß ich,
Darin speichert ihr die Welt.
Auf meinem Band. könnt ihr mich
sprechen hören.
Außerdem Herrn F. und seine Frau.
Ihr könnt es hören wenn ihr wollt.
Ich geb‘ es euch. Als Unterschrift:
Frau B.
Es kommen zwei Verkäuferinnen, die sehr
attraktiv angezogen sind.
Auf ihrer Kleidung steht der Namenszug:
„Supermarkt“.
Sie bringen Lunchpakete für alle.
1.Verk.: Der Supermarkt lässt grüßen.
Supermarkt will einen Beitrag leisten.
2.Verk.: Lunchpaket für jeden.
Supermarkt lässt grüßen. Nehmen Sie. Da,
bitte.
Erwachsene und Jugendliche sind erfreut.
Erw.: Danke,
danke..
1.Jug.: Das
ist eine nette Geste.
Hunger hab‘ ich auch inzwischen.
2.Jug.: Werbung,
Werbung.
Ohne Werbung geht es nicht.
Kann uns auch ganz egal sein.
Die Verkäuferinnen bringen auch noch
Getränke.
1.Jug.: Find‘
ich toll von denen.
Danke. Gut, sogar Getränke!
2.Jug.: Ganz
umsonst. Das spenden die.
Wer weiß aus welchem Grund.
3.Jug. kommt auf die beiden zu.
3.Jug.: Ihr
denkt doch nur ans Fressen.
Ist für die doch nichts.
Das schreib‘n die ab.
Und ihr macht euch zu deren Fressgenossen,
Ich rühr‘ von dem Kram nichts an.
1.Jug.: Was
hast du denn?
3.:Jug. spuckt vor ihnen aus.
3.Jug.: Verreck
ich lieber.
Jedenfalls von denen nehm‘ ich nichts.
2.Jug.: Ist
mir egal, ich esse.
1.Jug.: Weil
du kein Gehirn hast.
2.Jug.: Wirfst
du denen vor, dass sie den Supermarkt
Da aufgebaut und eingerichtet haben,
Wo noch Lager war?
3.Jug.: Das
könnte sein.
1.Jug.: Du
spinnst.
Du gehst doch auch nicht los
Und reißt die Zäune ein
Bei all den Siedlungshäuschen die da steh’n,
Und die steh‘n ganz genau da, wo sie
die
Gequält hab'n,
Wo so viele starben,
Wo sie die geschlagen haben!
3.Jug.:
Hab‘ euch doch gesagt,
Euch fehlt es an Gehirn.
3.Jug. geht. Ruft dann aber zurück:
3.Jug.: Ich
jedenfalls „gedenke“.
Ja, gedenke, jetzt. Mit meinem Hunger!
Wenn ihr mich versteht.
Mein Hunger soll mich dran erinnern,
Daran denken lassen.
Eure Sattheit ist zum Kotzen.
Aber macht nur weiter.
Irgendwann begreift ihr auch die
Kleinigkeiten.
Widerlich,
Wenn man die Fresslust an euch sieht.
Die quillt euch aus den Augen!
Ekelhaft.
Einige, dann alle, legen zögernd ihr
Lunchpaket beiseite.
Verkäuferinnen ab. Aus der Baracke kommen
Insassinnen,
schlecht gekleidet, aber erstmals mit einem
gelben Stern
auf der Kleidung. Sie sind dabei, die Baracke
zu errichten.
2 Bewacherinnen, Jugendliche und Erwachsene
fast ganz zurück.
Frau B. und ihre Schwester
(Schw. B.).
Frau B.: Drei Männer und drei Frauen passen immer auf.
Bew‘in.: Bewegt euch! Tut was! Lahme Schlampen!
Schw. B.: Insgesamt sind‘s über viermal hundert Frauen.
Fünfzig von den Häusern soll‘n sie bau‘n.
Frau B.: Ob sich mal eine her traut?
Schw. B.: Nein, wir müssen ‘rüber.
Da, bei den Bewachern geht‘s,
Der sieht mit Absicht weg.
Die beiden Frauen gehen auf den Bew. zu, der
sieht gelangweilt weg.
Sofort kommen die Insassinnen auf die Frauen
zu
und reißen ihnen die Nahrung aus den Händen.
Ins.: Danke…danke..
Die beiden Frauen gehen zurück.
Frau B.: Die müssen schuften, bis sie tot sind..
Schw. B.: Müssen Heime schaffen,
Die sie selber nie beziehen werden.
Frau B.: Und die einzieh‘n hängen ihre Augen
Drinnen an die Wand.
Die woll‘n von nichts was wissen.
Gucken nicht mehr raus.
Statt denen, die geholfen haben,
Auch zu helfen.
Schw. B.: Die hab‘n einfach Angst.
Die haben Angst, dass
ihre Hilfe schaden könnte.
Frau B.: Ihnen selbst natürlich.
Die Frauen ab. Herr und Frau F. kommen mit
bequemen
Lehnstühlen heraus. Ein Tisch mit Kaffee und
Kuchen.
Alles sehr gemütlich. 1. und 2.Jug. kommen
mit dem
Tonbandgerät und stellen es auf.
1.Jug.: Heute
wohn‘ Sie beide noch
In einem dieser Plattenhäuser.
Stimmt das wirklich von den Frauen?
Haben die das aufgerichtet?
Und wie wohnt es sich darin,
Was für Gefühle haben Sie?
Was wussten Sie vom Lager nebenan?
Herr F.: Wir kannten damals nur noch Trümmer.
Unser nacktes Leben hatten wir
gerettet.
Sonst war alles weg, einfach weg.
Und hier bot man uns so ein Häuschen
an.
Ich kann‘s nicht anders sagen:
Neuer Anfang, Neubeginn.
Wir fühlten uns wie neugeboren.
Viele brachte man hier unter.
Große Firmen leiteten den Bau der
Häuser,
Und es gab viel Eigenhilfe.
Das weißt du doch auch.
Frau F.: Das stimmt.
2.Jug.: Und
über Juden, allgemein?
Was dachten Sie?
Herr F.: Ich hatte meine eigenen Gedanken,
Und ich glaubte nicht, was man mir
sagte.
Man traf überall auf Hass,
Der richtete sich gegen sie.
Man sagte so zum Beispiel,
Dass sie an den „Fäden“ zögen,
Ihre Finger hätten sie in jeder Sache,
Überall wär‘n sie mit drin.
Bevor man sie vertrieb,
War‘n sie als die Geschäftemacher
Und Besitzer aller Wäscherein und
Schuhgeschäfte
Überall verschrien.
1.Jug.: Verschrien?
War das denn schlimm?
Herr F.: Für viele war das Grund genug.
Sie wurden ja verfolgt,
Und fliehen konnten nur die wenigen mit
Bargeld.
Selbst für die war‘s schwer.
Man machte Jagd auf die und die
Und fing sie alle ein. Das war so.
Überall wo sich ein Schwarzhemd
blickenlassen konnte,
War das so.
Nicht nur bei uns.
War überall so.
Frau F.: Und die eingefang‘nen Juden sprachen doch
Oft unsre Sprache nicht.
Die kamen aus ganz andren Ländern.
Wenn man über die im Lager sprechen wollte,
Ging das nur im allerengsten Kreis.
Vielleicht in der Familie.
Aber manchmal war es sogar da nicht
möglich.
Jeder Außenstehende stand im Verdacht,
Uns zu verdächtigen.
Und Leute, die gesessen hatten, gab‘s
genug.
Das ging ruck zuck. Schon war man drin.
Und wenn man erst mal drin war, gute
Nacht.
Wer das nicht glauben wollte,
War ganz schlicht zu dumm.
Wir hätten nie mit den Insassinnen gesprochen.
Sprach man die mal an,
Nein, meistens war es umgekehrt,
Weil die ja bettelten,
Dann wurden sie misshandelt.
Schläge auf den Kopf und so.
Die mussten immer, immer arbeiten.
Das nahm kein Ende.
Ihre Häuser standen ja schon in zwei
Straßen:
Kritenbarg und Pfefferminzkamp.
Das sind kleine Straßen. Gibt sie heute
noch.
Die Häuser standen nur ein Jahr.
Nicht länger.
2.Jug.: Bis
auf dieses.
Das steht immer noch.
Herr F.: Am Ende, als der Krieg zu Ende war,
Zog keine von den Frau‘n hier ein.
Sie hätten sich ja kleine Siegeshallen
Daraus machen können. Aber nichts.
Die Frauen waren plötzlich fort.
Wohin sie gingen, wohin sie entlassen
wurden
Weiß kein Mensch.
Wir wissen nicht mal,
Frau F.: Ob sie nicht am letzten Tag noch umgekommen sind.
Hier waren sie total
verlassen.
2.Jug.: Und
das Lager war doch damals
Nicht zu überseh‘n.
Was wussten Sie davon?
Herr F.: Mein Gott! Wir wussten nichts.
Vermutet, ja; vermutet hat man etwas;
Aber nur vermutet. Nichts Genaues.
Und das eine dürft ihr nicht vergessen,
Wir befanden uns genau wie diese Frauen
In der Fremde.
Es kommen Insassinnen heraus mit Lappen an
den Füßen
und in Zementsäcken steckend.
Frau F.: Uns ging‘s ganz schön besser.
Weißt du nicht,
Dass die in Eiseskälte mit dem Plunder
an den Füßen
Ihre Arbeit machen mussten?
Kleider hatten die nicht an.
Die steckten in Papier!
Die steckten doch in Säcken vom Zement,
Die sind doch aus Papier.
Und darum zankten die sich noch.
Und schlafen mussten sie darin.
Ich hab‘s gesehen. Deren Haut war
Blank und grau wie Blei.
Es gab ja nicht mal Stroh.
Für die schon gar nicht.
Als sie alle fort war‘n,
Hab‘ ich mir das Ganze angesehen.
Hatten dort nur Pritschen. Mit nichts
drauf.
Ganz schrecklich.
Nein, die kannst du wirklich nicht mit
uns
Vergleichen.
Herr F.: Einmal hab‘ ich selbst was eingefangen.
Weiß nicht mehr warum.
Die wollten mich „kassieren“.
Frau F.: Das ist denen aber schlecht bekommen.
Hatten übersehen,
Dass du bei der Wehrmacht warst.
Da mussten sie ihn ganz schnell laufen
lassen.
Wisst ihr, wenn man bei der Wehrmacht
war,
War man geschützt.
Herr F.: Die Frauen, also die Bewacherinnen, waren ganz brutal.
Die schlugen in der Eiseskälte zu.
Die schlugen einfach drauf.
Da tat sich mancher Sprödbruch auf,
Und mancher neue Riss lief durch die Haut.
Frau F.: Und morgens gab es nichts. So wie ich‘s sag‘.
Die mussten hoch.
Buchstäblich mit dem Hahnenschrei.
Appell, dann ab.
Und bis zum Dunkelwerden nichts als
Arbeit.
Arbeit, Arbeit, Arbeit.
Harte Männerarbeit,
Darf man nicht vergessen.
Schwere Erdarbeiten.
1.Jug.: Floh
mal jemand? Gab es Flucht? Gab‘s das?
Frau F.: Du meine Güte, Flucht.
An Flucht war nicht zu denken,
Wohin hätten die wohl fliehen sollen,
Oder können.
Nein, nein.
Ein Bewacher kommt auf Frau F. zu. Frau F
spricht ihn an.
Frau F.: Was sind denn das für Frauen?
Wissen Sie woher die
kommen?
Bew’er.: Alles bestens, alles bestens.
Kümmern Sie sich nicht
darum.
Sie woll‘n doch nicht, dass man Sie
abholt, oder?
Sehen Sie.
Bewacher geht zur Seite. Frau F. winkt drei
Insassinnen zu.
Sie holt einen Topf und füllt nacheinander
Suppe auf einen Teller.
Frau F.: Zeit zum Löffeln gibt‘s da nicht.
Da war nichts mehr zu machen.
Ihre Suppe hab‘n die einfach
weggeschluckt.
Das dauerte Sekunden.
Eine nach der anderen.
Ich konnte ja nicht alle füttern.
Die Insassinnen fliehen wieder zurück.
Frau F.: Hier bei uns gab‘s etwa 150 Frauen.
Herr F.: Ob auch Judenfrauen drunter waren?
Keine Ahnung.
Hätten wir nicht wissen können.
Die war‘n stationiert im Lager.
Das war kein KZ, das war ein
Arbeitslager,
Wisst ihr.
Manchmal wurden welche abgeholt
Und andre kamen.
1.Jug.: Wohin
wurden die gebracht?
Herr F.: Die mussten wohl nach Ochsenzoll, denk‘ ich.
Das ist nicht weit von hier.
Da ging‘s in die Fabrik.
Da schmiedeten sie Hülsen für Granaten,
Oder bauten Panzerketten.
Keiner wusste das genau.
Auch heut‘ noch nicht.
1.Jug.: Wie
kamen die dahin? Marschierten die dahin?
Wie ging das.
Herr F.: Nein, die hatten eigene Waggons, ganz alte.
Von der Eisenbahn.
In jeden lud man bis zu fünfzig Frauen ein.
Inzwischen haben sich die Insassinnen
formiert und
stehen schwankend auf ihren Füßen.
Frau F.: Wir wissen nicht, ob alle wiederkamen.
Wenn die stehen, stehen sie auf wackeligen
Beinen.
Herr F.: Das kommt nicht von ihrer Fahrerei,
Das kommt von ihrer Schwäche.
Die sind doch nur noch Haut und
Knochen.
Jeder sieht es: die sind nur Haut und Knochen.
Vier Insassinnen stürzen sich auf einen
Abfallhaufen und streiten sich.
2.Jug.: Was
ist los?
Herr F.: Wir müssen zuseh‘n, wie sie sich
Um Reste prügeln, zanken.
Denen ist doch alles gleich.
Die stürzen sich auf jeden Unrat, Mist
und Abfall.
Alles wird durchwühlt.
Das ekelt alle an. Das ist ganz widerlich.
Dann gibt es einen Punkt,
An dem ist jeder abgestumpft.
Mal schreit die Wache.
Meistens ist es ihr egal.
Und wir Bewohner seh‘n schon nicht mehr
hin.
Wir waren alle abgestumpft.
2.Jug.: Hätt‘
man nicht helfen können, irgendwie?
Frau F.: Es ging nicht, und es war verboten.
War uns doch verboten,
was die sagten, galt.
Herr F.: Dann gab‘s auch noch die Propaganda.
Die hat alles klargestellt.
Das war die Stimme „unsres Volkes“.
Jeder hörte zu.
Die Stimme ging zu Herzen.
Alles, was die sagte, glaubten wir.
Stimme aus dem Lautsprecher.
Lauts.: Es
handelt sich bei diesen Menschen
Nicht um Menschen!
Das sind keine Menschen!
Das sind Untermenschen!
Herr F.: Und wir litten selber Not.
Man gab uns nur das Nötigste.
Das Volk erhielt nicht viel.
Wer aus der Wache stumpfe Pfeile machen
wollte,
Lenkte deren Wut nur auf die
Judenfrauen.
Hilfe war fast ausgeschlossen.
Manchmal stellten wir ganz einfach
etwas
Auf die Straße.
Wenn die Frau‘n das nehmen wollten und
sich bückten,
Schlug die Wache auf sie ein.
Wir haben die nie angesprochen.
Frau F.: …die uns auch nicht.
Herr F.: Waren ewig unter Wache. Nie alleine, nie allein.
1. Akt, 6. Bild. Der Kassenwart
Bühnenbild wie zuvor Es sind nur Jugendliche
auf der Bühne.
3.Jug. kommt mit einer alten Ladenkasse
angerannt, angeschleppt.
3.Jug.: Seht
mal was ich hab‘.
Die haben wir im Alstertal gefunden.
Ist kein bisschen Rost dran.
He, die funktioniert noch richtig!
3.Jug. stellt die Kasse mitten unter die
anderen.
Unbemerkt von allen kommt von der Baracke her
ein
Schwarzhemd langsam auf sie zu.
2.Jug.: Und,
was soll der Kram?
3.Jug.: Du
weißt nicht was drin steckt.
Drück auf die Taste.
Hau mal richtig drauf!
2.Jug. drückt kräftig auf die Taste. Die Kasse
springt mit einem hellen
Glockenton auf.
2.Jug.: Sieh
nach! Sieh rein.
Da drinnen liegt ein Buch
Und bisschen Kleingeld.
Kuckuck! Kuckuck! Kuckuck!
Hör doch auf.
Ein Buch? Tatsächlich!
Sind ja nur Belege.
Ah, hier ist ein Brief. Den meinst du?
‘ne Unterschrift.
3.Jug.: Die
Unterschrift vom Kassenwart.
Der hat den Brief geschrieben.
Die Jugendlichen erstarren nun.
Das Schwarzhemd steht vor ihnen und nimmt
ihnen den Brief aus der Hand.
Schw.: „Meine
Kasse hab‘ ich abgeschlossen, abgerechnet.
Nichts blieb übrig,
Außer einem kleinen Manko.
Das lass ich so stehen wie es ist
Und in der Kasse liegen.
Ich bin Kassenwart, die Kasse stimmt.
Ich hatte nichts, als diese Kasse.
Diese Kasse war mein Ein und Alles.
Ich bin Kassenwart, die Kasse stimmt.
Im Arbeitslager Sasel gilt die
Regelung:
Man hat mit den Insassinnen ganz
pünktlich
Zu beginnen.
Arbeitszeit beginnt bei Sonnenaufgang,
Endet mit dem Sonnenuntergang.
Ich bin nur Kassenwart,
Ich achte nur auf diese Regelung,
Damit die Kasse stimmt.
Als
Arbeit haben alle Inhaftierten
Schwerstarbeit zu leisten, wie zum
Beispiel
Trümmerräumen in der Innenstadt.
Dazu gehören Erdarbeiten für die
Plattenhäuser
Vor den Toren unsrer Vaterstadt, in
Sasel.
Ich bin Kassenwart. Zum Schluss soll
meine Kasse
Stimmen.
Diese Stadt soll keiner dieser Frauen
jemals
Stadt der Väter werden.
Dort am Pfefferminzkamp soll‘n sie
graben,
Fundamente ziehen und beginnen.
Ich als Kassenwart, muss meine Augen
Auf sie richten, dass die Kasse stimmt.
So haben sie im Kettenwerk von Langenhorn
Zu schaffen und sind in der Produktion
Für Hülsen von Granaten und Kartuschen
zu verwenden.
Ich, als Kassenwart, muss alle drängen,
Dass die Kasse stimmt.
Man hat die Frauen zu verbrauchen.
Sind erschöpfend zu verbrauchen.
Soll‘n als erstes zu den Plattenhäusern
Schienen legen, dass sie darauf Loren
schieben können.
Diese kleinen Wagen.
Das belastet meine Kasse sehr.
Denn ich, als Kassenwart, muss darauf
achten,
Dass die Kasse schließlich stimmt.
Ihr fangt mit euren Schienen an.
Am Bahnhof Poppenbüttel.
Wartet mir die Loren gut, und was
kaputtgeht
Müsst ihr selber reparieren.
Denkt daran: ich bin der Kassenwart und
sehe alles.
Weiter sind die Frauen für die
Atemschutzfabrik
In Barmbek vorzusehen.
Gummimasken soll‘n sie da verkleben.
Das bringt viel für meine Kasse.
Das ist gut, denn ich bin Kassenwart
Und muss auf diese Dinge achten.
Außerdem sind Bombenopfer einzusammeln,
Aufzulisten und in Ohlsdorf zu
begraben.
Diese Arbeit kann man uns‘re eignen
Frauen
Nicht verrichten lassen, das wär‘ eine
Schande.
Nicht nur für die Frauen.
Nein, das fiele aufs Regime zurück.
Beim Einsatz gibt es keinen
Unterschied.
Nicht zwischen männlich, weiblich,
krank, gesund.
Als Kassenwart muss ich auf alles
achten.
Wer fragt später schon nach irgendeinem
Grund?
Von mir will man doch nur das eine
wissen,
Stimmt die Kasse?
Also sind die Inhaftierten völlig
gleich zu setzen.
Sind einander gleichzusetzen!
Sonst ist jede Gleichheit zur
Bevölkerung
Natürlich ausgesetzt.
Und noch ein Punkt!
Bekleidung ist dem Ziel, den Häftling
auszuschöpfen
Anzupassen, sie muss dürftig sein.
Auf Arbeitsschutz soll ganz verzichtet
werden.
Das würd‘ meine Kasse auch nicht tragen
können.
Ich, als Kassenwart, müsst‘
protestieren.
Schließlich soll die Kasse ja Gewinn
ausweisen.
Das heißt das, wenn jemand sagt, wie
ich,
Die Kasse stimmt. Und meine Kasse
stimmt.
Es werden unverzichtbar Opfer
Unter ihnen sein.
Die soll man nicht beklagen
Sondern aus der Liste streichen.
So ist diese Regelung, die gilt für alle.
Es ist dabei gleich, ob es ein Unfall
Bei den Loren ist, in der Fabrik,
Auch wenn es einfach Krankheit ist.
1.Jug.: Die haben doch ein Totenbuch geführt.
Das liegt noch im Archiv.
Da wurden 35 einfach ausgestrichen.
2.Jug.: Passt die Totenliste rein.
Du weißt doch. Die sie
uns gegeben haben.
Schw.: Für
den Winter rechnen wir mit weiteren.
Die brauchen einzeln
nicht erfasst zu werden.
2. Jug.: Das sind Tiere!
Schw.: Ich
als Kassenwart, führ‘ nur die Kasse
Und die führ‘ ich richtig, dass sie
stimmt.
Dabei beruf ich mich auf unsren
Schwarzhemdhauptverwaltungsleiter Pohl.
Von dem kommt der Befehl.
Den les‘ ich vor und leg‘ ihn als Beleg
In meine Kasse:
Die Entscheidung über alles liegt beim
Lager.
Anvertraute Unvertraute sind
erschöpfend zu verwenden
Und im wahrsten Sinn des Wortes zu
verwerten,
Zu erschöpfen.
Höchstes Maß an Leistung ist im Lager
zu erreichen.
Die Ernährung ist dem anzupassen,
Nicht, um noch Reserven anzulegen.
Keine Vorratshaltung.
Beispiel Sasel lässt sich gut
verwenden.
Soweit der Befehl, soweit die Regelung.
Und nun zu meiner Kasse, dass man
sieht,
Wie abgerechnet wird, wie schwer es ist
Ein Kassenwart zu sein,
Dass schließlich alles stimmt.
Mich wird man später fragen, mich,
sonst keinen.
Lohn wird nicht gezahlt!
Nur so zahlt es sich aus.
Was übrig ist, wird abgeführt.
Ich bin da ganz genau.
Als Kassenwart wird man ja nicht
gefragt,
Wie man geschlafen hat, und wie‘s so geht!
Man will nur eines wissen, stimmt die Kasse?
Die Fabriken haben jeden Tag für jede
Frau
Vier Mark zu zahlen. Die sind
festgesetzt.
Das Geld erhalte ich, das geht in meine
Kasse.
Was ich kriege, führ‘ ich ab.
In einem Monat könn‘n es 50.000 Mark
sein.
Ja, bei fünfmal hundert Frauen.
Das ist Tagegeld. Das buche ich und
führ‘ es ab.
Gewissenhaft. Denn ich bin Kassenwart.
So füllt sich unsre Kasse.
Mit dem Geld verstärken wir die Kraft der
Wirtschaftsunternehmen, dieser und auch
andrer Art.
Dazu gehören auch private Unternehmen.
Und die Väter unsrer Stadt.
Die messen mit demselben Maß.
Für mich als Kassenwart ist das nicht
mehr so wichtig.
Weil ich nur die eine Sorge hab‘,
Dass meine Kasse stimmt.
1 .Jug.: Die Väter unsrer Stadt war‘n auch dabei?
2.Jug.: Na
klar, was denkst denn du.
Die haben den Gewinn gerochen.
1.Jug.: Die, als Väter unsrer
Stadt,
Vermaßen sich, mit diesem Maß zu messen?
2.Jug.: Und gewannen dadurch.
1.Jug.: Und verloren Unermessliches.
2.Jug.: Was die verloren, war für die nicht messbar.
1.Jug.: Und
die nannten sich die Väter unsrer Stadt.
2.Jug.: Die
waren viel beschäftigt mit Verstoßen
Und Vermessen sein.
3.Jug.: Die
Groschen in der Kasse sind nichts wert.
1.Jug.: Das
kannst du so nicht sagen.
Sie nehmen das Geld heraus aus der
Kasse und reichen es herum.
1.Jug.: Seht
euch doch das Geld an.
3.Jug.: Diese
Groschen sind ein Wert,
Den kann kein Mensch bezahlen.
Was der Kassenwart geschrieben hat,
glaub‘ ich,
Ist echt und wahr.
1.Jug.: Man
wünschte, dass es nie Papier
Für diese
Niederschrift hätt‘ geben müssen.
3.Jug.: Welch
ein Abgrund.
Jetzt sieht man ins Lager als in eine
Wechselstube, die das Blut direkt
In Groschen tauschte.
2. Akt, 1.Bild. Verkehrte Welt
Ein Klassenraum mit drei Gruppen: Die
Insassinnen,
die Bewacherinnen, die Erwachsenen aus Sasel.
Davor die Jugendlichen.
Frau K.: Damals hofften alle auf das Ende.
Irgendwie ein Ende.
Alle dachten so.
Und jeder dachte so auf seine Weise.
Man versprach sich ungeheure Dinge,
Wenn das Ende kommen würde.
Endlich würd‘ man
wieder Seife haben.
Bew’in.: Die Bevölkerung sah uns mit schiefen Augen an.
Wir taten auch nur unsre Pflicht.
Frau K.: Von Ihnen wussten wir doch gar nichts.
Die da drüben. Denen ging es wirklich
schlecht.
Das Ende dieses Krieges
War noch lange nicht das Ende,
Und der Anfang dieses Endes
War für viele noch das Ende.
In den letzten Tagen brachte man von
denen
Wieder welche weg nach
Bergen-Belsen.
Bew'in.: Ist doch alles Unsinn!
Frau K.: Woll‘n Sie etwa leugnen?
1.Ins.: In
den letzten Tagen flohen einige von uns.
Die
brachen einfach aus.
Bew’in.: Das hätten die doch nie geschafft.
Frau K.: Das wissen alle noch.
Es treten mehrere Insassinnen auf,
zusammengepfercht
von zwei Bewacherinnen.
Ein Polizist stellt sich ihnen in den Weg.
Pol.: Wo
soll‘n denn die noch hin?
Bew’in.: Die werden überführt.
Pol.: Dann
muss ich die Papiere sehen.
Gibt's Papiere?
Bew’in.: Jetzt Papiere? Mann, wo leb‘n Sie denn.
Wir haben Krieg!
Pol.: Natürlich,
hab‘ ich mir gedacht.
Einige der Insassinnen brechen in diesem
Augenblick
aus und können fliehen. Der Polizist tut
nichts.
Bew’in.: Sie sind verrückt!
Wohl wahnsinnig geworden?
Die hau‘n ab! Die fliehen! Sie, die
fliehen doch!
Gruppen wieder ab.
Frau K.: Der Polizist wird später
Von der englischen Besatzungsmacht verurteilt.
Das verstand kein Mensch.
Wir fragten alle nach den Gründen.
Niemand konnte das verstehen.
Aus der Gruppe der Bewacherinnen springt eine
auf
und beginnt einer der Insassinnen die Lumpen
vom Leib zu reißen.
Ihre eigene Kleidung wirft sie der vor die
Füße.
Sie zieht die Lumpen an.
Frau K.: Das ist typisch.
Denen sitzt die Angst im Nacken. Die
flieht sicher.
Die Besatzungsmacht soll kommen.
Na, die fängt sie sicher wieder ein.
Wir haben einige von ihnen aus der
„Alten Mühle“
Rausgeholt.
Bew’in.: Zieh‘ die Klamotten aus! Gib her.
Kriegst meine Sachen. Los beei‘l dich,
mach schon zu.
Gib her. Na gib schon! Gib schon her!
Bew’in. flieht. Insassin hängt sich die
Kleidung über.
Frau K.: Das Frühjahr war vier Wochen alt....
2.Ins.: Ich
weiß, und trotzdem weiß ich nichts...
Frau K.: Es war genau vier Wochen alt,
Da starben in dem Lager etliche der
Frauen.
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