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Harald Birgfeld, Webseite seit 1987/ Website since 1987 …da liegt mein Herz, Geschichten aus Niemandsland 2022 -2024 (im
Entstehen) z.B.: 100 Jahre „Kafka“, eine herrenlose Fundsache (neu) |
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GESCHICHTE EINES
AUSSENLAGERS, KZ SASEL *)
Theaterstück
*) In Anlehnung an: „Geschichte eines Außenlagers,
KZ-Sasel“,
Freie und Hansestadt Hamburg, 1982
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Harald
Birgfeld
Copyright 2019 beim Autor, Harald
Birgfeld. Alle Rechte vorbehalten.
Harald Birgfeld, geb. in Rostock, lebt seit 2001 in 79423
Heitersheim. Von Hause aus
Dipl.-Ingenieur, befasst er sich seit 1980 mit Lyrik.
In
mindestens 23 Anthologien ist
er vertreten.
Harald Birgfeld schrieb seine Gedichte sowie dieses Theaterstück
überwiegend während der Fahrten in der Hamburger S-Bahn zur und von der Arbeit.
Im vorliegenden Theaterstück wird in Anlehnung an
„Geschichte eines Außenlagers KZ Sasel“
der Freien und
Hansestadt Hamburg, der Behörde für Schule,
1982, versucht nachzuerzählen, was sich im KZ Sasel in den letzten Kriegsjahren
ereignet hatte. Es ist wichtig, der Jugend immer wieder davon zu berichten. Die
Form eines bereits erschienen Epos sowie dieses Theaterstück scheinen dem Autor
dafür dauerhafte Möglichkeiten zu sein.
Aus dem
Gutachten, 1986, einer an der Universität Freiburg tätigen
Literaturwissenschaftlerin:
"Es
lohnt sich, einmal einen heutigen Dichter kennen zu lernen, der mit der
deutschen Sprache einen faszinierend fremden Weg betritt und trotzdem dem Leser
Freiraum lässt für eigene Gedankengänge, ohne dass die Probleme in erhobener
Zeigefingermanier zu zeitkritischen Trampelpfaden werden."
Herausgeber, Autor, Redakteur: Harald
Birgfeld.
e-mail:
Harald.Birgfeld@t-online.de
Im Internet unter :
www.Harald-Birgfeld.de
Buchumschlag: Harald
Birgfeld
In dem Stück kommen vor:
1. Jugendliche, Mädchen (1.Jug.) 2. Jugendlicher, Junge (2.Jug.) 3. Jugendlicher, Junge (3.Jug.) 1. Insassin, (1.Ins.) 2. Insassin, (2.Ins.) 3. Insassin, (3.Ins.) 4. Insassin, (4.Ins.) 1. Stein 2. Stein 1. Verkäuferin (1.Verk.) 2. Verkäuferin (2.Verk.) 1.Häftling 2.Häftling Bewacher (Bew’er.) Bewacherin (Bew’in.) Schwarzhemd, (Schw.) |
Frau B. Schwester Frau B. (Schw. Frau B.) Frau D. Frau D. Frau E. (1) Frau E. (2) Frau F. Frau H. Frau I. Frau K. Frau P. Frau R. Frau U. Frau Y. Frau Z. Dr. Y. Dr. Z. jr. Dr. Z. sen. Probst H.P. (Pr.) Drei Frauen: 1.Frau, (1.Fr.) 2.Frau, (2.Fr.) 3.Frau, (3.Fr.) |
Herr B. Herr F. Herr K. Herr N. Herr P. Herr X. Herr Y. Junge, (Ju.) Karrenschieber Kleines Mädchen (Mäd.) Kusine (Kus) Lautsprecher, (Laut.) Lena G. Maria, Sulejka Offizier Pol. (Polizist) |
Und einige andere.
Die Bilder in der Reihenfolger
1. Akt |
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Urgespräche |
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Totenkammern |
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Gebot der Steine |
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Spottdrossel |
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Ein Interview |
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Der Kassenwart |
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2. Akt |
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Verkehrte Welt |
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Sulejkas Tod |
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Singsang |
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Wen klagt ihr an |
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Unsre eigenen Probleme |
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Lena G.: „Frauen müssen Frauen helfen“ |
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3. Akt |
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Im Gnadenfutter |
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Wir wollen einmal unsre Ruhe haben |
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Schiff der Hoffnung? |
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Ein langer Schlaf |
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Die Obrigkeit hat gratuliert |
Auf der linken Seite der Bühne befinden sich
Jugendliche,
auf der rechten Seite ältere Erwachsene mit
Briefen und Zetteln in der Hand.
Zwischen den Gruppen befindet sich ein Zaun
der reicht bis an die Decke.
Man könnte ihn allerdings seitlich umgehen.
1.Jug., ein Mädchen,
2.Jug., ein Junge.
Die Jugendlichen versuchen ein Gespräch mit
den Erwachsenen.
1.Jug.: Frag doch die.
Die sind doch alle aus der Zeit.
2.Jug.: Die würden uns auch grad was sagen,
Das
hat keinen Sinn.
Da
kannst du gleich mit Steinen sprechen wollen.
Denen
hält doch das Gewissen
Beide
Hände auf den Mund.
1.Jug.: Die soll‘n sich nur erinnern,
Soll‘n
uns sagen wie es damals war,
An
was sie sich erinnern können.
Hab‘n
doch hier gelebt, im Alstertal in Sasel.
Gehen
immer noch durch ganz genau
Dieselben
Straßen.
Soll‘n
sich nur erinnern.
Herr X.: Unsre Jugend hat ein Recht darauf
Von
uns zu hören, wie es damals war.
Ich
möchte endlich einmal drüber reden können.
Niemand
spricht davon.
Die
reden alle immer nur drum rum.
Ich will euch sagen, was
ich weiß
Und
wie es war.
Die
Schwarzhemdtyrannei war schlimm
Als
sie in Blüte stand.
2.Jug.: Das
ist schon wieder so‘n Gewäsch.
Das
woll‘n wir gar nicht wissen.
Keiner
will das wissen.
Was
wir wissen wollen, ist
Wie
es in Sasel war nur hier, an dieser Stelle.
Was
Sie davon wissen,
Was in diesem Nest geschah.
Genau. Was hier geschehen ist.
Wir
können es uns nicht erklären,
Sagen
Sie uns, was Sie davon wissen.
Alles
andre schlagen wir in Büchern nach.
Frau U.: Es ist doch immer gleich.
Nun will man mal erzählen, und was ist?
Die hör‘n noch nicht mal zu
Ich bin Frau U.
Ich könnte euch sehr viel erzählen.
Hier in Sasel war die Welt noch nicht zu Ende.
Jeder denkt, die großen Schrecken
Waren nur an großen Plätzen.
Nein, sie kamen bis zu uns.
Sie krochen in die letzten Ritzen
Und versteckten sich in jedem Winkel.
Denkt nur an die Bombennächte überall.
Ich geb‘ es zu:
Wir hatten unsren eig‘nen Schrecken,
hier im Dorf,
An unsrer Seite.
Ja wir wohnten Tür an Tür mit ihm.
Der Schrecken wohnte unter uns,
Er ging in unsrem Dorf spazieren.
Leider haben wir sehr oft nicht
hingesehen.
Frauen waren es, sehr viele Frauen,
Bis zu fünf Mal hundert Frauen,
Die den Schrecken so spazieren tragen
mussten,
Davon wollt ihr hören, ja?
Den Frauen ging es schlecht, sehr
schlecht.
Ihr wollt ja alles wissen,
Fragt und fragt und fragt.
Die Frauen damals hatten auch gefragt.
Naja, das klärt heut‘ niemand auf.
Die standen dauernd unter Wache.
„Schwarze Hemden“ standen überall
herum.
Ein Schwarzhemd kommt
herein, ein völlig schwarz gekleideter Mann (Schw.).
Er hat ein Rutenbündel
im Arm. Daraus schimmert eine blanke Axt.
Er geht auf Frau U.
zu.
Frau U.: Ich war so jung wie ihr.
Frau U. nimmt ihr
Kopftuch ab. Sie ist jetzt ein junges Mädchen.
Frau U.: Das Reich der tausend Jahre ging zu Ende.
Damals war es niemandem genau bewusst.
Ich war Studentin.
Schw.: Du
bist doch das Fräulein U.?
Studentin?
Frau U.: Ja, das stimmt.
Schw.: Naja,
damit ist erst mal Schluss.
Jetzt müssen alle helfen,
Auch die Frauen und die jungen Mädchen.
Studium wird hintenan gestellt.
Ist eine Art von Kriegseinsatz.
Du brauchst dafür nicht in den Krieg,
Verstehst du mich? Sei froh.
Du kannst noch wählen.
Frau U.: Ich soll wählen? Was denn.
Schw.: Zwischen
Kettenwerk der Munitionsfabrik
In Ochsenzoll, naja, und Schaffnerin
Auf einer Straßenbahn.
Frau U.: Als Schaffnerin auf einer Straßenbahn?
Die hat doch keinen Bunker.
Soll ich meine Angst spazieren fahren?
Hin und her?
Das mach ich nicht. Nein.
Sagen Sie, die anderen,
Was machen denn die anderen?
Schw.: Die
geh‘n in die Fabrik.
Die meisten jedenfalls.
Du brauchst auch keine Angst zu haben.
Er lacht.
Schw.: Eher
ist es umgekehrt.
Die in der Munitionsfabrik, die haben
Angst vor euch.
Frau U.: Vor uns? Warum.
Schw.: Weil
ihr von gar nichts eine Ahnung habt.
Ihr müsst ganz schnell vergessen,
Was ihr wisst. Das braucht dort keiner.
Was ihr wissen müsst, bring‘n die euch
bei.
Frau U.: Was soll‘n wir da denn naschen?
Schw.: Produzieren!
Produzieren!
Hülsen für Granaten.
Ihr lernt schnell. Drei Wochen
höchstens.
Dann seid ihr dort Meister.
Frau U.: Hülsen für Granaten? Lieber Gott!
Das Schwarzhemd geht fort. Frau U.
bindet das Kopftuch wieder um.
Frau U.: Wir Mädchen damals waren „ordentlich“.
Heut ist das völlig anders.
Wir versteckten unsre Reize
„ordentlich“.
Als der mich angesprochen hatte, dachte
ich,
Dass sich die Winzigpunkte schwarzer
Hemden,
Die einst ineinander liefen,
Nun im Raster wieder aufzulösen
schienen.
Nein, ich hatte nicht damit gerechnet,
Doch noch in die Munitionsfabrik zu
müssen.
Dann sagt der auch noch, ich könnte
wählen.
Ja, ich hatte längst gewählt.
Verliebt war ich. In jemanden verliebt.
Das war sofort vorbei.
Das hätt‘ ich dem nie sagen dürfen.
Wenn ich schon verlobt gewesen wäre,
wenigstens verlobt.
Das wär vielleicht ein Unterschied gewesen.
Das wär‘ jedenfalls wie die es sagten
„Ordentlich“ gewesen.
Das versteht ihr heute nicht.
Ist besser so. Ist sicher besser so.
Ihr wurdet nie getötet, nie beraubt,
Beplündert mit Gesetz und Ordnung.
Alles, was ich weiß will ich erzählen.
Viel wird man noch schreiben und
erzählen müssen,
Bis man‘s irgendwann vielleicht
versteht,
Erkennt und das Erkennen lernt,
Wenn es noch nicht zu spät ist.
Damals dachte ich die Angelegenheit
beträfe
Mich persönlich, ganz persönlich.
Heute weiß ich auch,
Dass es natürlich nicht nur mich
betraf.
2.Jug.: Sie
haben recht.
Wir leben hier in Watte.
Seh‘n Sie uns doch an.
Wir leben in Ansorge, völlig ohne
Sorgen.
Unser Garten ist ein Paradies.
Das heißt, es könnte eines sein,
Wenn wir nicht wüssten, was hier vorher
war.
1.Jug.: Es
geht um uns.
Um junge Menschen.
Es macht allen von uns Sorge,
Dass wir ohne Sorgen sind.
Verstehen Sie? Wir möchten uns
vermissen können.
Doch wie sollen wir,
Wenn wir uns niemals umeinander sorgen
können.
2.Jug.: Unser
Heim liegt mitten
In der grünen Landschaft,
Aber die ist gar nicht grün für uns.
Wie soll‘n wir es erkennen,
Wenn wir doch vom toten Grau des
Grauens,
Das vor uns hier war, nichts wissen.
Immer endet alles an dem Zaun. Und
dann?
1.Jug.: Das
Alstertal ist unser Leben.
Wenn wir nicht die Zeugen hätten,
Unsre Steine, wüssten wir von all dem
wenig.
Sie geht auf einen Findling zu.
1.Jug.: Unsre
Steine waren Augenzeugen
War‘n schon damals da.
In ihnen stecken die Gespräche immer
noch.
Da drinnen ist das erste Echo.
Aber alles eilt und drängt.
Wir kommen fast zu spät.
In ihnen hat sich alles auf‘s
Vergessenwerden
Vorbereitet.
2.Jug.: Was
wir wissen, wissen wir von unsren Steinen
Und,
Zu den Erwachsenen gewandt.
2.Jug.: Ihr
sollt uns helfen,
Dass wir auch verstehen, was die uns
erzählen.
Alles, was die reden
Müssen wir erst übersetzen lassen.
1.Jug.: Wo
wir stehen, stand zuvor ein Lager.
Das war aufgestanden und danach
zerfallen,
Bis auf einen Rest. Geblieben sind die
Steine.
Die sind nass von immer neuen Tränen,
Und sie sind so grau,
Dass man um sie herum das Grün erkennen
kann.
2.Jug.: Hör‘
auf! Das ist Geschichte. Bla, bla, bla... .
1.Jug.: Wir
wissen noch viel mehr von ihnen.
2.Jug.: Ja,
dass sie in Rätseln sprechen.
Oder kannst du sagen, was sie meinten,
Ale sie sagten:
„Grau wird sich noch schrecklich
Mit dem Rot vermischen
Dass man auf das Grün,
Um dessentwillen ihr mit uns, den
Steinen, sprecht,
Wird kaum noch hoffen können“.
1.Jug.: Warte
ab.
Da
drüben steh‘n ja die, die leben, überlebten.
Ein Erwachsener kommt mit einer Liste,
die er gerollt durch den Zaun schiebt.
Frau I.: Diese Liste haben wir in Bergstedt
Unter einem Stein gefunden.
Darin müsst ihr lesen. Alles Namen…
1.Jug.: Eine
Liste?
Herr X.: Eine Totenliste.
Dass die alle tot sind, weiß sonst
niemand.
Offiziell hab‘n die noch nicht mal
existiert.
Ihr müsst uns eins versprechen.
Alle Erwachsenen:
Niemals dürft ihr unsre Namen nennen.
Nein, wir wollen nicht, dass ihr nach unsren
Namen fragt...
Alle Erwachsenen:
Wir sagen sonst kein Wort.
Wir woll‘n ja gerne helfen,
Aber namenlos.
2.Jug.: Bei
uns wird keiner angeklagt.
Mein Gott.
Wir sprechen nicht von Schuld.
1.Jug.: Von
uns wirft keiner einen Stein.
Ihr seid doch hinter diesem Zaun.
Ihr wärt doch nie gekommen,
Wenn wir diesen Zaun nicht hätten.
Herr X.: Wir, Frau U., Frau I., Herr D.
Und alle andren wollen nicht,
Dass Bilder, die wir zeigen,
Letzten Endes doch belichtet werden.
Das hat nichts mit Schuld zu tun.
Ihr müsst uns auch verstehen.
Alles ist erst fünfzig Jahre her.
In uns lebt noch der Schrecken.
Tag für Tag.
Die wahre Sonne
Scheint uns allen nicht zu scheinen.
Alle Erwachsenen:
Uns scheint keine wahre Sonne.
Frau I.: Ihr wärt uns zum Steinewerfen viel zu jung.
Und ihr habt recht,
Es steht der Zaun dazwischen.
Ich bin außerdem zu alt dafür,
Vielleicht auch nur zu müde.
Überhaupt trifft man mit Steinewerfen
Ausnahmslos die Falschen.
Und sich selbst
bewirft man nicht.
Und Spiegel stellte
keiner auf.
2.Jug.: Die
Steine sprechen wieder.
Alles, was' sie sagen
Übersetzen sie uns
Aus Liszkowski in die Gegenwart.
1.Stein: Von der Geburt der Schwarzhemdtyrannei.
Das ist nun fünfzig Jahre her.
Wir reden so.
Wir sagen, die Geburt war eine
Sonnenfinsternis,
Die fing mit einer Sonnwendfeier an.
Die feierte das ganze Land.
Man ließ die Feuerräder von den Bergen
laufen.
Damals staunten viele über diese Wende.
Wir, die Steine, haben es gehört...
Herr X.: Es sind nur wenige von denen damals
Nachgeblieben.
Außer uns sind doch nicht alle tot?
Ein Jammer, welch ein Jammer.
1.Jug.: Was
bejammert er denn nun?
1.Stein.: Wir reden so.
Vor fünfzig Jahren hatten die,
Die in der Krippe lagen
Sich als Wunder der Natur allein
gezeugt,
Allein aus sich heraus geboren.
Anfangs haben sie sich auch allein
genährt,
Doch dann, in einer Folge rascher
Dieberei,
Die Brüste junger Mütter andrer Kinder
ausgetrunken.
Und sie, wenn die Mütter schrien,
Gezwungen sie zu säugen,
Bis zu deren Tod.
Sie tranken auch die fremde
Muttermilch,
Wenn sie nicht mehr zu trinken war.
Sie, so sagen wir, die Steine,
Wählten sich alleine aus.
Als Zeichen hatten sie die Axt,
Die trugen sie versteckt im
Rutenbündel.
Die, die diese Axt entdeckten,
Sahen sie fast immer viel zu spät.
Die andren sahen nichts,
Und viele sahen nicht in das Versteck.
Sie waren ausgewählt.
Wir Steine sagen, dass die Ausgewählten
Schon bekleidet auf die Welt gekommen
sind.
Sie trugen unter ihrer Haut die
schwarzen Hemden
Als ein Fruchtbarkeitssymbol
Die wurden später sichtbar.
Ihre Hemden legten sie nie ab.
Die Schwärze war ein Panzer,
Der das Überleben garantieren sollte
Und der die Verbreitung sicherte und
ihren Fortbestand,
Den planten sie sofort
Auf über tausend Jahre.
Im Hintergrund eine kümmerliche Baracke,
davor Stacheldraht.
Links vorne, wie in einem Versteck die
Jugendlichen,
rechts genauso die Erwachsenen.
In der Baracke drei jämmerlich bekleidete
Frauen.
2.Jug.: In
die Steine fragen! So ein Unsinn!
So
kommt man doch überhaupt nicht weiter.
1.Jug.: Steine
kann man nicht befragen
Man
muss sie belauschen.
Steine
führen ihre eigenen Gespräche, Urgespräche,
Und
sie haben frische Narben.
2.Jug.: Tausend
Jahre sind doch für die Steine
Gar nichts.
Stell dir vor, die mussten sich
Den ganzen Unsinn anhör‘n
Den die schwarzen Hemden sagten.
1.Jug.: Meinst
du, weil sie tausend Jahre leben wollten?
2.Jug.: Ist
doch klar.
Das
bringt die Steine nur zum Lachen.
1.Jug.: Stell
dir vor, die Steine lagen damals
Ganz
genau wie jetzt.
2.Jug.: Mit
diesen Hütten drauf.
Von den Erwachsenen kommt Frau I dazu.
Frau I.: Ich seh‘ es noch vor mir, als wär es heut‘.
Die Steine lagen vor dem Eingang zu der
Villa
Auf der andren Seite.
Alles spielte sich vor diesen Steinen
ab.
Herr X.: Und auch darauf!
Von
dort hielt man die „Reden an das Volk“.
Frau I.: An diese Kreaturen.
Herr X.: Jede, die hierher kam, machten sie dazu.
Ja, wirklich, Kreaturen waren sie.
Kein Mensch, der ihnen half.
Frau I.: Da, in der Villa, wohnten die Bewacher.
Frau U.: Alles Schwarze Hemden.
Herr X.: Lebten da mit ihren Schwarzhemdfrauen.
Frau U.: Und ganz oben wohnten die drei Könige,
Herr
P., Herr T., Herr T.
Die
wechselten sich täglich ab.
Herr X.: Sie waren die Bewacher über den Bewachern.
Täglich zogen sie nach drüben hinter’n
Stacheldraht.
Die Frauen waren dann schon lange
draußen.
Frau I.: Wenn man nur bedenkt,
Dass in den kleinen
Räumen bis zu
Fünfmal hundert Frauen leben mussten.
Herr X.: Leben konnte man das nicht mehr nennen.
Leben konnte man dort nicht.
Bewohnen konnte man nicht einen Meter.
Die behausten und belebten diese
Schreckenskammern.
Frau I.: In den Büchern heißen sie lakonisch:
Die Insassinnen.
Herr X.: Nein, die belebten nichts.
Die konnten diese Räume nur besterben.
Sechs von den Baracken standen hier.
Das Schwarzhemd tritt auf und stellt
sich auf den Stein.
Schw.: Hört
her!
Damit ihr wisst, worum es geht.
Ist ein Befehl aus Neuengamme! Äh, äh,
äh...
Ich les‘ nur das, was wichtig ist...
Ihr sollt hier Heime für die Not
errichten.
Durch die Bomben unsrer Feinde...
Na, das geht euch auch nichts an, äh,
äh
Ihr sollt hier Plattenhäuser bauen...
Klar, mit Fundamenten. Klar.
Dann müsst ihr in die Ziegelei zur
Arbeit.
Auch klar, und ihr sollt... ganz
klar....
Die Trümmer zu beseitigen...
Im Falle eures eignen Todes haben wir
euch
Zu beseitigen...ist auch ganz klar..
Ach, wichtig! Jetzt hört zu!
Von euch darf keine, na ich pass ja
auf..
Ihr habt euch also streng daran zu
halten.
Niemand darf Kontakt zu der
Bevölkerung...
Und die natürlich nicht zu euch..
Die werden alle hart bestraft..
Ihr habt euch streng von denen
abzuschnüren,
Nicht ein Wort zu denen!
Wie ihr wisst, lebt die Bevölkerung
Sehr nah an uns.
Ihr richtet euch danach!
Und denkt daran:
Dies Lager ist noch praktisch neu.
Erst seit August. Ihr seid die ersten.
Ja, in diesem Jahr.
August des Jahres 1944....
Arbeitslager…..Arbeitslager…
Herr D.: Und es war das letzte eures Tausendjahrereiches.
Arbeitslager!!!
Nein, ein Arbeitslager war es sicher
nicht,
Bestimmt nicht.
Schwarzhemd tritt ab.
Frau I.: Nächstes Jahr im Mai war alles aus.
Es wurde wieder abgerissen.
Frau U.: Bis auf eine Hütte. Die steht heute noch.
Ich glaube eine Frau wohnt drin.
Ich bin nicht sicher.
2.Jug.: Mai,
der Wonnemonat.
1.Jug.: Dieser
Mai war keiner mehr ein Wonnemonat.
2.Jug.: Da
kam die Befreiung,
Wenn das keine Wonne war?
1.Jug.: Ein
Wonnemonat ist doch ganz was anderes.
Die Insassinnen waren doch fast tot.
Das könn‘n wir, glaub‘ ich,
Gar nicht nachempfinden.
Herr X.: Unsre Jugendlichen..
Frau U.: Waren Sie nie jung?
Herr D.: Ich weiß, dass diese Frauen wirklich
Kleine Siedlungshäuser bauen mussten,
Und sie bauten.
Herr X.: Keine Siedlungshäuser, sondern Plattenhäuser
Für die Ausgebombten.
Von dem Lager gab es einen Lageplan.
Herr D.: Natürlich.
Aber von der Totenliste
Hab‘ ich in den Protokollen nichts
gelesen.
Stellen Sie sich vor!
Darauf sind 35 Namen. Alles Tote.
Und kein Mensch, der davon weiß.
Und dann spricht der von einem
Arbeitslager.
2.Jug.: Er
hat recht.
Die Steine haben davon nichts gesagt,
Es nicht einmal erwähnt.
1.Jug. Sie
müssen sich erinnern,
Wenn sie so was können.
2.Jug.: Sich erinnern,
Ohne sich an etwas zu erinnern,
Das ist Art der Steine.
1.Jug.: Oder das Vergessen einfach wollen.
Alles damals war so
nah am Ende.
2.Jug.: Dass der Krieg zu Ende ging,
Erfuhr doch keiner.
1.Jug.: Sicher hofften es die meisten.
2.Jug.: Die mit ihren schwarzen Hemden
Fürchteten bestimmt den Tag.
Die wollten nicht dran glauben.
Auf der Bühne wird es dunkler und die Baracke
wird in einen hellen
Lichtkegel getaucht. Frau B. tritt auf.
Frau B.: Ich bin Frau B.
Ich rede nicht von dem
Was man Gewissen nennt,
Und die Geschichte mit der Schuld
Hab ich nie ganz verstanden.
Frau B. zeigt zu den Jugendlichen.
Frau B.: Ihr da drüben wollt ja Einzelheiten hören.
Was ich meine sind nicht Einzelheiten
Sondern Glieder einer bösen Kette.
Frau B. macht ihre Haare auf. Sie ist jetzt
eine junge Frau.
Frau B.: Peter! Peter! Was ist das für Licht!
Das ist doch streng
verboten. Sieh mal hin!
Der Mann von Frau B. tritt auf.
Herr B.: Tu‘s lieber nicht. Wir sehen nichts.
Frau B.: Da draußen, auf dem Feld ist alles hell erleuchtet.
Herr B.: Das geht uns nichts an.
Frau B.: Was uns im Dorf verboten ist,
Ist auf dem Feld erlaubt?
Herr B.: Sei still.
Sprich wie die and‘ren
Hinter vorgehalt‘ner Hand.
Daher sind doch die Frauen,
Die die Häuser bauen müssen.
„Plattenbüttel“. Na? Kapiert?
Die müssen Unterkünfte bauen für die Menschen,
Die nicht unterkommen.
Ausgebombte!
Diese Frauen dürfen selbst natürlich
nicht dahin.
Frau B.: Das weißt du alles?
Warum hast du mir das nie erzählt?
Weißt du noch mehr? Erzähl‘.
Es hört doch keiner zu.
Herr B.: Ist vielleicht besser so.
Dann weiß ich‘s nicht allein.
Komm her. Ich zeig dir was. Komm mit.
Sie gehen an eine Stelle wo ein langes weißes
Tuch
über eine Bodenöffnung gelegt ist.
Herr B.: Du weißt, ich bin gewissenhaft.
Das Grabbuch für den Friedhof Bergstedt
Führ‘ ich nun schon all die Jahre.
Ich, kein anderer, darf etwas darein
schreiben.
Und es steht tatsächlich auch nichts
Neues drin.
Von mir nicht
Und von keinem anderen.
Und nun sieh hin.
Er zieht das Tuch beiseite.
Herr B.: Sieh in die Grube.
Frau B.: Ist das da ein Grab? Mein Gott ein Grab. So lang.
So viele Beine.
Sind das alles Tote? Tote Frauen?
Liegen die auf Stroh? Auf weiter nichts?
Herr B.: Das Grab mit all den Frauen hab‘ ich so gefunden
Wie du es hier siehst.
Die sind hineingeworfen worden.
Frau B.: Die sind nur noch Haut und Knochen.
Und die Köpfe!
Herr B.: Alle kahlgeschoren. Schlimm.
Die armen Menschen.
Wer hat die hierher geschafft.
Ich kann es nicht begreifen.
Frau B.: Weißt du auch wie viele darin liegen?
Herr B.: Nein, nein. Weiß ich nicht.
Sind alle namenlos.
So kahlgeschoren.
Was bleibt einem Menschen,
Wenn man ihm die Haare raubt.
Sie liegen an der Friedhofswand.
Da dürfen keine Gräber sein.
Frau B.: Brutal.
Dahinter schließt sich doch der Gasthof
an,
„Zur Linde" nicht?
Herr B.: Ich hab‘ gehört, dass eine wie die andre
Jüdin sei.
Ein Gärtner hat‘s erzählt.
Der hat das Grab geschaufelt.
Herr B. tritt wieder zu den Erwachsenen.
Frau B erzählt weiter und steckt dabei ihre
Haare wieder auf.
Frau B.: Selbst im Grab ließ man die Frauen
Nicht in Ruh‘.
Man schaufelte es nicht mal zu.
Sie wurden selbst der Ruhe in dem Grab
beraubt.
Man nahm sie wieder raus.
In einer Nachtaktion hat man sie gleich
danach
Herausgenommen. Einfach so.
Sie waren plötzlich wieder fort.
Es lag nur noch das Stroh im Grab.
Für die gab‘s wirklich keine Ruhe.
In den Tod gejagt, getrieben
Jagte man sie nach dem Tod in einen
neuen Tod
Und aus dem Grab heraus.
Wir
konnten ihren Weg nicht mehr verfolgen.
Frau B. geht zurück zu den Erwachsenen.
2.Jug.: Ich bin wie benommen.
1.Jug.: Mir ist richtig schlecht geworden.
Von den Erwachsenen kommt Frau E.
Sie hat einen Korb mit Äpfeln und Brot. Davon
versteckt sie in einem Gebüsch.
Frau E.: Damals, als man sie dann freiließ,
Das war viel, viel später,
Aber mir fällt‘s jetzt grad‘ ein...
Das Lager war ganz dicht an unsrer
Gartengrenze.
Deren Grenze grenzte gleich an unsren
Zaun.
Ich hatte oft, so oft es ging, in einer
Hecke
Brot und Äpfel für die Frau‘n versteckt.
Die haben‘s sich geholt, ganz heimlich,
Haben‘s gleich gegessen oder
mitgenommen.
Als man sie dann freiließ...
In der Baracke stehen die Frauen auf und
kommen auf Frau E. zugelaufen.
Herr B.: Wenn ich mich daran erinner‘,
Die Insassinnen bestürmen sie.
1.Ins.: Das ist sie, die hat uns auch geholfen.
1.Ins. küsst Frau E. die Hand.
Die anderen Insassinnen hängen ganz schnell
drei,
vier schwarze Hemden auf eine Wäscheleine.
2.Ins.: Mein
Freude...Nein..Du Freundin...
Du uns Kleider geben..
Du nicht Kleider schwarz, nicht rot,
nicht braun.
Du mich sehen? Hab‘ ich Zahne? Alles
Gold?
Alles nicht kaputt.
Du mich glücklich.
Frau E.: Ja, ich geb‘ euch Kleider.
Die könnt ihr von mir
aus haben.
Frau X gibt jeder ein Kleid.
2.Ins.: Ich Paris, Franzosin.
Ich Geschäft Paris. Du viel Geschenke:
Seife, Seife. Du Parfum.
Ich danken, danken!
Die Frauen gehen wieder in die Baracke
zurück.
Sie legen die Kleider wieder weg und nehmen
die Hemden von der Leine.
Frau E.: Nein, es war noch lange nicht so weit.
Es fiel mir auch nur
ein.
An Seife dachten alle.
Reinigung des Leibes.
Jeder dachte an die Reinigung des
Leibes.
Nein, es war noch lange nicht so weit.
Von den Erwachsenen stürzt Herr X. auf
Frau E. zu.
Herr X.: Gefang‘ne fliehen aus der Stadt. Aufs Land!
Zu uns !
Frau E.: Zu uns?
Herr X.: Es heißt, ein Mann aus unsrem Dorf
Hilft ihnen.
Hat vier Wagen voll mit Frauen,
Die er nach hier draußen schaffen will.
Er hätte beinah‘ einen Polizisten
umgefahren,
Aber der hat ihn und alle laufen lassen.
Wohin soll das führen,
Was soll bloß noch werden!
Frau E.: Bald weiß keiner, wer wen fliehen lassen wird
Und kann,
Und wer selbst zu den Fliehenden
gehört.
Von den Erwachsenen kommt Frau K. dazu.
Frau K.: Es stimmt, was Sie erzählen.
Trotzdem war es
anders, ja ganz anders.
Auf die Bühne stürmen Herr K. und neun
der Insassinnen.
Sie sind völlig erschöpft. Der Mann
treibt sie an.
Herr K.: Los, macht weiter.
Wenn die uns erwischen ist es aus.
Die stell‘n uns an die Wand.
1.Ins.: Nein, lasst mich, ich will sterben.
Herr K.: Du stehst auf! Mach zu.
In Sasel bring ich euch auf meinem
Boden unter.
Los steh auf.
Die andren Frauen helfen. Ein
Schwarzhemd tritt auf und schlägt sofort auf Herrn K. ein.
Schw.: Schon
auf der Flucht? Ich wird‘ euch helfen.
Los zurück,
verfluchtes Pack.
Herr K.: Hör‘ auf, du Idiot. Du bist verrückt!
Wir sind doch
unterwegs!
Die Stadt brennt lichterloh.
Kein Mensch kann mehr zurück.
Lass uns schon durch.
Sieh zu, dass du dich selber rettest!
Hinter uns ist eine Feuerwand.
Mach Platz! Geh weg!
Das Feuer ist gleich
hier!
Das Schwarzhemd ist erstaunt und bleibt
stehen und
lässt die Flüchtlinge durch und tritt ab.
Die Gehetzten kommen zu Frau K. zurück.
Herr K.: Wir müssen helfen.
Frau K.: Sind die aus der Stadt?
Herr K.: Ich weiß nicht,
Hab‘ sie unterwegs
gefunden.
Frau K.: Los schnell auf den Boden. Und seid ruhig.
Legt euch oben hin. Seid still.
Ich bring‘ euch Suppe.
Nehmt euch Decken mit.
Ein bisschen Kohl, ein bisschen Mehl
und Wasser.
Mehr ist nicht.
Herr K. tritt ab. Die Insassinnen
ebenfalls.
Aus der Baracke kommt Herr Y. Er geht
auf Frau K zu.
Herr Y.: Du kennst mich gut.
Ich habe viel geseh’n,
Und jetzt im Krieg ist alles möglich.
In der Hütte liegt ein junges Mädchen.
Hat ein Kind gekriegt.
Nein, das ist alles ganz und gar
unglaublich.
Herr Y. schüttelt immerzu den Kopf.
Herr Y.: Nicht ein bisschen Hilfe durfte ich ihr geben,
Und es ist doch mein
Beruf.
Herr Y tritt ab.
Frau K.: Herr Y hat niemals mehr davon gesprochen.
Nie mehr, bis er
starb.
Frau K geht zurück zu den Erwachsenen.
Aus der Baracke kommen zerlumpte Frauen
mit ihren Bewachern.
Die Frauen murmeln unentwegt.
Insassinnen: Hunger. Hunger. Hunger.
Von den Erwachsenen kommt Frau I.
Frau I.: Das müssen mehr als hundert sein.
Hier, nehmt mein
Frühstücksbrot.
Sie holt ihr Frühstücksbrot aus der Tasche
und wirft es in die Reihen.
Sofort schlägt die Wache mit einer Peitsche
nach der
ersten Insassin, die sich zu bücken wagt.
Ein anderer schlägt mit der Peitsche nach
Frau I.
Das Brot bleibt unter ihren Füßen liegen.
Frau I.: Wir haben wirklich nicht viel mehr gewusst, als dies.
Wir wohnten auch sehr weit entfernt.
Ganz in der Nähe aber wohnten Schreber.
Ja, die wohnten Tür an Tür mit denen.
Schrebergärtner solltet ihr befragen.
Die hab‘n mehr gewusst
Ich glaube, die sind alle
Längst, längst tot.
2.Jug.: Du siehst, sie hat von nichts etwas gewusst.
1.Jug.: Die arme Frau. Die Ärmste.
1. Akt, 3. Bild. Gebot der Steine
Bühnenbild wie zuvor. Herr N. tritt
auf.
Herr N.: Auf die Steine dürft ihr gar nicht achten.
Die verstehen von so kleinen Zahlen
nichts.
Das Lager stand doch nicht nur
Von August bis Mai.
Nein, das stand mindestens schon
Ein Jahr länger hier. An dieser Stelle.
Arbeitslager? Nein das war kein
Arbeitslager.
Die Baracken standen in der Nähe
Der Kanonen gegen Luftkommandos.
Herr N. legt seinen Mantel ab und ist
jetzt ein Hitlerjunge.
Herr N.: Die Baracken waren nur zum Schutz der Flak.
Das ist ganz sicher.
Nachts war alles hell erleuchtet.
Davon war ich damals ganz begeistert.
Überhaupt von allem war ich damals ganz
Begeistert.
Ich war überall. Ich stromerte herum.
Ich sah in jedes Fenster.
Herr N. sieht in eines der
Barackenfenster.
Plötzlich ertönt ein lautes
Frauenkreischen aus der Baracke.
Herr N.: Die da drinnen sind nur Haut und Knochen,
Werden abgeduscht.
Das Wasser ist natürlich eisig kalt.
Ist ihre Waschbaracke, glaube ich.
Die müssten wegen ihrer vielen nackten
Knochen
Aneinander schlagen.
Ein Bewacher kommt heraus.
Bew‘er.: Na, du Bürschchen?
Musst in fremde Fenster gucken?
Hau man lieber ab. Nu mach schon!
Ist doch nichts für dich.
Aus der Baracke kommt ein Zug Frauen in
blauweißgestreifter Kleidung.
Darauf sind große schwarze Zahlen zu sehen.
Sie tragen Holzpantinen.
Der Wachmann geht und begleitet die Frauen.
Es sind auch Bewacherinnen mit blanken
Stiefeln dabei.
Bew‘in.: Was machst du da! Hau ab! Sofort!
Herr N.: Bringt ihr die weg?
Bew’in.: Die geh‘n zur Arbeit. Jetzt sei still!
Verschwinde, dass wir dir nicht Beine machen
müssen.
Die Bewacherinnen schlagen mit den Peitschen
zwischen die Frauen.
Herr N.: Warum seid ihr denn so viele?
Bew’in.: Bist du jetzt wohl still?
Sonst hetz ich unsren Schäferhund auf dich!
Bew’er.: Die gehen in die Stadt, in ausgebombte Viertel.
Da sind Trümmer zu beseitigen,
Nu weißt du, was sie machen. Nu hau aber ab.
Herr N geht und zieht seinen Mantel wieder
an.
Herr N.: Es hieß, dass man sie in die Trümmer schickte,
Um die Leichen auszubuddeln,
Und man sagte auch,
Die würden vollgepumpt mit Schnaps.
Das soll die Übelkeit in ihnen
unterdrücken.
Jeden Morgen gingen sie durchs Dorf,
Auf immer neuen Straßen.
Viele waren es. Ein langer Zug.
So zweimal hundert Frauen.
Morgens ging es ab nach Poppenbüttel,
Dort in einen Zug und los.
Dle hatten etwa dreißig Männer zur
Bewachung.
Waren ausgerüstet und bewaffnet
Wie die Schwarzhemdmänner.
Schäferhunde hatten sie.
Viel schlimmer, als das Eis der
Duschen,
Waren die Bewacherinnen.
Was die machten, machten die gleich
ganz.
Die machten ganze Arbeit,
Und die bildeten sich toll was ein
Auf ihre blauen Augen und die blonden
Haare.
Waren alles junge Frauen.
Jede war in einem unersättlich reifen
Frauenalter, zwischen zwanzig, dreißig
Jahren.
Die Bewacher waren sehr viel älter,
Sehr viel freundlicher und milder. Um
die sechzig.
Frau I. wirft wieder Brot in die Reihen,
genau, wie im vorigen Bild.
Bew’er. zu einer Insassin:
Bew’er.: Hast‘s nicht geseh‘n? Heb‘s auf. Ist gut.
Die Leute woll‘n euch Gutes tun.
Die Insassinnen stürzen sich sofort darauf.
Wie im vorigen Bild holt jetzt auch Frau E.
aus ihrem
Korb Äpfel und Brot und verteilt sie an die
Insassinnen.
Die reißen ihr das aus der Hand und
verschlingen es gierig.
Bew’er.: He, gute Frau, das ist verboten.
Lassen Sie das lieber sein,
Sonst werden Sie noch abgeholt.
Frau I.: Ist ja schon gut.
Sie sehen doch, wie die Hunger haben.
Und das bisschen Brot, ‘n Appel.
Is‘ doch nichts dabei.
Herr N.: Die Männer war‘n nicht streng.
Die ließen vieles durch.
Die war‘n zwar im Vollzug,
Doch sie vollzogen nicht, wie manche
glaubten.
Insassinnen, Bewacher ab. Herr N. Frau I. zurück
zu den Erwachsen.
Bei den Jugendlichen klingelt ein Telefon.
Frau P. wird eingeblendet. Sie ist
bettlägerig.
1.Jug.: Ja?
Wer spricht?
Frau P.: Ich bin Frau P. Ich weiß noch einiges
Das könnt‘ euch
intressieren.
Damals war ich selber Kind.
So elf, zwölf Jahre.
Niemand der Familie hätte je Kontakt
Zu den KZ- Insassinnen gehabt.
Das war ja gar nicht möglich.
War viel zu gefährlich.
Aus dem Lager drang nun wirklich gar
nichts raus.
Bis zur Umzäunung hätte sich
Kein einziger von uns gewagt.
Man fürchtete, wenn ich so sagen darf
Dass die Umzäunung um sich greifen
würde.
Plötzlich säß man selber drinnen.
Nein, kein Mensch ging an den Zaun.
Nur meine Mutter, diese kleine Frau.
Von den Erwachsenen kommt eine Frau auf dem
Fahrrad und radelt hastig auf den Zaun zu.
Sie wirft kleine Päckchen,
die sich im Gitter verfangen. Dann radelt sie
schnell zurück.
Frau P.: Sie fuhr mit ihrem Fahrrad auf das Lager zu.
Man sah ihr ihren Mut nicht an.
Ihr Kommen war ein Eilen, Fliehen.
Reste Brot und was sie sonst noch hatte
Und entbehren konnte, warf sie denen
zu.
Das meiste blieb im Stacheldraht,
Im hohen Gitter hängen.
Immer war sie wieder fort,
Wenn die Bewacher kamen.
Ein Bewacher kommt heraus.
Bew’er.: War doch schon wieder einer da!
Verflucht noch mal.
Frau P.: Die drinnen träumten von ein wenig Suppe.
Später nahmen wir Zigeunerinnen auf.
Die haben uns erzählt,
Wie man dort drinnen strafte für
Verbrechen,
Wie die sagten,
Wo‘s doch wirklich nichts mehr zu
verbrechen gab.
Eine Bewacherin tritt auf und zerrt eine
Insassin mit sich mit.
Mit Fußtritten stößt sie die zu Boden.
Bew‘in.: Das nächste Mal stell ich dich wieder
In das kalte Becken.
Kommst den ganzen Tag ins kalte Wasser.
Hab heut‘ meinen guten Tag.
Heut kriegst es warm.
Drück nur die Kippe auf dir aus.
Sie reißt der Insassin die Lumpen hoch und
die
Beine auseinander und drückt genüsslich die
Zigarette in ihrem Schenkel aus.
Bew‘in.: Ich warn dich, wehe, wenn du schreist.
Du Miststück, Jetzt kommt der
Geschmack.
Halt still, kein Wort,
Sonst schick ich dich nach Neuengamme.
Die Insassin windet sich, sagt aber kein
Wort.
Bew‘in.: Ah, das hat gewirkt.
Die Bewacherin holt aus der Tasche zwei kleine
Glasfässchen.
Bew‘in.: So, erst ein bisschen Salz.
Ja, das tut gut.
Sie reibt mit dem Finger nach. Die Insassin
schweigt und windet sich.
Bew‘in.: Gefällt dir wohl?
Und jetzt als Nachtisch Pfeffer.
Wehe, wenn du nur ein Tönchen sagst.
Du darfst dich kratzen.
Kratz dich! Los! Nach Herzenslust, mein
Täubchen!
Wehe du nimmst Spucke!
Miststück, Hure! Machst du nur
Theater?!
Die Insassin springt auf und läuft zurück in
die Baracke.
Die Bewacherin hinterher.
Bew‘in.: Jetzt schlag ich dich tot!
Wenn ich dich kriege!
Frau P.: Die Zigeunerfrauen haben uns erzählt,
Dass man in Sasel keine Folterungen
vornahm.
Dies war eine Kleinigkeit an dem
Was andre litten. Das war allen klar.
Wir fanden trotzdem,
Dass die zwei Zigeunerinnen fast schon
tot war‘n
Als sie zu uns kamen.
Die im Lager kriegten reine
Wassersuppe.
Die bestand aus Wasser und
Kartoffelschalen.
Aus sonst nichts. Aus gar nichts
weiter.
Ja, das wollte ich euch sagen.
Ein Bewacher soll ein Mensch gewesen
sein.
Der half den Frau‘n beim Tragen schwerer
Kannen.
Damals hatten sie die
Milch zu schleppen.
War in Sasel. Dort
steht jetzt ein Supermarkt.
Frau P. legt auf.
1.Stein: Hört her, hört zu.
Wir Steine geben euch ein Rätsel auf.
Wir sagen:
„Wir, die Steine, haben ein Gebot:
Von uns darf sich kein einziger ent -
setzen,
Und dort, wo wir stehen,
Müssen wir ver - stehen lernen.
Das ist unsre Art sich zu bewegen,
Und be - greifen werden wir nie
können“.
Von den Erwachsenen kommt Frau D.
Frau D.: Jemand muss mal einen Schlussstrich zieh‘n.
1.Jug.: Den
Schlussstrich? Unter was?
2.Jug.: Die weiß noch immer nicht,
Was wir hier machen.
Sie, Frau D.,
Bis jetzt zieht immerzu an irgendeiner
Stelle
Irgendjemand. seinen Schlussstrich,
Und die woll‘n wir grade ausradieren.
Kann man das denn nicht versteh‘n?
Wir wären kopflos,
Könnten überhaupt nichts mehr
verstehen,
Wenn wir einen Schlussstrich gelten
lassen würden.
Frau D.: Ich weiß nur, dass viele Frauen
Essenreste an das Gitter brachten
Und hinüberwarfen.
Und den Zug der Frauen, sah‘n wir alle,
Zog sich manchmal endlos durch die
Straßen.
Aus der Baracke kommen in Decken
gehüllte Frauen heraus.
Frau D.: Keine hatte jemals ordentliche Kleider.
Höchstens eine alte Decke umgehängt.
Die gingen immer bis nach Poppenbüttel.
Dann in einen eignen Wagen.
Wenn die drin waren, wurd' der einfach
abgeschlossen.
Nicht von drinnen. Wie ein Viehzug.
Dann ging‘s ab.
Die trugen keine Holzpantinen.
Hatten doch nur Lappen an den Füßen.
Die Bewacher schlugen sie,
Wenn sie sich nach den Essenresten
bücken wollten,
Oder, wenn sie sich nicht schnell genug
bewegten.
Damals war ich sechzehn, siebzehn.
Meine Güte!
Mir war alles gar nicht so bewusst.
Ich dachte auch, dass das so ist.
Das muss so sein, hab‘ ich gedacht.
Ich hab' gedacht:
Das alles hat so seine Ordnung.
Bühne wie zuvor. Zwei große Steine sind
ausgeleuchtet.
Sonst ist niemand auf der Bühne.
1.Stein: Die horchen frech in unsre Urgespräche.
2.Stein: Für so kurze Augenblicke
Lebt ein Stein zu lange.
1.Stein: Viel zu lange
2.Stein: Die vergessen, dass wir hier schon lange..
1.Stein: ...als noch gar nichts war..
2.Stein: Wir sind schon dagewesen,
Als die anderen vor ihnen,
Noch nicht existierten.
1.Stein: Und die davor auch noch nicht.
2.Stein: Die Tausendjährigen,
Du weißt doch,
1.Stein: Ach, die dachten, dass sie schlauer wären.
2.Stein: Alles haben wir erlebt.
1.Stein: Und niemals eingegriffen.
2.Stein: Niedertracht und Glück und Blutvergießen,
Schicksal, Unglück.
Alles hat sich über uns ergossen.
1.Stein: Nach dem Maß der Steine…
2.Stein: Alles wurde aufgerichtet und gerichtet...
1.Stein: Was uns färben kann
Sind Regen und ein bisschen Schnee.
2.Stein: Ob die das nicht bedenken,
Die sich auf uns hocken
Sich auf unsre Augen stellen?
Von außerhalb kommen einige Insassinnen,
die werden von einer Bewacherin angetrieben.
Sie sollen zurück in die Baracke.
Eine Insassin ist verletzt und muss auf einem
Bein hinken.
1.Ins.: Unter
den Bewacherinnen ist die P. die schlimmste.
Sonst würd‘ ich der Ärmsten helfen.
2.Ins.: Lass
das sein, du kommst in Teufels Küche.
Hat sie eben Pech gehabt.
1.Ins.: Jetzt
geh ich einfach hin
Und stütz' sie ab.
1. Insassin geht zu der Hinkenden und will
ihr helfen. Sofort geht die
Bewacherin dazwischen.
Bew'in.: Ich schlag euch tot
Wenn ihr der helft.
Wir spielen „Hinkefuß“ bis zur Baracke.
Hast doch selber schuld!
Was wirfst du dir die Steine auf die
Füße.
Denkt, ich fall‘ drauf rein.
Ihr Simulantenpack.
Na, lange macht ihr‘s sowieso nicht
mehr.
Die Zeit, die ich euch hab‘,
Sollt ihr genießen.
1.Ins.: P.
Den Namen merk‘ ich mir.
Wenn ich hier jemals rauskomm',
2.Ins.: Wirst du sicher nicht.
1.Ins.: Wenn
ich hier jemals rauskomm'
Knöpf‘ ich mir die vor. Privat,
verstehst du.
Beide Brüste werde ich ihr eigenhändig
drehen,
Dass sie keinem Mann sich mehr zu
Zeigen wagen wird.
Bew'in.: Ihr redet miteinander? Da!
Für jedes Wort ein Schlag auf euren Kopf,
Auf euer Maul!
Ihr habt vergessen,
Dass ich meinen Mann verloren hab‘.
Ist eure schuld! Durch euch!
Den Krieg habt ihr uns aufgedrückt.
Ich hab‘ nicht nur die Peitsche.
Ihr vergesst, dass ich die Rache dafür
will.
Das ist mein dritter Arm.
Ich quäl‘ euch allesamt zugrunde!
Die verletzte Insassin bricht zusammen.
Bew'in.: Stehst du auf! Steh‘ auf sofort!
Ich schlag dich auf der Stelle tot!
3.Ins.: Helfen
Sie mir doch. Ich fleh Sie an.
Erlauben Sie, dass mir die andren
helfen.
Alles wird‘ ich für Sie tun.
Bew’in.: Das Spiel heißt „Hinkefuß“. Steh‘ auf!
3.Ins.: Den
ganzen Weg vom Bahnhof bis hierher..
Bew’in.: Sonst geht‘s nach Neuengamme!
Überleg‘ es dir.
3.Ins.: In
eins, zwei Stunden
Kann ich wieder laufen. Das geht schnell
vorbei.
Sie küsst der Bewacherin die Stiefel.
3.Ins.: Lassen
sie sie helfen, bitte, bitte.
Eine nur, dann geht‘s.
Bew’in.: Dir helf‘ ich selbst.
Wenn du‘s so willst, dann bitte, bitte.
Schlägt mit der Peitsche auf sie ein.
Die Verletzte kriecht jetzt auf allen Vieren
weiter.
Bew’in.: Wie heißt unser Spiel?
3.Ins.: „Hinkefuß".
Bew’in.: Steh‘ auf, komm hoch, verfluchte Simulantin.
Was ihr braucht, ist jemand,
Der euch antreibt, der euch Beine
macht.
Ich müsste strenger mit euch umgeh‘n.
Unter meiner Peitsche starb noch keine.
1.Ins.: Das
ist wahr.
An ihren Schlägen ist noch keine
umgekommen.
In den andren Lägern soll es viel, viel
Schlimmer sein. Viel schlimmer.
2.Ins.: Sollten
ihr noch dankbar sein.
1.Ins.: Ich
könnt‘ sie küssen.
Werd‘ ich bei Gelegenheit.
2.Ins.: Vielleicht
vergisst sie dann den Mann.
1.Ins.: Die
ganz bestimmt nicht.
Bew’in.: Gut, du willst es ja nicht anders.
Die Bewacherin setzt sich auf den Rücken der
Verletzten und treibt sie an.
Bew’in.: Will dir deinen Wunsch erfüllen.
Los, trab ab. Hü, hott! Hü, hott!
Gleich sind wir da!
Mein Pferdchen lauf!
Galopp! Galopp!
Alle verschwinden in der Baracke. Es klingelt
ein Telefon.
Man hört, wie ein Hörer abgenommen wird.
Man erkennt die Stimmen von Frau H. und den
Jugendlichen.
Frau H.: Ihr seht mich nicht. Ich bin Frau H.
Ich bin so alt und bin so furchtbar
hässlich.
Nein, ich zeig‘ mich nicht.
Ich will euch aber etwas zu dem Hunger
sagen,
Auch, wenn ihr es nicht versteht.
2.Jug.: Wir
hör‘n Sie gut und wir versteh‘n Sie gut.
Wir wollten grad‘ zum Essen geh‘n.
Wir wissen also, was das ist.
Wir haben nämlich Hunger.
Frau I.: Hört mir bitte zu.
Es dauert doch nicht lange.
Wir, die damals Hunger hatten
Und die Frauen aus dem Lager, wissen,
Dass der Hunger mehr als nur Bedürfnis
ist.
Er ist Erfahrung, die man nie vergisst.
2.Jug.: Noch
etwas?
Frau H.: Hört noch zu. Das ist doch wichtig.
Hunger war die Frage nach der Existenz,
Wenn die durch Sasel zogen,
Einzelne Insassinnen kommen in Lumpen
gekleidet aus dem Lager heraus.
Frau H.: War der Zug so lang,
Dass wir durch ihre Reihen gehen mussten,
Wenn wir einfach auf die andre Straßenseite
wollten.
Alle hatten runde, off‘ne Münder,
Tupfer,
Kleine Höhlen im Gesicht.
Die riefen, murmelten.
Die Insassinnen haben immerzu das Wort auf
den Lippen.
Insassinnen: Hunger..Hunger…Hunger…Hunger…
Ein Bewacher kommt hinterher gelaufen.
Bew.: Lasst
verdammt noch mal das Betteln,
Lasst das Betteln sein.
Auf einen der Steine springt plötzlich ein
Schwarzhemd.
Frau H.: Plötzlich stand ein Schwarzhemdstandortarzt
Auf einen dieser Steine,
Und er wollte,
Dass die Frauen zum Appell erscheinen.
Für die Frauen war ganz klar,
Was kommen musste: Selektion.
Frau I.: Für viele würd‘ das heißen:
Ab nach Neuengamme oder sonst wohin
In die Vernichtung.
Die Insassinnen geraten in wilde Panik und
Hektik
und füllen sich ihre Lumpen mit Papier auf
und
versuchen mit allen Mitteln und mit Fetzen
Buntpapier sich
Farbe ins Gesicht zu zaubern.
Gezank unter den Frauen.
Frau I.: Plötzlich waren alle wach.
Das brachte sie in Trapp.
Sie hatten alle irgendeinen Rest von roter
Farbe,
Auf Papier, in irgendeinem Stoff.
Das schmierten sie sich ins Gesicht
Und
schminkten sich, das war zu ihrem Schutz.
Sie stopften sich die Lumpen auf mit
Gras,
Papier, mit irgendetwas, dass sie
dicker wurden,
Und erschienen zum Appell.
Sie hofften, so nicht aussortiert zu
werden.
Jede, die man aussortierte,
Würde auch beseitigt werden, das war klar.
Ich wünsche keiner Jugend dieser Welt
Den Hunger, den die hatten.
Es ist einen Augenblick total still. Alle
lauschen auf das Gezwitscher einer Amsel.
Schw.: Bin
euer Schwarzhemdstandortarzt.
Geh‘ allen Klagen nach und kontrolliere.
Man beklagt das Essen.
Überall. Nicht nur bei euch.
Hab‘ Essen untersucht, bei euch.
Die Werte liegen wenig unter Werten,
Wo die Werte für Verpflegung liegen
sollen.
Reichen eben aus. Das ist genug..
Gehalt an Kalorien ist festgelegt,
Ist wissenschaftlich untersucht!
Stellt ganz und gar neutrales Amt
zufrieden.
Weicht nur wenig ab mit einer Toleranz
nach unten.
Andre liegen viel, viel tiefer.
Habe selbst Vergleiche mit Tabellen
angestellt;
Kann euch nur gratulieren.
Euch geht‘s gut.
Wir wollen ja nicht Winterspeck
ansetzen, oder?
Arzt lacht: Kleiner Scherz von mir.
Arzt wieder streng.
Schw.: Es
ist nicht angestrebt,
Mit der Ernährung zusätzliche Polster
anzulegen.
Kann nicht Sinn des Arbeitslagers sein.
Arzt schreit sie an.
Schw.: Alle
sollen alles geben und nichts dafür nehmen!
Arzt wieder ruhig.
Schw.: Zubereitung,
Sauberkeit
Sind in der Häftlingsküche ausgezeichnet.
Spreche hier von vorbildlich und
musterhaft.
Hab‘ nichts Bemerkenswertes,
Meine Ungesundes, in mein Protokoll zu
nehmen.
Schwarzhemdstandortarzt befindet alles
„Gut“ und „Sauber, einwandfrei“.
Verwaltung ist gerecht.
Ein Glücksfall dieses Außenlager Sasel.
Andre Läger leben mit ganz andren
Kompromissen und Entscheidungen.
Wir singen jetzt ein Lied, drei, vier….
Er stimmt an.
Schw.: „Vernichtung
durch die Arbeit..“
Keiner singt mit.
Schw.: Keiner
kennt das? Oder dies:
„Die Arbeit macht euch frei, die
Arbeit...“
Auch nicht? Na, dann hör‘n wir mal in
die Natur.
Die kann das besser.
Die Drossel singt wieder.
Schw.: Schön,
nicht wahr?
Das ist ‘ne Amsel oder eine Drossel, nicht?
Ein Bewacher antwortet sofort befehlsgemäß
und brüllt über die Leute.
Bew’er.: Herr Oberarzt, ist eine Drossel!
Eine Spottdrossel, Spottdrossel!
Einige, wenige Insassinnen lachen laut auf.
Dann tritt einen Augenblick Ruhe ein.
Stimme von Frau H.
Frau H.: Von den Sas‘lern ist das Frauenlager
Völlig übersehen worden.
1. Akt, 5. Bild. Ein Interview
Bühnenbild wie zuvor. Es kommen 1. und 2.Jug.
und andere Jugendliche auf die Bühne.
Rechts stehen wieder die Erwachsenen.
Zwei Bewacher montieren ein Schild an der
Baracke.
1.Bew.: Jetzt
hat alles seine Ordnung.
2.Bew.: Liest
sich gut.
Die Schrift ist sauber:
„Arbeitslager Sasel
Stehenbleiben ist verboten“!
Das schreckt ab.
Die Bew. wieder ab. Von den Erwachsenen kommt
Frau B.
auf die Jugendlichen zu und übergibt denen
ein Papier.
In der anderen Hand trägt sie ein
Tonbandgerät.
Das händigt sie mit aus.
2.Jug.: Ich
denk‘ wir geh‘n jetzt Essen?
Hat das nicht noch Zeit mit ihr?
Die sagt kein Wort!
1.Jug.: Sie,
gute Frau, wir woll‘n erst Essen gehen,
Danach geht es weiter!
2.Jug.: Stumm
wie ‘n Fisch. Die sagt kein Wort.
Was soll der Zettel.
Nimm ihn mal.
1.Jug. Nimmt
den Zettel und liest vor.
Ich bin stumm, ich kann nichts sagen.
Aber auf dem Kasten ist ein Tonband,
Wie wir‘s früher hatten.
Darauf ist ein Interview.
Ich bin nicht so modern, wie ihr.
Ihr habt Kristalle, weiß ich,
Darin speichert ihr die Welt.
Auf meinem Band. könnt ihr mich
sprechen hören.
Außerdem Herrn F. und seine Frau.
Ihr könnt es hören wenn ihr wollt.
Ich geb‘ es euch. Als Unterschrift:
Frau B.
Es kommen zwei Verkäuferinnen, die sehr
attraktiv angezogen sind.
Auf ihrer Kleidung steht der Namenszug:
„Supermarkt“.
Sie bringen Lunchpakete für alle.
1.Verk.: Der Supermarkt lässt grüßen.
Supermarkt will einen Beitrag leisten.
2.Verk.: Lunchpaket für jeden.
Supermarkt lässt grüßen. Nehmen Sie. Da,
bitte.
Erwachsene und Jugendliche sind erfreut.
Erw.: Danke,
danke..
1.Jug.: Das
ist eine nette Geste.
Hunger hab‘ ich auch inzwischen.
2.Jug.: Werbung,
Werbung.
Ohne Werbung geht es nicht.
Kann uns auch ganz egal sein.
Die Verkäuferinnen bringen auch noch
Getränke.
1.Jug.: Find‘
ich toll von denen.
Danke. Gut, sogar Getränke!
2.Jug.: Ganz
umsonst. Das spenden die.
Wer weiß aus welchem Grund.
3.Jug. kommt auf die beiden zu.
3.Jug.: Ihr
denkt doch nur ans Fressen.
Ist für die doch nichts.
Das schreib‘n die ab.
Und ihr macht euch zu deren Fressgenossen,
Ich rühr‘ von dem Kram nichts an.
1.Jug.: Was
hast du denn?
3.:Jug. spuckt vor ihnen aus.
3.Jug.: Verreck
ich lieber.
Jedenfalls von denen nehm‘ ich nichts.
2.Jug.: Ist
mir egal, ich esse.
1.Jug.: Weil
du kein Gehirn hast.
2.Jug.: Wirfst
du denen vor, dass sie den Supermarkt
Da aufgebaut und eingerichtet haben,
Wo noch Lager war?
3.Jug.: Das
könnte sein.
1.Jug.: Du
spinnst.
Du gehst doch auch nicht los
Und reißt die Zäune ein
Bei all den Siedlungshäuschen die da steh’n,
Und die steh‘n ganz genau da, wo sie
die
Gequält hab'n,
Wo so viele starben,
Wo sie die geschlagen haben!
3.Jug.:
Hab‘ euch doch gesagt,
Euch fehlt es an Gehirn.
3.Jug. geht. Ruft dann aber zurück:
3.Jug.: Ich
jedenfalls „gedenke“.
Ja, gedenke, jetzt. Mit meinem Hunger!
Wenn ihr mich versteht.
Mein Hunger soll mich dran erinnern,
Daran denken lassen.
Eure Sattheit ist zum Kotzen.
Aber macht nur weiter.
Irgendwann begreift ihr auch die
Kleinigkeiten.
Widerlich,
Wenn man die Fresslust an euch sieht.
Die quillt euch aus den Augen!
Ekelhaft.
Einige, dann alle, legen zögernd ihr
Lunchpaket beiseite.
Verkäuferinnen ab. Aus der Baracke kommen
Insassinnen,
schlecht gekleidet, aber erstmals mit einem
gelben Stern
auf der Kleidung. Sie sind dabei, die Baracke
zu errichten.
2 Bewacherinnen, Jugendliche und Erwachsene
fast ganz zurück.
Frau B. und ihre Schwester
(Schw. B.).
Frau B.: Drei Männer und drei Frauen passen immer auf.
Bew‘in.: Bewegt euch! Tut was! Lahme Schlampen!
Schw. B.: Insgesamt sind‘s über viermal hundert Frauen.
Fünfzig von den Häusern soll‘n sie bau‘n.
Frau B.: Ob sich mal eine her traut?
Schw. B.: Nein, wir müssen ‘rüber.
Da, bei den Bewachern geht‘s,
Der sieht mit Absicht weg.
Die beiden Frauen gehen auf den Bew. zu, der
sieht gelangweilt weg.
Sofort kommen die Insassinnen auf die Frauen
zu
und reißen ihnen die Nahrung aus den Händen.
Ins.: Danke…danke..
Die beiden Frauen gehen zurück.
Frau B.: Die müssen schuften, bis sie tot sind..
Schw. B.: Müssen Heime schaffen,
Die sie selber nie beziehen werden.
Frau B.: Und die einzieh‘n hängen ihre Augen
Drinnen an die Wand.
Die woll‘n von nichts was wissen.
Gucken nicht mehr raus.
Statt denen, die geholfen haben,
Auch zu helfen.
Schw. B.: Die hab‘n einfach Angst.
Die haben Angst, dass
ihre Hilfe schaden könnte.
Frau B.: Ihnen selbst natürlich.
Die Frauen ab. Herr und Frau F. kommen mit
bequemen
Lehnstühlen heraus. Ein Tisch mit Kaffee und
Kuchen.
Alles sehr gemütlich. 1. und 2.Jug. kommen
mit dem
Tonbandgerät und stellen es auf.
1.Jug.: Heute
wohn‘ Sie beide noch
In einem dieser Plattenhäuser.
Stimmt das wirklich von den Frauen?
Haben die das aufgerichtet?
Und wie wohnt es sich darin,
Was für Gefühle haben Sie?
Was wussten Sie vom Lager nebenan?
Herr F.: Wir kannten damals nur noch Trümmer.
Unser nacktes Leben hatten wir
gerettet.
Sonst war alles weg, einfach weg.
Und hier bot man uns so ein Häuschen
an.
Ich kann‘s nicht anders sagen:
Neuer Anfang, Neubeginn.
Wir fühlten uns wie neugeboren.
Viele brachte man hier unter.
Große Firmen leiteten den Bau der
Häuser,
Und es gab viel Eigenhilfe.
Das weißt du doch auch.
Frau F.: Das stimmt.
2.Jug.: Und
über Juden, allgemein?
Was dachten Sie?
Herr F.: Ich hatte meine eigenen Gedanken,
Und ich glaubte nicht, was man mir
sagte.
Man traf überall auf Hass,
Der richtete sich gegen sie.
Man sagte so zum Beispiel,
Dass sie an den „Fäden“ zögen,
Ihre Finger hätten sie in jeder Sache,
Überall wär‘n sie mit drin.
Bevor man sie vertrieb,
War‘n sie als die Geschäftemacher
Und Besitzer aller Wäscherein und
Schuhgeschäfte
Überall verschrien.
1.Jug.: Verschrien?
War das denn schlimm?
Herr F.: Für viele war das Grund genug.
Sie wurden ja verfolgt,
Und fliehen konnten nur die wenigen mit
Bargeld.
Selbst für die war‘s schwer.
Man machte Jagd auf die und die
Und fing sie alle ein. Das war so.
Überall wo sich ein Schwarzhemd
blickenlassen konnte,
War das so.
Nicht nur bei uns.
War überall so.
Frau F.: Und die eingefang‘nen Juden sprachen doch
Oft unsre Sprache nicht.
Die kamen aus ganz andren Ländern.
Wenn man über die im Lager sprechen wollte,
Ging das nur im allerengsten Kreis.
Vielleicht in der Familie.
Aber manchmal war es sogar da nicht
möglich.
Jeder Außenstehende stand im Verdacht,
Uns zu verdächtigen.
Und Leute, die gesessen hatten, gab‘s
genug.
Das ging ruck zuck. Schon war man drin.
Und wenn man erst mal drin war, gute
Nacht.
Wer das nicht glauben wollte,
War ganz schlicht zu dumm.
Wir hätten nie mit den Insassinnen gesprochen.
Sprach man die mal an,
Nein, meistens war es umgekehrt,
Weil die ja bettelten,
Dann wurden sie misshandelt.
Schläge auf den Kopf und so.
Die mussten immer, immer arbeiten.
Das nahm kein Ende.
Ihre Häuser standen ja schon in zwei
Straßen:
Kritenbarg und Pfefferminzkamp.
Das sind kleine Straßen. Gibt sie heute
noch.
Die Häuser standen nur ein Jahr.
Nicht länger.
2.Jug.: Bis
auf dieses.
Das steht immer noch.
Herr F.: Am Ende, als der Krieg zu Ende war,
Zog keine von den Frau‘n hier ein.
Sie hätten sich ja kleine Siegeshallen
Daraus machen können. Aber nichts.
Die Frauen waren plötzlich fort.
Wohin sie gingen, wohin sie entlassen
wurden
Weiß kein Mensch.
Wir wissen nicht mal,
Frau F.: Ob sie nicht am letzten Tag noch umgekommen sind.
Hier waren sie total
verlassen.
2.Jug.: Und
das Lager war doch damals
Nicht zu überseh‘n.
Was wussten Sie davon?
Herr F.: Mein Gott! Wir wussten nichts.
Vermutet, ja; vermutet hat man etwas;
Aber nur vermutet. Nichts Genaues.
Und das eine dürft ihr nicht vergessen,
Wir befanden uns genau wie diese Frauen
In der Fremde.
Es kommen Insassinnen heraus mit Lappen an
den Füßen
und in Zementsäcken steckend.
Frau F.: Uns ging‘s ganz schön besser.
Weißt du nicht,
Dass die in Eiseskälte mit dem Plunder
an den Füßen
Ihre Arbeit machen mussten?
Kleider hatten die nicht an.
Die steckten in Papier!
Die steckten doch in Säcken vom Zement,
Die sind doch aus Papier.
Und darum zankten die sich noch.
Und schlafen mussten sie darin.
Ich hab‘s gesehen. Deren Haut war
Blank und grau wie Blei.
Es gab ja nicht mal Stroh.
Für die schon gar nicht.
Als sie alle fort war‘n,
Hab‘ ich mir das Ganze angesehen.
Hatten dort nur Pritschen. Mit nichts
drauf.
Ganz schrecklich.
Nein, die kannst du wirklich nicht mit
uns
Vergleichen.
Herr F.: Einmal hab‘ ich selbst was eingefangen.
Weiß nicht mehr warum.
Die wollten mich „kassieren“.
Frau F.: Das ist denen aber schlecht bekommen.
Hatten übersehen,
Dass du bei der Wehrmacht warst.
Da mussten sie ihn ganz schnell laufen
lassen.
Wisst ihr, wenn man bei der Wehrmacht
war,
War man geschützt.
Herr F.: Die Frauen, also die Bewacherinnen, waren ganz brutal.
Die schlugen in der Eiseskälte zu.
Die schlugen einfach drauf.
Da tat sich mancher Sprödbruch auf,
Und mancher neue Riss lief durch die Haut.
Frau F.: Und morgens gab es nichts. So wie ich‘s sag‘.
Die mussten hoch.
Buchstäblich mit dem Hahnenschrei.
Appell, dann ab.
Und bis zum Dunkelwerden nichts als
Arbeit.
Arbeit, Arbeit, Arbeit.
Harte Männerarbeit,
Darf man nicht vergessen.
Schwere Erdarbeiten.
1.Jug.: Floh
mal jemand? Gab es Flucht? Gab‘s das?
Frau F.: Du meine Güte, Flucht.
An Flucht war nicht zu denken,
Wohin hätten die wohl fliehen sollen,
Oder können.
Nein, nein.
Ein Bewacher kommt auf Frau F. zu. Frau F
spricht ihn an.
Frau F.: Was sind denn das für Frauen?
Wissen Sie woher die
kommen?
Bew’er.: Alles bestens, alles bestens.
Kümmern Sie sich nicht
darum.
Sie woll‘n doch nicht, dass man Sie
abholt, oder?
Sehen Sie.
Bewacher geht zur Seite. Frau F. winkt drei
Insassinnen zu.
Sie holt einen Topf und füllt nacheinander
Suppe auf einen Teller.
Frau F.: Zeit zum Löffeln gibt‘s da nicht.
Da war nichts mehr zu machen.
Ihre Suppe hab‘n die einfach
weggeschluckt.
Das dauerte Sekunden.
Eine nach der anderen.
Ich konnte ja nicht alle füttern.
Die Insassinnen fliehen wieder zurück.
Frau F.: Hier bei uns gab‘s etwa 150 Frauen.
Herr F.: Ob auch Judenfrauen drunter waren?
Keine Ahnung.
Hätten wir nicht wissen können.
Die war‘n stationiert im Lager.
Das war kein KZ, das war ein
Arbeitslager,
Wisst ihr.
Manchmal wurden welche abgeholt
Und andre kamen.
1.Jug.: Wohin
wurden die gebracht?
Herr F.: Die mussten wohl nach Ochsenzoll, denk‘ ich.
Das ist nicht weit von hier.
Da ging‘s in die Fabrik.
Da schmiedeten sie Hülsen für Granaten,
Oder bauten Panzerketten.
Keiner wusste das genau.
Auch heut‘ noch nicht.
1.Jug.: Wie
kamen die dahin? Marschierten die dahin?
Wie ging das.
Herr F.: Nein, die hatten eigene Waggons, ganz alte.
Von der Eisenbahn.
In jeden lud man bis zu fünfzig Frauen ein.
Inzwischen haben sich die Insassinnen
formiert und
stehen schwankend auf ihren Füßen.
Frau F.: Wir wissen nicht, ob alle wiederkamen.
Wenn die stehen, stehen sie auf wackeligen
Beinen.
Herr F.: Das kommt nicht von ihrer Fahrerei,
Das kommt von ihrer Schwäche.
Die sind doch nur noch Haut und
Knochen.
Jeder sieht es: die sind nur Haut und Knochen.
Vier Insassinnen stürzen sich auf einen
Abfallhaufen und streiten sich.
2.Jug.: Was
ist los?
Herr F.: Wir müssen zuseh‘n, wie sie sich
Um Reste prügeln, zanken.
Denen ist doch alles gleich.
Die stürzen sich auf jeden Unrat, Mist
und Abfall.
Alles wird durchwühlt.
Das ekelt alle an. Das ist ganz widerlich.
Dann gibt es einen Punkt,
An dem ist jeder abgestumpft.
Mal schreit die Wache.
Meistens ist es ihr egal.
Und wir Bewohner seh‘n schon nicht mehr
hin.
Wir waren alle abgestumpft.
2.Jug.: Hätt‘
man nicht helfen können, irgendwie?
Frau F.: Es ging nicht, und es war verboten.
War uns doch verboten,
was die sagten, galt.
Herr F.: Dann gab‘s auch noch die Propaganda.
Die hat alles klargestellt.
Das war die Stimme „unsres Volkes“.
Jeder hörte zu.
Die Stimme ging zu Herzen.
Alles, was die sagte, glaubten wir.
Stimme aus dem Lautsprecher.
Lauts.: Es
handelt sich bei diesen Menschen
Nicht um Menschen!
Das sind keine Menschen!
Das sind Untermenschen!
Herr F.: Und wir litten selber Not.
Man gab uns nur das Nötigste.
Das Volk erhielt nicht viel.
Wer aus der Wache stumpfe Pfeile machen
wollte,
Lenkte deren Wut nur auf die
Judenfrauen.
Hilfe war fast ausgeschlossen.
Manchmal stellten wir ganz einfach
etwas
Auf die Straße.
Wenn die Frau‘n das nehmen wollten und
sich bückten,
Schlug die Wache auf sie ein.
Wir haben die nie angesprochen.
Frau F.: …die uns auch nicht.
Herr F.: Waren ewig unter Wache. Nie alleine, nie allein.
1. Akt, 6. Bild. Der Kassenwart
Bühnenbild wie zuvor Es sind nur Jugendliche
auf der Bühne.
3.Jug. kommt mit einer alten Ladenkasse
angerannt, angeschleppt.
3.Jug.: Seht
mal was ich hab‘.
Die haben wir im Alstertal gefunden.
Ist kein bisschen Rost dran.
He, die funktioniert noch richtig!
3.Jug. stellt die Kasse mitten unter die
anderen.
Unbemerkt von allen kommt von der Baracke her
ein
Schwarzhemd langsam auf sie zu.
2.Jug.: Und,
was soll der Kram?
3.Jug.: Du
weißt nicht was drin steckt.
Drück auf die Taste.
Hau mal richtig drauf!
2.Jug. drückt kräftig auf die Taste. Die Kasse
springt mit einem hellen
Glockenton auf.
2.Jug.: Sieh
nach! Sieh rein.
Da drinnen liegt ein Buch
Und bisschen Kleingeld.
Kuckuck! Kuckuck! Kuckuck!
Hör doch auf.
Ein Buch? Tatsächlich!
Sind ja nur Belege.
Ah, hier ist ein Brief. Den meinst du?
‘ne Unterschrift.
3.Jug.: Die
Unterschrift vom Kassenwart.
Der hat den Brief geschrieben.
Die Jugendlichen erstarren nun.
Das Schwarzhemd steht vor ihnen und nimmt
ihnen den Brief aus der Hand.
Schw.: „Meine
Kasse hab‘ ich abgeschlossen, abgerechnet.
Nichts blieb übrig,
Außer einem kleinen Manko.
Das lass ich so stehen wie es ist
Und in der Kasse liegen.
Ich bin Kassenwart, die Kasse stimmt.
Ich hatte nichts, als diese Kasse.
Diese Kasse war mein Ein und Alles.
Ich bin Kassenwart, die Kasse stimmt.
Im Arbeitslager Sasel gilt die
Regelung:
Man hat mit den Insassinnen ganz
pünktlich
Zu beginnen.
Arbeitszeit beginnt bei Sonnenaufgang,
Endet mit dem Sonnenuntergang.
Ich bin nur Kassenwart,
Ich achte nur auf diese Regelung,
Damit die Kasse stimmt.
Als
Arbeit haben alle Inhaftierten
Schwerstarbeit zu leisten, wie zum
Beispiel
Trümmerräumen in der Innenstadt.
Dazu gehören Erdarbeiten für die
Plattenhäuser
Vor den Toren unsrer Vaterstadt, in
Sasel.
Ich bin Kassenwart. Zum Schluss soll
meine Kasse
Stimmen.
Diese Stadt soll keiner dieser Frauen
jemals
Stadt der Väter werden.
Dort am Pfefferminzkamp soll‘n sie
graben,
Fundamente ziehen und beginnen.
Ich als Kassenwart, muss meine Augen
Auf sie richten, dass die Kasse stimmt.
So haben sie im Kettenwerk von Langenhorn
Zu schaffen und sind in der Produktion
Für Hülsen von Granaten und Kartuschen
zu verwenden.
Ich, als Kassenwart, muss alle drängen,
Dass die Kasse stimmt.
Man hat die Frauen zu verbrauchen.
Sind erschöpfend zu verbrauchen.
Soll‘n als erstes zu den Plattenhäusern
Schienen legen, dass sie darauf Loren
schieben können.
Diese kleinen Wagen.
Das belastet meine Kasse sehr.
Denn ich, als Kassenwart, muss darauf
achten,
Dass die Kasse schließlich stimmt.
Ihr fangt mit euren Schienen an.
Am Bahnhof Poppenbüttel.
Wartet mir die Loren gut, und was
kaputtgeht
Müsst ihr selber reparieren.
Denkt daran: ich bin der Kassenwart und
sehe alles.
Weiter sind die Frauen für die
Atemschutzfabrik
In Barmbek vorzusehen.
Gummimasken soll‘n sie da verkleben.
Das bringt viel für meine Kasse.
Das ist gut, denn ich bin Kassenwart
Und muss auf diese Dinge achten.
Außerdem sind Bombenopfer einzusammeln,
Aufzulisten und in Ohlsdorf zu
begraben.
Diese Arbeit kann man uns‘re eignen
Frauen
Nicht verrichten lassen, das wär‘ eine
Schande.
Nicht nur für die Frauen.
Nein, das fiele aufs Regime zurück.
Beim Einsatz gibt es keinen
Unterschied.
Nicht zwischen männlich, weiblich,
krank, gesund.
Als Kassenwart muss ich auf alles
achten.
Wer fragt später schon nach irgendeinem
Grund?
Von mir will man doch nur das eine
wissen,
Stimmt die Kasse?
Also sind die Inhaftierten völlig
gleich zu setzen.
Sind einander gleichzusetzen!
Sonst ist jede Gleichheit zur
Bevölkerung
Natürlich ausgesetzt.
Und noch ein Punkt!
Bekleidung ist dem Ziel, den Häftling
auszuschöpfen
Anzupassen, sie muss dürftig sein.
Auf Arbeitsschutz soll ganz verzichtet
werden.
Das würd‘ meine Kasse auch nicht tragen
können.
Ich, als Kassenwart, müsst‘
protestieren.
Schließlich soll die Kasse ja Gewinn
ausweisen.
Das heißt das, wenn jemand sagt, wie
ich,
Die Kasse stimmt. Und meine Kasse
stimmt.
Es werden unverzichtbar Opfer
Unter ihnen sein.
Die soll man nicht beklagen
Sondern aus der Liste streichen.
So ist diese Regelung, die gilt für alle.
Es ist dabei gleich, ob es ein Unfall
Bei den Loren ist, in der Fabrik,
Auch wenn es einfach Krankheit ist.
1.Jug.: Die haben doch ein Totenbuch geführt.
Das liegt noch im Archiv.
Da wurden 35 einfach ausgestrichen.
2.Jug.: Passt die Totenliste rein.
Du weißt doch. Die sie
uns gegeben haben.
Schw.: Für
den Winter rechnen wir mit weiteren.
Die brauchen einzeln
nicht erfasst zu werden.
2. Jug.: Das sind Tiere!
Schw.: Ich
als Kassenwart, führ‘ nur die Kasse
Und die führ‘ ich richtig, dass sie
stimmt.
Dabei beruf ich mich auf unsren
Schwarzhemdhauptverwaltungsleiter Pohl.
Von dem kommt der Befehl.
Den les‘ ich vor und leg‘ ihn als Beleg
In meine Kasse:
Die Entscheidung über alles liegt beim
Lager.
Anvertraute Unvertraute sind
erschöpfend zu verwenden
Und im wahrsten Sinn des Wortes zu
verwerten,
Zu erschöpfen.
Höchstes Maß an Leistung ist im Lager
zu erreichen.
Die Ernährung ist dem anzupassen,
Nicht, um noch Reserven anzulegen.
Keine Vorratshaltung.
Beispiel Sasel lässt sich gut
verwenden.
Soweit der Befehl, soweit die Regelung.
Und nun zu meiner Kasse, dass man
sieht,
Wie abgerechnet wird, wie schwer es ist
Ein Kassenwart zu sein,
Dass schließlich alles stimmt.
Mich wird man später fragen, mich,
sonst keinen.
Lohn wird nicht gezahlt!
Nur so zahlt es sich aus.
Was übrig ist, wird abgeführt.
Ich bin da ganz genau.
Als Kassenwart wird man ja nicht
gefragt,
Wie man geschlafen hat, und wie‘s so geht!
Man will nur eines wissen, stimmt die Kasse?
Die Fabriken haben jeden Tag für jede
Frau
Vier Mark zu zahlen. Die sind
festgesetzt.
Das Geld erhalte ich, das geht in meine
Kasse.
Was ich kriege, führ‘ ich ab.
In einem Monat könn‘n es 50.000 Mark
sein.
Ja, bei fünfmal hundert Frauen.
Das ist Tagegeld. Das buche ich und
führ‘ es ab.
Gewissenhaft. Denn ich bin Kassenwart.
So füllt sich unsre Kasse.
Mit dem Geld verstärken wir die Kraft der
Wirtschaftsunternehmen, dieser und auch
andrer Art.
Dazu gehören auch private Unternehmen.
Und die Väter unsrer Stadt.
Die messen mit demselben Maß.
Für mich als Kassenwart ist das nicht
mehr so wichtig.
Weil ich nur die eine Sorge hab‘,
Dass meine Kasse stimmt.
1 .Jug.: Die Väter unsrer Stadt war‘n auch dabei?
2.Jug.: Na
klar, was denkst denn du.
Die haben den Gewinn gerochen.
1.Jug.: Die, als Väter unsrer
Stadt,
Vermaßen sich, mit diesem Maß zu messen?
2.Jug.: Und gewannen dadurch.
1.Jug.: Und verloren Unermessliches.
2.Jug.: Was die verloren, war für die nicht messbar.
1.Jug.: Und
die nannten sich die Väter unsrer Stadt.
2.Jug.: Die
waren viel beschäftigt mit Verstoßen
Und Vermessen sein.
3.Jug.: Die
Groschen in der Kasse sind nichts wert.
1.Jug.: Das
kannst du so nicht sagen.
Sie nehmen das Geld heraus aus der
Kasse und reichen es herum.
1.Jug.: Seht
euch doch das Geld an.
3.Jug.: Diese
Groschen sind ein Wert,
Den kann kein Mensch bezahlen.
Was der Kassenwart geschrieben hat,
glaub‘ ich,
Ist echt und wahr.
1.Jug.: Man
wünschte, dass es nie Papier
Für diese
Niederschrift hätt‘ geben müssen.
3.Jug.: Welch
ein Abgrund.
Jetzt sieht man ins Lager als in eine
Wechselstube, die das Blut direkt
In Groschen tauschte.
2. Akt, 1.Bild. Verkehrte Welt
Ein Klassenraum mit drei Gruppen: Die
Insassinnen,
die Bewacherinnen, die Erwachsenen aus Sasel.
Davor die Jugendlichen.
Frau K.: Damals hofften alle auf das Ende.
Irgendwie ein Ende.
Alle dachten so.
Und jeder dachte so auf seine Weise.
Man versprach sich ungeheure Dinge,
Wenn das Ende kommen würde.
Endlich würd‘ man
wieder Seife haben.
Bew’in.: Die Bevölkerung sah uns mit schiefen Augen an.
Wir taten auch nur unsre Pflicht.
Frau K.: Von Ihnen wussten wir doch gar nichts.
Die da drüben. Denen ging es wirklich
schlecht.
Das Ende dieses Krieges
War noch lange nicht das Ende,
Und der Anfang dieses Endes
War für viele noch das Ende.
In den letzten Tagen brachte man von
denen
Wieder welche weg nach
Bergen-Belsen.
Bew'in.: Ist doch alles Unsinn!
Frau K.: Woll‘n Sie etwa leugnen?
1.Ins.: In
den letzten Tagen flohen einige von uns.
Die
brachen einfach aus.
Bew’in.: Das hätten die doch nie geschafft.
Frau K.: Das wissen alle noch.
Es treten mehrere Insassinnen auf,
zusammengepfercht
von zwei Bewacherinnen.
Ein Polizist stellt sich ihnen in den Weg.
Pol.: Wo
soll‘n denn die noch hin?
Bew’in.: Die werden überführt.
Pol.: Dann
muss ich die Papiere sehen.
Gibt's Papiere?
Bew’in.: Jetzt Papiere? Mann, wo leb‘n Sie denn.
Wir haben Krieg!
Pol.: Natürlich,
hab‘ ich mir gedacht.
Einige der Insassinnen brechen in diesem
Augenblick
aus und können fliehen. Der Polizist tut
nichts.
Bew’in.: Sie sind verrückt!
Wohl wahnsinnig geworden?
Die hau‘n ab! Die fliehen! Sie, die
fliehen doch!
Gruppen wieder ab.
Frau K.: Der Polizist wird später
Von der englischen Besatzungsmacht verurteilt.
Das verstand kein Mensch.
Wir fragten alle nach den Gründen.
Niemand konnte das verstehen.
Aus der Gruppe der Bewacherinnen springt eine
auf
und beginnt einer der Insassinnen die Lumpen
vom Leib zu reißen.
Ihre eigene Kleidung wirft sie der vor die
Füße.
Sie zieht die Lumpen an.
Frau K.: Das ist typisch.
Denen sitzt die Angst im Nacken. Die
flieht sicher.
Die Besatzungsmacht soll kommen.
Na, die fängt sie sicher wieder ein.
Wir haben einige von ihnen aus der
„Alten Mühle“
Rausgeholt.
Bew’in.: Zieh‘ die Klamotten aus! Gib her.
Kriegst meine Sachen. Los beei‘l dich,
mach schon zu.
Gib her. Na gib schon! Gib schon her!
Bew’in. flieht. Insassin hängt sich die
Kleidung über.
Frau K.: Das Frühjahr war vier Wochen alt....
2.Ins.: Ich
weiß, und trotzdem weiß ich nichts...
Frau K.: Es war genau vier Wochen alt,
Da starben in dem Lager etliche der
Frauen.
Das fiel auf.
Wir Saseler vermuteten, dass man sie
tötete.
Warum? Wenn sie‘s nicht weiß, nicht
sagt...
Vielleicht, weil sie von allem zu viel
wussten.
Herr N.: Also, ich muss auch mal etwas sagen:
Damals war ich grade 15 Jahre alt.
Für mich war diese Zeit die größte
meines Lebens.
Ich war in der Hitlerjugend. Mit
Begeisterung!
Das geb‘ ich zu.
Ich müsste lügen,
Wenn es nicht die Wahrheit wäre.
Damals war ich wirklich voll
Begeisterung.
Das war natürlich vor dem Ende.
Ich hab‘ miterlebt, wie die
Besatzungsmacht
Die Lagertore aufschlug.
Drinnen gab es plötzlich
Keine einzige Bewacherin.
Die waren wie verschluckt.
Die waren in ein Nichts verschwunden.
Ein paar Wachen war‘n noch da.
Das war auch alles. Außer den
Insassinnen natürlich.
Die erzählten nichts.
Die Flak war abmontiert. Das sah ich
gleich.
Ich kam von der Marine.
Die Besatzung, die die Tore öffnen
sollte,
Hatte keine Ahnung.
Da war nur so etwas wie Verdacht
gewesen:
„Irgendetwas soll in Sasel sein“.
Die wussten gar nichts, als sie vor dem
Lager standen.
Stacheldraht, der um das Lager lief,
War voll mit den Gefangenen.
Die hingen drin und rissen an dem
Gitter.
Die lnsassinnen schreien:
Ins.: Wir
sind frei, frei, frei!
Herr N.: Es war so paradox.
Sie kamen noch nicht frei,
Weil niemand einen Schlüssel hatte.
Frau K.: Wir in Sasel hörten ihre Schreie.
Wir erstarrten. Diese Schreie wird‘ ich
nie
Vergessen.
Die bring‘n alle um.
Das war das erste, was ich dachte.
Die komm‘n raus und bringen alle um.
Wir hatten plötzlich Angst. Natürlich.
War doch klar.
Herr N.: Dann haben die das Tor
Gewaltsam aufgemacht.
Man kann sich das nicht vorstell‘n.
Ins.: Tommys,
Tommys, Tommys! ! !
Wir sind frei, frei, frei! !
Herr N.: Keiner hätte sie zur Ruhe bringen können.
Die verliefen sich sofort in Sasel.
Frau K.: Ach, was, dummes Zeug.
Die wussten gleich, wohin sie wollten.
Zur Fabrik. Natürlich zur Fabrik.
Da standen doch die Marmeladenfässer.
Die zerrissen sie. Die hab‘n sie
aufgerissen!
Ihre Gier nach Süße.
Ja, die hungerten nach Süße.
Das war‘n Judenfrauen, Polinnen
Und auch Zigeunerinnen.
Herr N.: Na, das weiß ich nicht.
Man fing sie alle wieder ein.
Die mussten medizinische Versorgung
kriegen.
Erst paar Tage später wurd‘ das Lager
Offiziell befreit und aufgeschlossen.
Frau K.: Uns‘re ganze Gegend fürchtete ein Chaos.
Herr N.: Die Soldaten auch.
Frau K.: Es kamen Angehörige aus Auschwitz,
Buchenwald und andren Lagern,
Um die Frauen abzuholen...
1.Ins.: Das
betraf nur ganz, ganz wenige.
Wir andren mussten betteln gehen.
Eine Frau, die das Dilemma sah,
Rief eine Kleidersammlung
Unter der Bevölkerung ins Leben.
Ja, organisierte so was einfach.
2.Ins.: Andre
schimpften über uns!
„Jetzt
komm‘n sie wieder stehlen, betteln.
Das Zigeunerpack“.
Wir haben dann vor denen
Sie zieht ihr Kleid, aus, so dass man
Striemen auf ihrem Körper sieht.
2.Ins.: Uns‘re
Kleider ausgezogen.
Das ging schnell. Ruck zuck.
Dann konnten sie die Striemen sehen,
Die wir überall am Körper hatten.
Sie zieht das Kleid wieder an.
Herr N.: Viele von den Frauen
Taten sich zusammen.
Damals hatten wir Soldaten aufgenommen,
Zwei, soviel ich weiß.
Wir waren grade drüben in der
Tannenschonung,
Um ein bisschen Holz zu suchen.
Plötzlich tauchten Frauen auf.
Zwei Schwärme. Dann noch einer.
Jeweils 5o oder 6o Frauen.
Alle schlichen auf die Sportbaracke zu.
Die kamen Richtung „Alte Mühle",
„Redder Mellingburg“.
Dann sah‘n wir, wie Bewacherinnen
Aus den Fenstern kletterten
Und fliehen wollten.
Draußen war‘n sie schnell,
Doch dann entdeckten sie,
Dass an Entkommen nicht zu denken war.
Zurück ging‘s auch nicht.
Blitzschnell war‘n die Frauen da.
An denen wollten sie natürlich
Ihre ungeheure Wut auslassen.
Nur an einer nicht.
Die hielten sie in einem kleinen Kreis
geschützt.
Den andren rissen sie die Haare aus.
Dann kam auch schon ein Jeep.
Der konnte alles Schlimmere verhindern.
Der lud die Bewacherinnen auf
Und fuhr mit ihnen weg.
Da mussten die ihr Strafgericht
beenden.
2.Ins.: Weil
die Tommys sich zu falschen Rettern machten.
Herr N.: Schon nach 14 Tagen hieß es:
„Alles ist gelaufen“.
Drüben war kein Mensch im Lager mehr.
Was brennen konnte, wurde abgebrannt.
Wir staunten lange über die
Bewacherinnen,
Dass die doch so wenig klug gewesen
waren,
Dass sie sich so nah beim Lager
Ein Versteck erhofften.
Wir in Sasel,
Ich seh‘ ab von ganz, ganz wenigen,
Sind nicht in der Partei gewesen.
Alle war‘n verschrien als „Sozis“
Und als Kommunisten.
Immer wieder hieß es:
„Halt den Mund und schweige.
Schweige, wenn du nicht für immer
schweigen willst.
Die hol‘n dich sonst."
Vom Lager hab‘n die meisten nichts
gewusst.
2.Ins.: Oh
Gott, wie soll man das ertragen.
Herr N.: Außerdem war ich ja damals Pimpf.
War in der Hitlerjugend.
Ich war richtig überzeugt.
Man muss versuchen sich das
vorzustellen:
Ich war das, was man das Bild von einem
Hitlerjungen nannte.
Blond, mit blauen Augen,
Scheitel auf der linken Seite,
Fröhlich, aufrecht.
Wie aus einem Bilderbuch.
Ich dachte damals, als ich Pimpf war,
Über die KZ‘s:
Die haben ihre Ordnung,
Und die haben ihren Sinn.
Da sitzen nur die Minderwertigen,
Die Arbeitsscheuen und die falschen
Rassen.
Ich sang gut und war in
Hitlerjugendchor.
Zwei Jahre zog ich an die Front
Zu den Soldaten und in Lazarette.
„Um die Herzen zu erfreuen und zu
stärken“.
Was wir sangen?
Na, am liebsten Lieder von „Blutroter
Sonne,
Die im Lande aufging“.
Nach dem Singen trat ich auf,
Sprach ein Gedicht.
Das stand total im Gegensatz zu dem,
Was ich Zuhause sah,
Nein, hätte sehen müssen und nicht sah
Und auch nicht übersah.
In Wahrheit zeigten wir mit unsren Liedern
Die verkehrte Welt,
Die ganz verkehrte Seite.
Leider hab‘ ich nie darüber
nachgedacht.
Nein, leider.
Die Insassinnen, Bewacherinnen und
Erwachsenen erstarren zu Figuren.
1.Jug.: So
wie die erzählen und berichten..
2.Jug.: N.
hat nie darüber nachgedacht!
3.Jug.: Bestimmt
auch heut‘ noch nicht.
1.Jug.: Der
denkt nur noch an damals, damals, damals.
Wenn ich das schon höre...
2.Jug.: Ist
so schlimm, als wenn mein Vater sagt:
„Als ich in deinem Alter war..“
1.Jug.: Und
meine Mutter:
„Wir sind auch mal jung gewesen. Damals
mussten wir..“
2.Jug.: Die
mit ihren Damals.
Das entschuldigt alles.
Hast ganz recht.
3.Jug.: Das
Damals ist und bleibt für die ein Stolperstein.
Ein ganz verfluchter Stolperstein.
Die kommen nicht darüber weg.
1.Jug.: So,
wie die das machen,
Wie die das erzählen,
Machen sie die Lebenden zu Toten.
2.Jug.: Ja,
sich selbst.
Sie nehmen sich nicht aus.
1.Jug.: Und
merken es noch nicht einmal,
3.Jug.: Bezieh‘n sich gleich mit ein.
Ich meine, was ist eine Zukunft,
Wenn es keine Hoffnung, keine Liebe,
Keinen Glauben darin gibt.
Und die, die hab‘n doch nicht ein
Fünkchen Hoffnung.
Denken auch darüber überhaupt nicht
nach.
1.Jug.: Die
eine denkt an Seife.
2.Jug.: Toll.
Genau. Die denkt an Seife.
3.Jug.: Zeigen
keine Liebe.
Nicht zu sich, nicht zu den and‘ren,
nichts.
Von Liebe keine Spur.
1.Jug.: Die
hatt es sicher auch gegeben.
3.Jug.: Die
erzählen aber nichts davon.
Dann ist sie denen auch nicht wichtig.
Keine Liebe!
Stellt euch das bloß vor.
Und seht sie an.
Die sind doch wie versteinert.
1.Jug.: Das
ist ungerecht.
Denk‘ an die Frau‘n im Lager.
Denen blieb doch wirklich keine Wahl.
3.Jug.: Vom
Glauben will ich gar nicht reden.
Aber keine hat davon
erzählt.
Die Sas‘ler nicht, nicht die
Bewacherinnen,
Und nicht eine der Insassinnen.
1.Jug.: Die
hatten keine Wahl.
3.Jug.: Mir
wär‘s ein Trost zu wissen,
Dass man mit dem Glauben sterben kann.
Ich hätt' das gern‘ gehört,
Ihr sitzt nur da,
Und haltet euch die fette Plauze.
Aber wisst ihr denn, was uns noch
blüht?!
Der Klassenraum. 3. Jugendlicher tritt
auf.
3.Jug.: Immer
wieder gibt es Leute,
Die in Listen leben.
Heute mehr denn je.
Vielleicht gehör‘ ich auch zu denen.
Immer wieder gibt es Leute,
Die das Leben andrer durch die Siebe
gießen
Und den Rest betrachten.
Den vermerken sie,
Und sie vermerken so wie hier,
Die Grausamkeiten, sehen auf das
Massenelend.
Sehen auf die vielen, vielen, vielen...
Schwer ist es, ja fast unmöglich,
Nur ein Einzelschicksal zu erfassen.
Stimmen hörten wir, nichts weiter.
Alles Stimmen, die wir hörten.
Weiter nichts als Echos, die uns
trafen.
Wir sind junge Hörer. Ich bin jung.
Ich habe damals, wieder damals,...
Ich hab‘ in der Zeit noch nicht gelebt,
Verdammt noch mal.
Ich will es wissen.
Ich erfahre nichts. Das ist doch nur
Gewäsch, ist alles wischi waschi.
Jeder dreht dem anderen das Wort im
Mund herum.
Die wissen nicht mal mehr,
Was die Insassinnen getragen haben.
War‘n sie nun in Lumpen, Decken,
Sträflingskleidung?
Trugen sie den gelben Stern?
Wie war das mit der Nummer auf der Kleidung.
Einer sagt, die hatten Holzpantinen an,
Die andren sagen, dass sie
Lappen um die Füße wickeln mussten.
Was ist wahr, was soll ich glauben.
Und die Ruferinnen selbst,
Die Frauen, die im Lager saßen, bleiben
ungehört.
Von denen, was sie sagten, was sie
dachten,
Wird doch nichts erzählt.
Nur, was die Sas‘ler dachten,
Und die dachten doch zuerst an sich,
Na klar, die dachten erst mal an sich
selbst.
Und wenn sie sich erinnern,
Dann an das Geschrei des Nachts,
Ans Schreien unter kalten Duschen,
An die Hungerschreie,
An die Schreie: „Wir sind frei, sind
frei, sind frei!
Ich denke an die stummen Namensschreie,
Die man höchstens in den
Friedhofslisten Bergstedts
Findet.
Was ich meine, was ich nicht verstehen kann:
Muss jede Suche nach dem
Einzelschicksal
So verebben?
Handelte es sich selbst hier in Sasel
Nicht um eine Flut,
Die nur aus Einzelschicksalen bestand?
Die kleine Frau aus Frankreich
Hat sich später wirklich bei Frau E.
bedankt.
Ja, Seife hat sie auch bekommen.
Frau E tritt auf. Sie hat
Häftlingskleider an.
Frau E.: Ich heiße E. Frau E.
Ich habe mit der andren nichts zu tun.
Ein Einzelschicksal will er haben.
Schöne Worte. Meinetwegen.
Einzelschicksal.
Steh‘n zu Tausenden in tausend
Protokollen.
Kann ihn ja verstehen. Ja ich spüre,
was die wollen.
Könn‘n doch nicht begreifen,
Wie man überhaupt nach Sasel kam. Ins
Lager.
Wie das zuging. Ja, das woll‘n die
wissen,
Das ist dann ein Einzelschicksal.
Außerdem hat mich bis jetzt kein Mensch
gefragt.
Mein Einzelschicksal war nicht wert
genug.
Ich leb‘ ja noch.
Vielleicht gabt s auch zu viele andere.
Natürlich.
Hab‘ mein Leben noch. Bin lebend da
herausgekommen.
Nein, mein Leben steht in keinem Protokoll.
Nicht mal mein Name: E.
Wie viele heißen E.
Das könn‘n die jungen Leute gar nicht
wissen.
Könn‘n sie nicht, woher auch.
Ich bin die, die noch in einem, in dem
letzten dieser
Plattenhäuser, wohnt.
Ich bin geblieben. Alle andren...
Weiß nicht... weg, nur weg vielleicht..
Weit weg.
Australien, nach Amerika, Jerusalem und
Frankreich.
Alle dachten damals doch nur
Raus und weg von hier.
Ich war die einzige die bleiben wollte
Und die blieb.
Berlin. Ja, angefangen hat es in
Berlin.
Man hat mich einfach festgenommen,
Als Zigeunerin verschleppt.
Das war Verschleppung! Ab nach
Ravensbrück.
Gleich ins KZ.
Da kriegten wir Kommando:
Straßenarbeit.
Will ich nicht erzählen.
Will was anderes erzählen.
Im KZ traf ich auf meine eigene Kusine.
Es tritt eine junge schöne, schwangere Frau
auf.
Frau E.: Sulejka, du bist hier? Mein Gott!
Du kriegst ein Kind?
In diesem Zustand hier?
Die Kusine weint sofort.
Ein Bewacher stürzt herein und reißt die
junge Frau zurück.
Kus.: Das
war‘n die hier...! Die Sch..
Frau E.: Mein Gott, sei still!
Der Bewacher schlägt auf die Kusine ein.
Bew‘er. und Kusine. ab.
Frau E.: Sulejka war ein wunderschönes Mädchen.
Der Bewacher kommt zurück.
Bew‘er.: Bist noch da?
Der Bewacher. grapscht ihren Körper ab.
Bew‘er.: Nicht schlecht, Wir suchen sowas.
Kannst Modell für unsren Häuptling
werden.
Kommst hier raus.
Mach dich ‘n bisschen hübsch.
Ich komm‘ gleich wieder.
Bring‘ dann jemand mit.
Dann wird Appell gemacht.
Wir brauchen viele.
Könnt uns zeigen, was ihr bieten könnt.
Bewacher geht.
Frau E.: Modell! Für die.
Ich weiß Bescheid.
Die brauchen Weiber fürs Bordell
Und weiter nichts.
Mit mir macht ihr das nicht!
Frau E. besudelt sich hastig mit Dreck,
Abfall, Asche.
Dann kommen drei Bew’er. zurück.
1.Bew’er.: Wo sind denn nun die Weiber.
Frau E. springt hoch.
Frau E.: Hier. Ich möchte mit! Freiwillig.
Weiß
doch, was ihr wollt.
2.Bew’er:. Dir tret ich doch..
2. Bewacher läuft auf sie zu.
1.Bew‘er.: Vergiss die. Widerliches Miststück.
Wo
sind denn die anderen.
Frau E.: Ich möchte mit. Freiwillig.
Ich
hab‘ noch Figur!
2.Bew‘er.: Hau ab, du alte Drecksau!
Er trifft sie mit dem Fuß, dass sie in die
Ecke fliegt. Bewacher und alle ab.
Frau E. steht auf und reinigt sich wieder.
Frau E.: Das war meine Rettung.
So hatt' ich mir das gewünscht.
Die andren dachten, das ist nicht so
schlimm.
Die haben insgesamt 5oo Frauen
ausgesucht.
Sulejka war bei denen nicht dabei.
Von all den Frauen kamen zwei zurück.
Ich hatte ja gedacht,
Die andren müssten für „die hohen
Tiere" ins Bordell,
Totaler Schwachsinn.
War zu dumm. Ich konnte es nicht
besser,
Nein, nicht schlechter wissen.
Hätten sowieso nicht eine vom KZ genommen.
Hab‘n sie alle totgespritzt.
Ganz einfach totgespritzt.
In unsrem Lager. Einfach so.
Mit Waschbenzin.
Man spritzte sie mit Waschbenzin zu
Tode.
Pause.
Frau E.: Sulejka kam mir aus den Augen.
Blieb in Ravensbrück.
Ich kam ins Arbeitslager Barth. In
Pommern.
Von Sulejka konnte ich natürlich nichts
erfahren.
Die hab‘n mir gleich beigebracht zu
nieten.
Flugzeugteile mussten wir vernieten.
Alles war so schlimm.
Man durfte nicht den kleinsten Fehler
machen.
Ein Bewacher kommt mit zwei jungen Mädchen
auf sie zu.
Die Mädchen sind vielleicht 14 oder 15 Jahre
alt. Bewacher zu Frau E.
Bew‘er.: Lass dir das eine Lehre sein.
Für deine Arbeit. Die sind Saboteure.
Die Mädchen sind völlig leer und starr.
Bew‘er.: Hab‘n ihr Werkzeug eingenietet.
Stellt euch rüber an die Wand!
Bewacher legt mit dem Gewehr an und erschießt
sie schnell nacheinander.
Bewacher ab.
Frau E.: Das war‘n ganz junge Dinger.
14 oder 15. Und von Sabotage hatten die
Nie was gehört.
Sie waren einfach überfordert, hatten sich
versehn..
Schon war‘s passiert.
Die sind am selben Tag erschossen
worden.
Frau E. schluchzt und weint.
Frau E.: Dann ging‘s wieder ab. Nach Langenhorn.
Ins Kettenwerk.
Dazwischen lagen andere Transporte.
Grauenhaft!
Einzelschicksal! Welches, meines?
Das der anderen, der Toten?
Grausam waren die Transporte. Grausam.
Nein, es gibt kein Wort dafür.
Ich werd‘ davon nicht viel erzählen,
Soviel nur:
Es hieß, steigt ein. Ihr fahrt paar
Stunden.
Die Bewacher pferchten alle in den Zug.
Von außen wurde abgeschlossen.
Dann ließ man uns reisen.
Reisen nicht, wir wurden transportiert.
Wir waren manchmal wochenlang in den
Waggons.
Die Wagen wurden zwischendurch
Nicht aufgeschlossen.
Nichts passierte, nichts.
Wir standen, reisten, hielten uns,
Wir fuhren, standen wieder still.
Die Toten lagen unter uns.
Wir ließen sie am Boden liegen.
Unsren eigenen Urin vor Durst...
Wir tranken unsren eigenen Urin
Und aßen Fleisch...
Frau E. muss sich übergeben.
Frau E.: Wir aßen Fleisch, das wir in Fetzen
Von den Körpern der Verstorb‘nen
rissen.
Einzelschicksal!
Was zählt da ein Einzelschicksal?
Nichts, nichts, nichts.
Die Leichen blieben später einfach im
Waggon.
Pause
Frau E.: Von Langenhorn nach Sasel war‘s ein Katzensprung.
Für Hamburg war‘n es Orte vor der
Stadt.
In Sasel traf ich auf Sulejka.
Sulejka kommt herein gewankt. Sie bricht
zusammen.
Sul.: Vergewaltigt...
von den Wachen...
...Kind ist tot... da drüben… liegt in
Dreck..
...Mutti, weißt du was von ihr..?
Sulejka stirbt.
Frau E.: Sie starb bevor ich etwas sagen konnte.
Ihre Mutter war schon tot; schon lange.
Hatte man schon vor ihr umgebracht.
In ihrer Faust fand ich noch einen
Zettel.
Frau E. nimmt aus Sulejkas Faust einen Zettel
und liest.
Frau E.: „Liebe Mutti...“
Weiter nichts? Nein, weiter nichts.
War auch ein Einzelschicksal.
Und? Was ist geblieben?
Sie wurd‘ richtig beigesetzt, beerdigt.
Bergstedt glaub' ich, heißt der
Friedhof.
Starb so nah am Ende.
Gleich danach brach man die Türen auf.
Wir waren tausend Frauen.
Alle hatten an den Plattenhäusern
Bauen müssen.
Ach, noch kurz vorm Ende…
Eine Bewacherin kommt herein gestürmt und
reißt ihr die Häftlingskleidung von Leib.
Bew’in.: Gib die Sachen! Schnell, mach zu gib her.
Zieh
meine an! Ruck zuck!
Bewacherin läuft mit den Häftlingskleidern
davon. Frau E. hängt sich die Sachen um.
Frau E.: Die waren plötzlich alle weg. Gefloh‘n.
Es kamen Zollbeamte.
Die war‘n nett und freundlich.
Später wurde alles abgebrannt.
Das machte die Besatzungsmacht.
Das „Rote Kreuz“ war hier und schaffte
viele
In die Heimat.
Pause.
Frau E.: Einzelschicksal.
Nein, ich weiß nicht, was das ist.
Ein Einzelschicksal gab es nicht,
Ich könnte keins erzählen, wirklich
nicht.
Ein Einzelschicksal gab es nicht, nicht
eines.
Niemand konnte mehr von einem
Einzelschicksal reden.
Der Klassenraum. Frau U. tritt auf.
Im Hintergrund die rhythmischen Geräusche
schwerer Stanzmaschinen.
Frau U.: Heute bin ich Lehrerin.
Als alles für mich anfing,
War ich noch Studentin.
Frau U. nimmt, wie im 1. Akt, 1. Bild, ihr
Kopftuch ab und ist nun ein junges Mädchen.
Frau U.: Meine Liebe war das erste Opfer.
Niemand konnt‘ mir später sagen,
Was aus ihm geworden war.
Ich war in großer Not, in Liebesnot,
Weil die mich holten.
Uni. konnte ich vergessen. Nichts da.
Die Studiererei! Ein Witz!
Mein neues Wissen steckte in der
Munitionsfabrik.
Ich musste mich entscheiden zwischen
Schaffnerin auf einer Straßenbahn
Und der Fabrik.
Ich habe mich entschieden.
Auf der Straßenbahn zu fahren traute
ich mich nicht.
Vor jedem Bombenangriff hab‘ ich Angst
gehabt.
Die müsst ich auf der Straßenbahn
Spazierenfahren.
Nein, da geh ich lieber in die
Produktion
Nach Ochsenzoll. Gleich neben Langenhorn.
Ich leiste Kriegseinsatz im Kettenwerk.
Die riesigen Maschinen reichen bis zur
Decke,
Seh‘n wie richtige Gebärmaschinen aus.
Die hab‘n die Beine breitgestellt,
Man sieht in ihre Schöße,
Und sie spucken ohne Unterbrechung
Ihre Hülsen für Granaten aus.
Das hört und hört nicht auf.
Gebärmaschinen. Riesige Gebärmaschinen.
Die gebären die Verpackung für den Tod.
Wir Frauen, Mädchen,
Müssen uns daran zu schaffen machen.
Mädchen, Frauen sind wir nicht.
Zwölf Wochen lang
Bin ich geschult und angewiesen worden.
Die da drinnen sind Gefangene.
Mit denen durften wir kein Wörtchen
wechseln.
Wir vermessen Hülsen, Hülsen für
Granaten.
Immer nur die Hülsen.
Es taucht eine Bewacherin auf. Hinter ihr
erscheinen
einige junge Frauen, die sich auf Hocker
setzen und Hülsen vermessen.
Frau U.: Anfangs ist der Lärm fast schmerzhaft,
Dann gewöhnt man sich daran.
Der Lärm wird leiser und stört nicht
mehr.
Frau U. geht auf einen der Hocker zu.
Frau U.: Ich kenn‘ mich überhaupt nicht aus.
Den andren Frauen gegenüber schäm ich mich.
Ich glaube das sind alles Jüdinnen.
Die soll‘n aus Sasel kommen.
Wohn‘n hier aber in Baracken.
Dürfen das Gelände nicht verlassen.
Die Frauen sind relativ gut angezogen und
nicht verwahrlost.
Bew’in.: Merkt euch:
Jede, die hier quatscht,
Wird abgeführt.
Ihr kommt vors Kriegsgericht!
Es darf kein Häftling mit Zivilpersonen
reden.
U. du bist gemeint.
Das gilt auch umgekehrt.
Mach deine Arbeit.
Rede nicht mit den Gefangenen.
Mach deine Arbeit und sonst nichts.
Die Bewacherin wendet sich etwas ab.
Das weitere Gespräch findet nun als Singsang
zwischen den Gefangenen und Frau U statt.
1.Häft.: Ich wär‘ froh, wenn ich als Zivilistin…
2.Häft.: Könntest mir was bringen…
1.Häft.: Was würd’st du dir wünschen…
Brauchtest es mir nur zu sagen.
2.Häft.: Würdest du als Zivilistin eine Kleinigkeit
Von draußen mit zur Arbeit bringen?
1.Häft.: Würd‘ ich machen.
Würd‘ bei dir ja niemand merken.
2.Häft.: Nein, es würde niemand merken.
Was man so als Zivilistin bei sich hätte,
Würde man als Zivilistin
Auch behalten dürfen.
1.Häft.: Die Kontrolle würde höchstens,
Nach der Arbeit, fragen, wo die Sachen
sind.
Das wäre gar nicht schlimm.
2.Häft.: Für eine Zivilistin wär‘ das leicht.
Die brauchte nur zu sagen:
Ach, das war nichts wert,
Das hab‘ ich wohl verloren oder
liegenlassen,
Morgen Abend zeig‘ ich‘s vor.
1.Häft.: Sie könnt‘ auch sagen:
Wenn Sie‘s finden,
Sagen Sie mir dann Bescheid?
2.Häft.: Als Zivilistin könnte man das machen.
Pause.
1.Häft.: Was wir dringend brauchten,
Wäre etwas Band...
2.Häft.: Und Gummiband..
Und eins, zwei, kleine Löffel...
1.Häft.: Und ein klitzekleines Stückchen Seife..
2.Häft.: Brauchte nur ganz klein zu sein...
Frau U. antwortet auch im Singsang.
Frau U.: Ich werd‘ mich umseh'n.
Werde dann die Sachen beim Hinausgeh'n
Einfach fallen lassen.
Achtet drauf und bückt euch schnell,
Und hebt es auf, so schnell es geht.
Pause.
Frau U.: Ich sehe auch, dass Männer,
Die an den Maschinen sitzen,
Aus den Abfallresten
Scharfe Messer schleifen.
Jedes Mal, wenn ich vorübergehe,
Hab‘ ich Angst. Die soll‘n mir ihre
Messer
Nicht mehr zeigen.
2.Häft.: Das ist kein Problem.
Ist schon erledigt.
Die hab‘n nur getestet,
Ob du auch kein Spitzel bist.
Die lassen das, die lassen das,
Die lassen das.
Bew’in.: Hört mit den Singen auf. Das kann ich nicht
Ertragen.
Wenn ihr wenigstens vom Singen
Eine Ahnung hättet.
Seid jetzt still und messt genau!
Sonst kommt ihr noch vors
Kriegsgericht.
Frau U.: Ich bin sehr froh, ich bin sehr froh,
Dass ihr nichts Schlechtes von mir denkt.
2.Häft.: Das tun wir nicht, das tun wir nicht.
Viel besser bist du auch nicht dran.
Dich hat doch auch kein Mensch gefragt,
Ob du hier herwillst.
„Hat das Fräulein Doktor etwas Zeit
Fürs Vaterland? Wir brauchen jemanden
wie Sie,
Die Hülsen für Granaten zu vermessen.
Aber nur, wenn‘s Sie nicht stört.
Ich küsse Ihre Hand, mein Fräulein
Doktor“.
1.Häft.: ‘nen Tritt ins Hinterteil
Wird sie bekommen haben:
„Hier geht‘s lang, zack, zack!“
Frau U.: Das stimmt, das stimmt!
Man hat mich einfach weggeholt.
2.Häft.: Du hast auch nichts von deinem Freund gehört?
Wir wissen ganz genau Bescheid.
Das wird schon wieder gut,
Das wird schon wieder gut, nu wart‘ man
ab.
Pause.
2.Häft.: Ich hätte eine Bitte, eine Bitte, wenn es geht.
Bew’in.: Hört mir mit dem Gejaule auf!
Das kann kein Mensch ertragen.
Macht die Arbeit und seid still.
Bew’in. hält sich die Ohren zu.
Frau U.: Du kannst ja sagen, was es ist.
2.Häft.: Vielleicht verstehst du‘s nicht.
Ich liebe ein Gedicht und hab‘ den Text
vergessen.
Das Gedicht ist sehr, sehr lang.
Von uns kommt keine raus.
Wir sind auf dem Gelände festgehalten.
Frau U.: Kenn ich es? Wie heißt es denn?
2.Häft.: Es handelt von dem König Jacob
Und dem Grafen Douglas.
Es fängt an:
„Getragen hab ich‘s sieben Jahr“.
Frau U.: Von Theodor Fontane?
Das ist lang, sehr lang, hat über zwanzig
Strophen.
Es fängt etwas anders an,
Ich kenn‘ es aber. Lieber Gott,
Das kann ich nicht besorgen.
2.Häft.: Sollst du mir auch nicht besorgen.
Frau U.: Nicht ein Schnipselchen Papier gestatten die.
2.Häft.: Ich weiß, ich weiß.
Du musst es, müsstest es ein wenig anders
machen.
Frau U.: Wie denn? Hast du einen Vorschlag?
2.Häft.: Ja, du lernst es ganz und gar
Und singst es mir dann vor
Und singst es mir dann vor.
Frau U. denkt nach.
Bew’in.: Du lieber Gott. Sie sind für zwei Minuten still.
Frau U.: Das ginge, ja, das ginge.
Bew’in.: Nein, es geht schon wieder los.
Frau U.: Ich hab‘ es schon einmal gelernt.
Ich glaube, dass es geht.
Das mach‘ ich gerne. Aber, es wird
dauern.
2.Häft.: Danke, danke, danke.
Frau U.: Was reizt dich denn an dem Lied,
An der Ballade?
2.Häft. sieht sehr verschämt zur Seite.
Frau U. singt sehr langsam weiter.
Frau U.: Welch ein Geist muss in dir wohnen,
Welch ein Freiheitswille,
Welch ein Friedenswille,
Welch ein demutsvoller Geist.
Das Lied besingt das alles,
Und es wird von einem freien Stolz
getragen,
Der wohnt sicher auch in deinem Kopf.
Ich lern‘ das Lied,
Du wirst es hören.
2.Häft.: Du musst mir das Lied ein paarmal singen.
Frau U.: Gut, das mach‘ ich.
Bew‘in und die Häftlinge erstarren zu
leblosen Figuren.
Frau U. bindet das Kopftuch wieder um, spricht normal.
Frau U. nimmt einen Mantel und legt sich den
über den Arm.
Eine der Frauen steht nun auf und geht auf
Frau U. zu.
Frau U.: Das war nach den Krieg.
Ich schäm‘ mich heute noch.
Die Frau kam auf mich zu.
Ein armes Luder. Hab mich einfach von
ihr abgewandt.
Mir ging‘s schon wieder gut.
Natürlich hätt‘ ich sie erkennen
müssen.
Meinen Mantel hätt‘ ich geben können.
Hatte ihn ja übrig.
Die Frau spricht Frau U. nicht an,
zögert und wendet sich dann ab und geht.
Frau U.: Sie ging weg.
Ich stand genau vor einer Kirche.
Auf der Straße...
Schamgefühle, Selbstvorwürfe kamen erst viel
später.
Mit dem Mantel hätt‘ ich helfen können,
Hatte ihn ja übrig.
2. Akt,4. Bild. Wen klagt ihr an
2. Häftlingsfrau in armseligen Lumpen. Wieder
der Klassenraum.
In ihm liegt ein großer Felsen.
2.Häft.: Die U. war gut zu mir.
Sie hat mich gleich verstanden.
Alles, was bei all der Not
In meinem Kopf entstanden war,
Hat sie sofort geseh‘n.
Pause.
2.Häft.: Ich habe einen Traum.
Das ist ein Tagtraum. Den träumt man am
Tag.
Ich träume ihn von Tag zu Tag.
Ich brauch‘ den Tag, um ihn zu träumen.
Dieser Traum ist nichts für nachts.
Es ist ein Bild in meinem Kopf,
Das hat ein schweres Ende und beginnt
Sich hier in meinem Kopf zu drehen.
Dieses Bild schlägt dann mit seinem
schweren Ende
Immer an dieselbe Stelle.
Ja, ich weiß,
Es schlägt das zweite Herz im Kopf.
Doch dies ist anders.
Hier in mir schlägt jemand an die feste
Wand
Und wird sie auch durchbrechen
Und zerstören,
Was wird sein, wenn alles offen liegt?
Mein Traum...
Sie dreht sich um: Es kommt ein Schwarzhemd
mit Rutenbüschel herein.
Man sieht die Axt ganz deutlich darin.
2.Häft.: Die U hat mich verstanden.
Der hätt‘ ich mich gerne weiter
mitgeteilt.
Sie hat mir das Gedicht sehr oft
gesungen.
Alles geschieht jetzt traumhaft,
unrealistisch.
Sie wirft sich dem Schwarzhemd vor die Füße
und umklammert seine Beine.
2.Häft.: Ich lass‘ Sie nicht mehr los!
Ich will, dass Sie mich hören!
Hören Sie mich an, Sie brauchen mir nur
zuzuhören,
Bitte!
Sieben Jahr‘ hab ich's getragen.
Meine Not ist groß.
Ich bitte Sie um Hilfe, lassen Sie mich
heim.
In meinem Kopf schlägt dieses zweite
Herz,
Ein fürchterliches Ding.
Sie kennen es vielleicht.
Es schlägt in einem fort
An eine und dieselbe Stelle.
Immer an dieselbe Stelle. Tag für Tag.
Es hört nicht auf.
Die Erde ist verdammt für mich.
Ich bitte Sie,
Bedenken Sie das Herz in meinem Kopf.
Nur heim, ich will nur heim.
Sie können mich versteh‘n
Sie können mich doch retten.
Wenn Sie wollen, können Sie.
Ich bin verzweifelt.
Sie beginnt ihm die Schuhe mit Spucke
und ihren
Lumpen blank zu putzen. Er steht wie
eine Salzsäule.
2.Häft.: Ich will immer Ihre Stiefel putzen,
Für mein ganzes Leben, das versprech‘
ich Ihnen.
Ihre Kleider will ich immer sauber
halten.
Immer, immer, immer. Bis ans
Lebensende.
Ja, das schwöre ich.
Ich mache mich zu Ihrer Dienerin.
In allen Dingen.
Niemand wird davon erfahren. Niemand.
Nicht ein Sterbenswort.
Ich will nur raus, befrei‘n Sie mich.
Ich weiß, was mir im Kopf an seine
Schale schlägt:
Es ist das Schicksal, das will raus.
Ich kann die Judenfrau nicht mehr
ertragen.
Was ich will, um was ich fleh‘, ja
flehe,
Das ist weiter nichts als Gnade, Gnade,
Nichts als Gnade.
Pause. Das Schwarzhemd bleibt unbewegt.
2.Häft.: Ich bin so erschöpft,
So unsagbar erschöpft,
So maßlos ausgeschöpft.
Und immer wieder findet jemand etwas,
Das er mir entreißen kann.
Es ist doch wirklich nichts mehr da!
Er-schöpft! Er-schöpft!
Verstehen Sie das doch.
Was man mir jetzt noch nimmt,
Gehört mir selbst schon längst nicht
mehr.
Es ist nur noch mein Leib.
Das ist kein Leib mehr.
Seh'n Sie ihn sich an.
Oh nein, ich schäme mich.
Ja, weiß der liebe Gott, die Scham,
Die Scham ist noch zu nehmen.
Diese Lumpen, das ist meine
Lagerkleidung,
Meine Kleidung!
Unwürdig bin ich gekleidet und
verkleidet.
Das bin ich doch nicht. Ich bin
verkleidet!
Meine Haare! Meine Haare...
Sie schlägt die Hände vors Gesicht.
2.Häft.: Ganz entstellt bin ich.
Entstellt und völlig ohne Schuld.
Die vielen Leidenskameradinnen.
Wir wissen nichts von einer Schuld.
Das muss man doch bedenken. Helfen Sie,
Ich werde Ihre Dienerin, wenn Sie uns
helfen.
Helfen Sie nur mir, ich bitte Sie, nur
mir.
Sie weint und schluchzt.
2.Häft.: Ich gebe zu, ich bin in eine Schuld vertieft,
Verstrickt, wenn Sie es wollen.
Doch die ist vor mir entstanden,
Mit der Schuld hab‘ ich doch nichts zu
tun.
Ich kann sie nicht begreifen,
Ich begreif‘ sie nicht.
Sie liegt auch nicht auf meinen
Schultern.
Aber, wenn es sein muss, lad‘ ich sie
mir auf.
Um hier herauszukommen, lad‘ ich sie
mir auf.
Ich will in Schuld verstrickt sein, ja,
ich will!
Sie haben Macht.
Sie haben große Macht.
Sie haben übergroße Macht, der beug‘
ich mich.
Ich will mich vor ihr beugen.
Hier vor Ihren Augen beug‘ ich mich der
Macht.
Pause.
2.Häft.: Sie sehen mich gebeugt.
Ich bitte, sehen Sie auf mich,
Herab auf mich.
Ich habe nichts verbrochen, nie in
meinem Leben,
Und ich gebe trotzdem alles zu.
Ich gebe zu und ich gestehe. Alles.
Ich bin schuldig, tief in Schuld,
Und stehe so vor Ihnen,
Tief in Schuld gebeugt.
Ich will nur Gnade, Gnade möchte ich,
Ich bitte nur um Gnade.
Darum bitte ich.
Entlassen Sie mich aus der kollektiven,
Aus der allgemeinen Schuld,
Die Sie uns allen geben.
Sehen Sie den Menschen, der vor Ihnen
kniet.
Das Schwarzhemd tritt mit dem Fuß auf ihren
Rücken.
Schw.: Jetzt
hab‘ ich dich, du winselndes Objekt.
Gefasel und Gejammer!
Hast du nicht begriffen? Es ist Krieg!
Der ganze Krieg ist nur um
deinetwillen!
Nur um deinetwillen!
Wegen deiner kümmerlichen,
ausgemergelten Person!
Das wusstest du wohl nicht.
Die ganze Schuld daran trägst du, nur
du.
Dir gebe ich die ganze Schuld am Krieg,
Und du versteckst dich hinter deinem
Volk.
Du plärrst von kollektiver Schuld,
Das ist ja grad‘ die Schuld.
Bist du nicht Volk? Wer ist dein Volk,
Wenn du und jeder einzelne von euch
nicht Volk ist?
Nur um deinetwillen und um euretwillen
Gibt es diesen Krieg! Begreife, Mensch!
Sie versucht seine Hand zu erreichen.
2.Häft.: Mein Volk ist völlig ohne Schuld.
Es gibt doch keine Schuld des Einzelnen
Und keine Völkerschuld.
Kein Mensch hat Schuld an sich.
Kein Mensch trägt Schuld an sich.
Wie könnte Schuld persönlich sein.
Für ein Verbrechen könnte man
Mich jederzeit belangen,
Wüsste ich nur ein Verbrechen, eines
nur,
Ich würde mich nach Strafe sehnen,
Würde sie geradezu verlangen.
Nein, kein Mensch trägt Schuld an sich,
Denn Schuld ist allgemein.
Die Schuld entsteht durch uns, durch
alle.
Schuld ist immer außerhalb.
Sie legt sich wie ein Mantel,
Den wir gar nicht wollen, auf die Haut,
Auf unsre Haut, auf jede Haut.
Ich geb‘ sie zu.
Ja, Schuld in dieser Art ist meine
Schuld.
Wir Menschen sind verstrickt in diese
Schuld.
Ich bitte Sie um Ihre Hand, ich will
sie küssen.
Ihre Hand, dass ich sie küssen kann.
Es ist doch eine Schuld, die alle
tragen müssen.
Ihre Hand. Ich bitte Sie um Ihre Hand.
Er entreißt ihr seine Hand.
2.Häft.: Sind Sie mit nichts zu rühren?
Denken Sie nicht manchmal an die
Zeiten,
Als wir Frieden, festen Frieden
Unter unsren Völkern hielten.
Denken Sie an die Geschichte.
Unsere Völker lebten mehr als einmal
Volk im Volk. Sie Lebten ineinander.
Konnten, durften ineinander leben.
Lebten!
Tausendmal ist das bewiesen worden.
Schw.: Die
Geschichte, die Geschichte!
Die sagt gar nichts und sagt alles.
Die Geschichte ist auch Boden für die
Kommenden!
Nun sind wir da.
Ich frag dich, bist du eine Jüdin oder
nicht!
Aha, da fällt die Klappe wieder zu.
Da weißt du nichts zu sagen, oder?
Siehst du, das ist so nicht abzutun.
Er stößt sie von sich.
Schw.: Ich
hab‘ meinen guten Tag.
Ich werde meine Augen über dich hinweg
Ins Weite schicken,
Dass ich dich nicht seh‘.
Ich müsste dich sonst längst erschlagen
haben.
Mehr kann ich nicht tun.
Mehr kann ich überhaupt nicht machen.
So, wie du dich aufführst ...
Wenn ich dich zur Kenntnis nehmen würde...
Also lass mich geh‘n,
Und klammer dich nicht mehr an meine
Schritte.
Er sieht immer noch über sie hinweg.
Schw.: Müsstest
froh sein,
Dass von uns so viele Vieles übersehen.
Denk‘ an die Bewacher,
Die euch oft aus der Bewachung lassen,
Die nicht sehen wollen, was sie sehen.
Halt mich nicht mehr auf, sei still.
Halt endlich deinen Mund..
Das Schwarzhemd erstarrt zur steinernen
Figur.
2.Häft.: Hören Sie mir doch noch zu!
Mein Gott, ich bitte Sie.
Sie sind der einzige, der helfen kann,
Ich biete Ihnen meine Hilfe an.
Ich helfe Ihnen. Alles gebe ich,
Hier, meinen Leib, mein Kopf,
Das Herz in meinem Kopf,
Dies, Ding darin,
Das mich von innen her erschlagen wird.
Versteinern Sie doch nicht.
Bewegen Sie sich doch.
Wie kann ich Sie nur wecken.
Eine Geste nur, nur eine Geste.
Dass ich hoffen kann, nur eine Geste.
Meine Hoffnung werden Sie mir
Doch nicht auch noch nehmen wollen?
Meine Hoffnung doch nicht auch noch.
Lassen Sie die Grausamkeiten enden.
Ich erflehe nur Besinnung auf
Gerechtigkeit.
Das ist doch nicht zu viel?
Ich flehe nur um Frieden, Frieden,
Frieden.
Nur um meine Hoffnung flehe ich,
Die dürfen Sie doch nicht erschöpfen!
Sie springt auf und wirft sich auf den Boden
vor den Stein und weint.
2.Häft.: Wär‘ ich doch aus Stein wie der.
Sie schreckt hoch und sieht erschreckt auf
den Stein.
2.Häft.: Der blutet ja.
Das Blut kommt aus dem Stein. Du
blutest?
Können Steine bluten? Blutest du?
Sie taucht mit dem Finger hinein. Über den
Stein läuft jetzt eine
rote Fährte Blut. Sie schreckt wieder hoch.
2.Häft.: Das brächte nichts?
Heißt das, dass Steine bluten können?
Bluten Steine?
Haben Steine Wunden?
Habt ihr Wunden?
Blutet ihr aus euch heraus?
Stein.: Es
macht uns Steine schwindeln.
Ja, wir bluten. Steine bluten.
Es entsteht ein Tanz aus Scham,
Aus Hoffnung, Angst und
Ahnungslosigkeit,
Aus Schwarzhemdtragerei und Hilfsbereitschaft,
Der uns Steine schwindeln macht und
bluten lässt.
Der Tanz reißt unsre Körper auf.
Der Tanz lässt die Erinnerung
verblassen.
Unser Blut wird auskristallisiert.
Wir geben es von uns.
Wir woll‘n es nicht mehr haben.
Unser Blut, ein Gut, das man
Nicht mit den Händen fassen kann.
2.Häft.: Hört auf! Hört auf. Nein, ich versteh‘ euch nicht.
Wen klagt ihr an!
Ihr klagt doch an?
Ist eure Klage, wenn es eine Klage ist,
Für mich bestimmt?
Ich kann euch nicht verstehen.
Statt, dass ihr mir helft,
Klagt ihr mich an?!
Sie
wirft sich über den Stein und schluchzt und weint.
2. Akt, 5. Bild. Unsre eigenen Probleme
Das Klassenzimmer. In den Bänken sitzen die
Insassinnen,
Jugendlichen und Erwachsenen in Gruppen
getrennt.
Herr D. steht auf und kommt nach vorne.
Herr D.: Der Krieg war Gott sei Dank zu Ende,
Haben wir gedacht.
Jetzt tobte erst mal die
Besatzungsmacht.
Drei Tage hatten die Soldaten
Für die Plünderung der Stadt bekommen.
Wir hier draußen merkten anfangs nichts
davon.
Man hatte der Bevölkerung verboten
Ihre Häuser zu verlassen.
Frau‘n und Mädchen krochen unter ihre
Betten,
In die Schränke, hinter Wände,
Was weiß ich wohin.
Und andre sahen ihre Chance...
Heute redet keiner von den Frau‘n und
Mädchen,
Die von den Soldaten, ob sie wollten
oder nicht…
Man weiß Bescheid...
Die Männer waren nicht zu Hause...
Waren an der Front, gefangen, tot,
verschollen,
Auf dem Weg nach Hause,
Auf dem Weg in die Gefangenschaft.
Erst nach der Plünderung,
Nach den drei Tagen, ging‘s hier
draußen los.
Wir hatten durch die aufgelösten Lager
Plötzlich neu zu leiden.
Kaum, dass jemand von der Existenz der
Lager
Etwas wusste.
Wachen hatte man vertrieben,
Oder sie nach Haus‘ geschickt.
Im Außenlager Sasel hatte die
Beköstigung der Leute
Über Nacht ein Ende.
Außerhalb, das wisst ihr,
War ja alles rationiert.
Es wurden harte Strafen angedroht
Und bei Verstößen ausgeführt.
In Trillup, gleich da drüben,
Saßen Russen, waren ehemals Gefangene.
Die hatten Glück, die wurden weiterhin
verköstigt.
Plötzlich warn die frei
Und konnten mit der Freiheit nichts
beginnen.
Keiner wollte heim nach Russland.
Das verstand hier keiner.
Wie wir dann erfuhren, dachten die,
Man würde sie in Russland gleich erneut
Ins Lager stecken, oder nach Sibirien
schicken.
Davon hatten sie gehört.
Das war für sie der schrecklichste der
Schrecken.
Lieber blieben sie bei uns.
2.Jug.: Verstehst
du das?
1.Jug.: Ich
hab‘ davon gehört.
Die fuhren immerzu nur Fahrrad.
Überall sah man sie mit den Rädern.
Aber in die Heimat wollte keiner,
Weil sie zu viel wussten über dieses
Land.
Das war der Grund.
2.Jug.: Da
sind sie Rad gefahren? Immerzu?
Durchs Dorf, durch
alle Straßen?
1.Jug.: Ja,
die fuhren Fahrrad,
Und sie waren
glücklich.
Herr D.: Die Bevölkerung erfuhr das erste Mal
Vom Lager auf dem Saselberg.
Das waren alles Jüdinnen und
Ukrainerinnen.
Lebensmittel gab es nicht.
Die kamen an und bettelten die ganze Gegend ab
Und fragten überall herum.
Die gingen hin und her und hin und her.
Vor Herrn D. steht ein Telefon. Er wählt eine
Nummer.
Herr D.: Ja, hier ist D.
Ich hätte gen‘ den Kommandanten..
Spricht der deutsch?
Ja, danke. Wird‘ verbunden?
Danke, das ist gut.
Ja, D. mit wem bin ich verbunden?
Mit der Polizei? Ach, so.
Ich höre, ja.
Herr D. schreibt etwas auf.
Herr D.: Bedanke mich.
Er legt auf und wählt neu.
Herr D.: Bei denen klappt noch alles.
Neue Nummer. Na, mal sehen.
Hallo?
Ja, hier D. Sie sprechen deutsch?
Ja, ich versteh‘ Sie gut.
Ich habe ein Problem.
Ich sitz‘ hier draußen auf dem Hof.
Ich fürchte, dass wir von den
Freigelassenen
Besuch bekommen. Ja, Ukrainer. Ja, aus
Trillup.
Wenn die meinen Hof besetzen oder so…
Ich frag‘ nur, ob Sie mir da helfen
könnten.
Schnelle Hilfe?
Gibt‘s da schnelle Hilfe? Ja?
Den Obersten direkt? Das kann man
machen?
Seine Nummer, oder sein Büro.
Ja, vielen Dank.
Natürlich nur im Notfall.
Herr D. schreibt wieder etwas auf.
Herr D.: Danke. Vielen Dank.
Er legt auf.
Herr D.: Ich hatte mir so was gedacht.
Es standen plötzlich zwanzig von den
Männern
Auf dem Hof.
Er greift zum Telefon.
Herr D.: Verbinden Sie mich bitte mit dem Obersten,
Es ist ganz dringend!
Er zögert.
Herr D.: Nein, ich glaube, es ist nicht mehr nötig.
Nein, ist wirklich nicht mehr nötig.
Danke, hat sich von allein erledigt.
Vielen Dank, Entschuldigung.
Er legt auf.
Herr D.: Ein Tommy kommt. Da hab‘n die Pech gehabt.
Da troll’n sie sich. Ein Offizier.
Na, so ein Glück! Und welch ein Zufall.
Plündern ist natürlich längst verboten.
Steht schon wieder Strafe drauf.
Ich könnt‘ ihn küssen.
Engl. Offizier tritt auf. Herr D. geht auf
ihn zu.
Herr D.: Ganz genau im rechten Augenblick.
Ich möcht‘ nicht wissen, was passiert
wär‘.
Danke, dass Sie eingegriffen haben.
Herr D. will ihm die Hand schütteln. Der Off.
will das nicht.
Frau D. steht auf und kommt nach vorne.
Frau D.: Der hat nichts gemacht.
Der weiß doch überhaupt nicht,
Was passiert ist. Und es ist auch
nichts passiert.
Ich hab den Ukrainern was zu essen
aufgeschnitten.
Herr D.: Doch wohl nicht vom Speck?
Frau D.: Wovon denn sonst.
Das wollten die. Jetzt
lassen sie uns auch in Ruhe.
Herr D.: Was, den Bettlern?
Sind doch alle aus dem Ausland!
Frau D.: Die war'n ganz verrückt vor Hunger.
Hier war Speck genug.
Ich hab‘ ‘n bisschen davon
aufgeschnitten.
Herr D.: Doch wohl nicht den ganzen Speck!
Das war‘n ja mehr als zwanzig Leute!
Frau D.: Eben.
Herr D.: Wovon woll‘n wir leben?
Unser Speck an diese Leute!
Und was will der Offizier?
Der hat womöglich zugeseh‘n? Natürlich!
Der will auch was haben.
Frau D.: Kann schon sein.
Off.: Two springhens please.
Two springhens for my “0bersten”.
Der Offizier macht das Gegacker von Hühnern
nach und flattert herum.
Mit den Fingern zeigt er: zwei!
Off.: Two „fette“ hens, two springhens
For my „0bersten“, you know?
Herr D.: Der ist total verrückt! You know, you know!
Ich
nicht!
Glaubt der, dass ich ihm Hühner geb‘?
Für seine Siegesfeier?
Off.: „Fette“
springhens, please.
Yes, two.
Der Off. kommt auf Herrn D. zu.
Herr D.: Das trifft sich gut!
Die Hühner könn‘n Sie haben.
Aber selber fangen!
Ja, die müssen Sie sich selber fangen,
Wenn Sie welche haben wollen.
Der Off. guckt suchend herum.
Herr D.: Übrigens, hab‘ grade mit dem Obersten
Gesprochen.
Wegen der da draußen.
Mit dem Obersten, mit lhrem Obersten,
Der wird gleich kommen.
Ja, das trifft sich wirklich gut.
Der ist bestimmt gleich hier.
Dann könn‘n Sie ihm die Hühner selber
geben.
Sie versteh'n mich doch?
You know?
Der Off. sieht ihn ungläubig an.
Off.: You phoned? My “0bersten”? It’s true?
Herr D.: Und ob das wahr ist.
Der ist unterwegs.
Off.: Ok,
dann sorry? Sorry, understand.
Der Offizier geht ab. Herr D. grinst.
Herr D.: Die Hühner ließen sich vom Offizier nicht fangen,
Und er selber wollte sich vom Obersten
Nicht fangen lassen.
Ich hab‘ auch den Obersten nicht wieder
Angerufen.
Der wär‘ sicher gerne und sofort
gekommen.
Das war mir jetzt sonnenklar.
Herr D. setzt sich wieder auf die Bank.
Es kommen Jugendliche nach vorne.
1.Jug.: Na,
soviel ist gewiss,
Im Schock des Lagers stand der nicht.
Der war auch nicht betroffen.
2.Jug.: Doch,
von sich.
1.Jug.: Von
Mitleid keine Rede.
Die im Lager, oder aus dem Lager,
Hatte der nicht auf der Pfanne.
Herr D. ruft dazwischen.
Herr D.: Unsre eigenen Probleme
Konnte man doch nicht vergessen.
Wer hätt‘ sich um meinen Hof gekümmert.
Wer wohl! War doch keiner da.
Wir hatten selbst Probleme.
Nein, es int‘ressierte wirklich niemanden
das Lager
Und die Insassinnen;
All die Leute, die von dorther kamen.
3.Jug.: In
den ersten Tagen starben noch zwei Frauen,
„Leute“ aus dem Lager!
Solches Unrecht wird wohl nicht und nie
Zurückzubiegen sein.
Die Tore waren aber endlich auf.
Man konnte jetzt ins Lager sehen,
Und die Frauen liefen überall herum.
2.Jug.: Herr
D. hat seine Wahrheit,
Und er hat sie uns gesagt.
Zu viele kannten nicht die
Hintergründe.
Und die Propaganda, Tag für Tag.
Die klang noch lange nach.
Die saß noch fest in ihren Ohren.
Eine Stimme aus dem Lautsprecher:
Lauts.: Die
im Lager sind nur eine Bande
Kriegsgefangener und Sträflinge!
Wir stoßen immer wieder auf die
Arbeitsscheuen
Und die kriminellen Elemente.
Nur für die sind Sammellager eingerichtet
worden.
Denen werden wir‘s schon zeigen!
Denen bringen wir noch bei, was Arbeit
ist.
Die werden uns auf Knien dafür danken.
Es ist nützlich,
Wenn wir ihre Arbeitskräfte nutzen,
Wenn sie uns beim Häuserbau behilflich
sind.
Die Juden waren uns am schädlichsten.
Sie haben überall geschadet.
Ganz besonders in der Wirtschaft.
Daher ist es ganz gerecht für sie,
So viel wie möglich wieder gutzumachen.
Das sind alles Untermenschen,
Fremde Rassen!
Die sind überhaupt nichts wert!
3.Jug.: Die
haben nichts kapiert
Und immer nur geschluckt.
Ganz ekelhafte Vordergründigkeit
Und widerlicher Unsinn, Schmutz und
Lug und Trug.
Lauts.: Man
kann uns keinen Vorwurf machen.
Wir verstehen nicht,
Wo uns ein Vorwurf treffen sollte.
Lager mit „gefang’nen“ Menschen
Gibt es nicht bei uns.
Davon ist nichts bekannt.
Die ganze Sorge gilt den tapferen
Soldaten.
Ja, wir teilen diese Sorge der
Bevölkerung.
Es müssen alle standhaft sein!
Wir dürfen uns nicht von den Bomben
Überraschen lassen.
Unsre Lebensmittel müssen wir
Noch viel gerechter teilen.
1.Jug.: Sicher
dachten so die meisten.
Eigene Probleme standen nah genug.
Die Bombenopfer, die Gefall'nen.
Hab‘ und Gut war hin.
Wie soll man da noch die Probleme
Anderer erkennen.
3.Jug.: Trotzdem
darf man nicht vergessen, dass es
Menschen gab, die helfen wollten und es taten.
Frau D. ruft dazwischen.
Frau D.: Und sie taten es entgegen dem Verbot!
Alle Erwachsenen nicken.
Alle Erw.: Ja, Ja. entgegen dem Verbot.
Das stimmt! Entgegen dem Verbot!
Die taten es entgegen dem Verbot!
2. Akt, 6. Bild. Lena G.: „Frauen müssen Frauen helfen“
Klassenzimmer. Frau R. und Frau Lena G.
treten auf.
Frau R.: Wir kenn‘n uns doch.
Sind Sie nicht auch aus Sasel?
Frau L.G.: Ja, natürlich. Lena G.
Mich hat ein Schüler angerufen.
Hat mich hergebeten.
Frau R.: Wissen Sie denn, was die von uns wollen?
Frau L.G.: Für paar Fragen hat der mir gesagt.
Ein Schüler hat mich angerufen.
Hatte eine nette Stimme.
Als ich seine Stimme hörte,
Dachte ich sofort an meinen Sohn.
Die Stimme war so jugendlich,
So frisch, so unbedarft.
Frau R.: Mein Sohn ist auch geblieben.
Sicher woll‘n die wieder irgendetwas
wissen,
Wie es damals war und so.
Die schreiben grade über dieses Thema.
Krieg und „nach dem Krieg“.
Frau L.G.: Was hat man sich gequält.
Verstehen kann ich‘s heut noch nicht.
Frau R.: Die Zeit war schlimm.
Es gab ja nichts.
Wir brauchten dringend Medizin zum
Beispiel.
Frau L.G.: Stimmt. Wenn ich an unsren Jüngsten denk.
Der hatte Diphtherie. Gleich nach dem
Krieg.
Die Kinder waren doch noch klein.
Und keine Medizin.
Ich gab ihm seinen
eigenen Urin zu trinken.
Frau R.: Und es hat geholfen.
Frau L.G.: Manchmal ja.
Bei uns‘rem Sohn war‘s schon zu spät.
Er konnte nicht mehr schlucken.
Pause.
Frau R.: Mich hat auch ein Schüler angerufen.
Hat mir was von einem Stein erzählt.
Die wollen einen Stein errichten zum
Gedenken,
Hat er mir gesagt.
Dann woll‘n die jungen Leute wissen...
Frau L.G.: Wie es damals war natürlich.
Frau R.: Wer mal wem geholfen hat und so…
Frau L.G.: Die haben auch schon einen Platz
Für den Gedenkstein, wenn er fertig ist.
Frau R.: Wo denn?
Frau L.G.: Gleich an der Ecke Feldblumen- und Petunienweg.
Sie wissen doch!
Da auf der Ecke.
Ist ein schöner Platz.
Frau.R.: Da werd‘n sich wieder einige bedanken.
Frau L.G.: Meinen Sie? Wer denn?
Frau R.: Vielleicht die Leute, die da wohnen,
Was weiß ich.
Frau L.G.: Was soll‘n die denn schon sagen.
Pause.
Frau L.G.: Damals waren alle Männer weg.
Frau R.: Und die, die was zu sagen hatten,
War‘n in der Partei.
Geholfen haben immer nur die Armen.
Immer nur die Armen.
Das ist immer so.
Das waren alles Frauen, Siedlerfrauen,
Die geholfen haben,
Die aus eigner Not
Die Not der anderen erkannten.
Hatten selber nichts
Und gaben immer wieder ab.
Ich selbst bin damals, noch im Krieg,
Von Haus zu Haus gegangen, hab‘
gebettelt.
Ja, hab‘ ich gemacht.
Ich hab‘ gebettelt, aber nicht für
mich.
Ich hab‘ für d i e
gebettelt,
Für die Frau‘n im Lager.
Um Kartoffelschalen, Apfelreste, Brot,
Um alles, was man essen konnte.
Was man sonst den Schweinen gab.
Mir hat so manche Nachbarin geholfen.
Aber niemals hat mich eine einzige
gefragt,
Warum ich betteln geh‘.
Frau L.G.: Ich hatte einen Pappkarton,
Den hab‘ ich über den Gefang‘nen
ausgeschüttet.
Das ging gut.
Die waren unten an den Gleisen.
Machten Schwerarbeit. Berliner Tor.
Dahin bin ich gefahren und von oben,
Von der Brücke, hab‘ ich meine Schätze
abgeladen.
Die da unten wussten gleich Bescheid.
Nicht eine hat ein Wort gesagt.
Die haben jedes Stück gefunden.
Frau R.: All die Reichen konnte man vergessen.
Frau L.G.: Sag‘ ich doch.
Es hilft die Not der Not.
Frau Lena G. singt ein Lied:
Frau L.G.: Schrei nicht in der Not!
Denn wer
dich hörte, der hörte dich nicht,
Und wer
dich sähe, der sähe dich nicht,
Und wer
dich kennte, der kennte dich nicht.
Schrei
nicht in der Not!
Doch,
schriest du in der Not,
So würde
dich hören, den du nicht hörst,
So würde
dich sehen, den du nicht siehst,
So würde
dich kennen, den du nicht kennst,
Er würde
schreien wie du in der Not.
Frau R.: Das war doch auch verboten.
Frau L.G.: Ja, verboten. Vieles war verboten.
Alles war verboten bis auf das,
Was man erlaubte.
Frau R.: Uns‘re Männer hatten Angst um ihren Arbeitsplatz.
Die standen unter Druck.
Die haben alle mitgemacht!
Und plötzlich war der Zug schon abgefahren.
Frau L.G.: Wissen Sie noch wie man damals
Judenfrauen aus dem Lager
Zwischen all den anderen begraben
wollte?
Bergstedt, auf dem Friedhof?
Doch, das wissen Sie.
Die haben sie zu all den andern
Einfach in den Reihen eingegraben.
Welch ein Aufstand.
Frau R.: Weiß ich, weiß ich noch genau.
Das sind die „ganz bestimmten
Kreise"
Die ich vorhin meinte.
Die hab‘n damals aufgeschrien
Und hätten fast die eigenen Verwandten
Wieder ausgegraben.
Frau L.G.: Das war schlimm.
Pause
Frau L.G.: Ich hatte oft gedacht,
Man müsste doch die Hilfe irgendwie
Organisieren können. Mit System.
Ich weiß nicht wie.
Ich hab‘s auch nicht geschafft.
Frau R.: Mein Gott, was hätten Sie riskiert!
Da stand doch Todesstrafe drauf.
Das war doch zu gefährlich.
Frau L.G.: Ja, es blieb nur Milch,
Die man in Dorf verteilte.
Die erreichte viel zu wenige.
Die reichte lange nicht für alle.
Ich war jung. Ich sah das Elend und das
Unrecht
Ziemlich gut.
Ich hatte Mitleid.
Viele Frauen hatten Mitleid.
Aber mütterliches Wollen, mütterliches
Denken,
War bei mir nicht alles.
Ich empfand so etwas wie Gewissen,
Das sich meldete.
Frau R.: Das kenn‘ ich. Ganz genau so war es.
Frau L.G.: Ich war ganz besessen von dem Satz, von dem Gedanken;
„Frauen müssen Frauen helfen“!
Immer wieder:
„Frauen müssen Frauen helfen“!
Sie verstehen doch?
Das ist ganz etwas anderes,
Als wenn da jemand sag:
„Wir wollen helfen, oder ich hab‘
Mitleid“
„Frauen müssen Frauen helfen“,
Das ist doch gezielt,
Das weist in beide Richtungen,
Auf die, die helfen sollen,
Und auf die, die Hilfe brauchen.
Und es zeigt auch,
Wem geholfen werden muss,
Und zeigt, wer Hilfe geben kann.
Man tappt nicht mehr im Dunkeln.
Die Betroff‘nen wissen doch
Sofort Bescheid.
Man kann sogar die Hilfe fordern
Und sie geben müssen.
Seh‘n Sie, das ist neu an dem Gedanken.
Das hat mich bestochen.
„Frauen müssen Frauen helfen“
Ist ein Recht, wenn man so will.
Ein Recht für alle Frauen.
Das erklär‘ ich heute noch den jungen
Frauen.
Frau R.: Man verschreckt die Männer leicht damit.
Frau L.G.: Das glaub ich nicht.
Man übersieht nur leicht
Den inneren Zusammenhang dabei.
Wenn „Frauen Frauen helfen müssen“
Werden sie dabei auch ihre eignen Wege
gehen,
Ja, sie müssen ihre eignen Wege gehen.
So entsteht Verständigung und schnelle
Sicherheit.
Ja, es entsteht auf diese Weise
Eine andre Art von Hilfe,
Als man sie erwartet oder kennt.
Das hat mit Männern kaum noch was zu tun.
Ich kenne Männer, die mir dabei
Viel geholfen haben, die mich
unterstützten.
Mitgefühl statt Mitleid
Ist zum Beispiel eine neue Art der
Hilfe.
Mitgefühl, statt Mitleid, das ist
besser.
Frau R.: Ja, das find‘ ich gut.
Das lässt für alle Platz und Raum.
Frau R. wickelt ein Transparent aus, welches
herumliegt.
Frau R.: Die lassen uns hier ganz schön warten.
Seh‘n Sie mal.
Ob das der Text für den Gedenkstein ist?
Frau Lena G, liest:
Frau L.G.: „Das Blut, das uns zum Gut geworden ist,
Das auskristallisierte,
Kann man mit den Händen fassen“.
Frau R.: Meinen. Sie,
Dass das die Menschen mahnen kann?
Kein Wort von Menschenrechten?
Frau R. schreckt hoch. Frau Lena G. geht
langsam
und unbeteiligt ab.
Ein Mann schiebt einen Karren durch das
Klassenzimmer.
Darauf liegen verdeckt, aber erkennbar, zwei
Tote.
Frau R.: Den hab‘ ich total vergessen.
Oh, mir fällt so vieles ein.
Der machte einen schlimmen Dienst.
Er muss die Toten aus dem Lager
rüberschaffen,
Auf den Friedhof Bergstedt.
Ist Gefan‘gner. Muss beim Bauern Arbeit
machen.
Für die Totenfuhre kriegt der Bauer
Dann vom Lager alle Küchenreste
Für die Schweine.
Für die Frauen gibt es nichts.
Die Reste für die Schweine.
Seine Totenfahrt bezahlen die mit
Schweinefraß.
Karre ab.
Frau R.: Ein andres Mal im Wald.
Es schleppen sich wenige entkräftete
Insassinnen durch das Zimmer.
Frau R. versteckt sich sofort.
Frau R.: Da liefen mir die Frauen übern Weg,
Ich habe mich geschämt vor denen,
Und ich habe mich versteckt.
Geschämt fürs Vaterland.
Nur schwankende Gestalten.
Ach, die sind fast tot.
Wenn die zusammenbrechen oder sterben,
Sterben die nicht an der Folter,
Sondern vor Erschöpfung.
Die Insassinnen singen nach einer monotonen
Melodie.
Ins.: Wir
sind Totensammlerinnen,
Sammeln Bombenopfer ein.
In Ohlsdorf werden sie
Von uns begraben.
Wir sind Totensammlerinnen,
Sammeln...
Frau R.: Schlimme Lieder singen sie.
Insassinnen ab. Ein Bewacher kommt hinterher.
Frau R. kommt wieder aus ihrem Versteck.
Bew’er.: Sie!
Sie sollten schnell nach Hause gehen.
Schließen Sie sich ein.
Der Krieg ist bald zu Ende.
Die soll‘n freigelassen werden.
Könn’n sich denken, was dann los ist.
Ist doch klar.
Die werden alles klauen,
Was die in die Finger kriegen.
Bew‘er. ab.
Frau R.: Ich hab‘ gar nichts abgesperrt.
Natürlich kamen die und bettelten.
Die Insassinnen kommen zurück.
Haben jetzt aber richtige Kleider an.
Eine ist besonders jung.
Frau R.: Maria war die jüngste.
Maria: Ich
bin sechzehn Jahre.
Vielen Dank.
Wir wollen für die Kleider danken.
Frau R.: Du bist lieb.
Was machen deine Beine?
Maria hebt den Rock etwas hoch.
Frau R.: Sieht noch sehr schlimm aus.
Trotzdem, ich glaube, das heilt schnell.
Maria: Nur,
weil ich keinen Ausweis hatte,
Haben die mich eingesperrt.
Sie haben mich...
Die Insassinnen erstarren zu Figuren.
Frau R.: Wo ist die Lena G. geblieben?
Immer wieder fall‘n mir diese Dinge
ein.
Die Jugendlichen lassen ganz schön
Auf sich warten.
Wo die bleiben?
Hab’n schon längst was andres vor.
Ist wohl nicht int‘ressant genug.
Zu alt für die.
Dann brauchen sie ja nicht erst
anzurufen.
Frau R ab. Insassinnen bleiben erstarrt.
Sofort stürzen drei Jugendliche mit
Fernsehkameras
auf den Schultern aus Verstecken hervor.
1.Jug.: Was
hab‘ ich gesagt!
Die Omis waren prima!
Habt ihr alles drauf?
Die war'n doch richtig toll!
2.Jug.: Hab‘
alles drauf. Das hat geklappt.
Ich fand die auch ganz toll!
1.Jug.: War‘n
richtig süß die beiden.
Und man konnte alles glauben,
Was die sagten.
3.Jug.: War
viel besser so,
So hat man doch viel mehr erfahren
Als mit der Befragerei.
1.Jug.: Irgendwann
werd‘ ich‘s sie wissen lassen,
Dass sie auf dem Film sind.
2.Jug.: Kannst
du machen. Irgendwann.
1.Jug.: Ich
fand die nett.
3. Akt, 1. Bild. Im Gnadenfutter
Eine Küche. Am Herd Frau. U. Ein größeres
Mädchen
hat sich als kleines Mädchen verkleidet und
spricht mit piepsiger Stimme.
Die Mutter füllt Essen auf.
Mäd.: Du,
Mami?
Mu.: Ja,
was gibt‘s.
Mäd.: Du,
Mami?
Seufzer des Mädchens.
Mu.: Was
denn.
Seufzer der Mutter.
Mäd.: Hab'
dich lieb! So lieb, so lieb,
Wie meine..
Mu.: Na,
mein Schatz, wie deine...
Mädchen läuft zur Mutter.
Mäd.: So
wie meine Mami und wie meine Püpi
Und wie mein Geheimnis in der Schachtel...
Mu.: Deine
braunen Federn?
Mäd.: Ja,
und, und, und...
Mu.: Na,
fällt dir noch was ein?
Mäd.: Ich
weiß nicht.
Mu.: Ach,
mein Schatz.
Die
Mami hat dich auch sehr lieb.
Mäd.: Ich
hab‘ dich aber viel, viel lieber.
Mu.: Ganz
bestimmt.
Nun setz dich aber hin.
Es gibt gleich Essen.
Mäd.: Was
kriegt Papi an der Front zu essen?
Kriegt er Essen von der Front?
Isst
Papi an der Front?
Mu.: Natürlich,
und ich hoff‘ was Gutes.
Mäd.: Woher
kriegt er das?
Kocht er für sich alleine?
Mu.: Glaub‘
ich nicht. Ich weiß es nicht.
Nun setz dich bitte hin.
Mäd.: Gibt‘s
für Soldaten extra eine Mami?
Kocht die auch?
Mu.: Mein
Gott, ich glaube ja.
Ich hoffe es. Ich weiß es nicht.
Ich weiß es wirklich nicht.
Ich hoffe, dass sie auch ‘ne Mami
haben,
Die das Essen kocht.
Ihr Sohn(etwa 15 Jahre alt, später Herr
N.) kommt in die Küche.
Mäd.: Du,
Mami?
Mu.: Was
denn noch?
Mäd.: Du,
Mami, gibt‘s im Krieg für Essen
Eine Pause?
Mu.: Was
sagst du?
Jun.: Tag.
Mu.: Dass
du dich auch mal sehen lässt.
Jun.: Tag,
Kleine.
Mu.: Setz
dich.
Jun.: Gibt‘s
was Feines?
Mu.: Feines,
Feines. Und woher, wovon?
Was gibt‘s denn in der Schule?
Jun.: Mist.
Johanna soll ne Jüdin sein.
Die hab‘n ein Drama draus gemacht.
Der Lehrer hat gesagt,
Sie soll von andren Mädchen Abstand
halten.
Vor der Klasse hat er das gesagt.
Mu.: Man
muss sich wundern,
Dass die überhaupt noch auf der Schule
ist.
Ich möchte wissen, wem sie das
verdankt.
Ein Glück für sie.
Ich glaub‘ die Mutter kennt den Leiter
oder so.
Jun.: Kann
sein.
Ich fand das furchtbar: vor der Klasse.
Und zu mir hat der Idiot gesagt:
Dein Vater ist doch Sozi, oder?
Mu.: Was
hast du gesagt, um Gottes Willen?
Jun.: Demokrat!
Hab‘ ich gesagt, mehr nicht.
Mu.: Und
er?
Jun.: Nur
gut, mein Junge,
Dass dein Vater an der Front ist.
Mu.: Junge,
Junge.
Du darfst gar nicht reagieren.
Wir sind so und so verschrien.
Und alles durch die blöde Politik.
Jun.: Dem
zahl‘ ich‘s heim.
Mu.: Du
wirst ihm gar nichts.
Iss erst mal und reg‘ dich ab.
Mäd.: Du,
Mami?
Mu.: Ja,
was ist.
Mäd.: Was
sind denn das für Frauen immer?
Jun.: Was
für Frauen!
Mu.: Kind
sei still.
Sie meint die aus dem Lager.
Pause. Mutter spricht langsam weiter.
Mu.: Kindern
wird der Tisch gedeckt.
Die essen und sind still.
Die fragen nicht.
Mein Kleines, frag‘ nicht.
Sieh auf deinen Teller.
Alles ist bereitet.
Iss die Speise, dass du wächst.
Den Kindern wird der Tisch gedeckt,
Die essen und sind still.
Ju.: Du
sollst von solchen Sachen gar nichts wissen.
Mu.: Und
du sollst nicht davon reden.
Außerdem versteh‘n wir nichts davon.
Mäd.: Ich
seh‘ sie aber immer.
Mu.: Die
sind aus dem Arbeitslager,
Das ist sehr, sehr, nützlich.
Diese Frauen helfen uns beim Häuserbau.
Jun.: Die
Frauen gibt es offiziell ja gar nicht,
Existieren nicht.
Mu.: Wieso?
Jun.: Ich
hab‘ die Wache einfach angesprochen
Und gefragt.
Mu.: Du
hast..
Jun.: Warum
denn nicht?
Die hab‘n gesagt:
Mein Junge, alles bestens, alles
bestens.
Ist am besten, wenn du gar nichts
siehst.
Wir sagen dir, was du hier siehst,
Das gibt es gar nicht,
Weil es gar nicht existiert, verstehst
du?
Und dann hab‘n sie mich davongejagt.
Hau ab, hab‘n sie gesagt, verschwinde!
Mu.: Warum
fragst du auch. Da siehst du‘s.
Iss doch bitte jetzt.
Ju.: Ich
ess‘ ja.
Die Bewachung ist ganz schlecht.
Wenn die zur S-Bahn gehen
Sind die eine langgezog‘ne Herde müder
Schafe.
Ewig dauert das,
Bis die vorbei sind.
Haben bloß die Holzpantinen an.
Ein Elendszug ist das.
Die sind ja völlig abgemagert.
Eine wie die andere.
Und alles Frauen, nichts als Frauen.
Mu.: Junge,
iss. Wird alles kalt.
Jun.: Sind
grau in grau,
Mu.: Die
hab‘n doch auch mal Feierabend.
Jun.: Glaub‘
ich nicht.
Selbst, wenn die fliehen wollten...
Keine Aussicht.
Keiner nähm‘ die auf. Wer auch.
Mu.: Denk‘
an die vielen Bombenopfer.
Alle haben Sorgen.
Jeder denkt doch bloß,
Dass bald der Krieg zu Ende ist.
Jun.: Die
Schüler rufen mir jetzt „Sozi“
Hinterher.
Die wissen gar nicht, was das ist.
Ich mach‘ jetzt lieber einen Umweg.
Mu.: Ist
auch besser.
Jun.: Heute
Nachmittag soll‘n alle aus der Klasse
Hin zum Gut.
Hach „Hohenbuchen“ das ist „Muss“.
Mu.: Ist
„Muss“? Wieso.
Ju.: Die
Kleine kann doch in der Stube essen, oder?
Die hört viel zu viel.
Mu.: Ach,
was.
Nun sag schon, was da los ist.
Jun.: Alle
soll‘n wir hin.
Ein Knecht wird aufgehängt.
Der war beim Bauern. Strafgefangener.
Den haben sie heut‘ Vormittag
verurteilt.
Alle sollen zuseh‘n.
Frau‘n mit kleinen Kindern nicht.
Mu.: Mein
Gott!
Jun.: Der
hat mit irgendeiner Frau poussiert.
Ist doch verboten. Streng verboten.
Trotzdem soll es lange gutgegangen
sein.
Mu.: Ich
weiß. Das wissen alle.
Hab‘ es auch gehört.
Die Schuld hat nur der Bauer.
Hat ihn angezeigt,
Weil er das Mädel haben wollte.
Jun.: Weiß
ich nicht.
Jetzt haben sie ihn abgeurteilt.
Der wird aufgehängt.
Die Kleine läuft raus.
Mäd.: Ich
geh‘ jetzt spielen.
Mu.: Ja,
ist gut.
Jun.: Ist
Pole. Zwangsarbeiter.
Nicht viel Federlesens.
Alle müssen hin und müssen zuschau'n.
Ich muss bin.
Mu.: Mein
Kind.
Jun.: Der
Bauer hat das nur aus Eifersucht gemacht.
Die Mutter erstarrt. Der Junge steht auf und
setzt einen Hut auf.
Er ist nun Herr N.
Herr N.: Das ist so ziemlich alles, was ich weiß.
Die Frau wurd‘ auch verurteilt.
Kam nach Ravensbrück.
Die kriegte zwei, drei Jahre.
Als der Krieg zu Ende war,
Hat sich der Bauer aufgehängt.
Herr P. tritt auf.
Herr N.: Noch kürzlich hab‘ ich mit Herrn P. gesprochen.
Damals war sein Vater Gruppenleiter
Hier in Sasel.
Wissen Sie, Herr P. die jungen Leute
Wollen alles wissen.
Das vom Lager und vom Bauern,
Die Geschichte mit dem Polen.
Herr P.: Find‘ ich gut.
Die soll‘n man ruhig kommen.
Hat auch seine guten Seiten,
Dass der Mensch so schnell vergisst.
Ich kann dazu nur sagen, was ich weiß.
Ich kann mich an den Bauern gut
erinnern.
Hat sich aufgehängt.
War auch Parteigenosse.
Hat wohl Grund gehabt.
Und was sie da vom Lager sagen,
Also, hier in Sasel hat es nie ein
Arbeitslager
Oder etwas Ähnliches gegeben.
Hat doch niemals existiert.
Die Leute täuschen sich,
Das gab es wirklich nicht.
Ich müsste das noch wissen.
2.Jugendlicher stürzt auf die Bühne.
2.Jug.: Ich
bin auf dem Lande groß geworden.
So wie der spricht,
Redet nur ein Pferd,
Das gut im Gnadenfutter steht.
3. Akt, 2. Bild. Wir wollen einmal unsre Ruhe haben
Küche. Frau Y ist in der Küche. Herr
Doktor Y. kommt herein.
Frau Y.: Schon fertig mit der Praxis?
Herr Y.: Dauert noch. Mach nur ne Pause.
Frau Y.: Kannst dann aber essen kommen.
Bin dann auch soweit.
Herr Y.: Ist gut. Im Wartesimmer ist noch ein Patient.
Hat jemand angerufen?
Frau Y.: Nein, wer denn?
Herr Y.: Da war‘n so junge Leute in der Leitung,
Wollten was von Vater wissen,
Aus der Zeit, du weißt schon.
Frau Y.: Geht das wieder los?
Was denn für junge Leute?
Herr Y.: Schüler glaub‘ ich.
Steckt doch sicher wieder was dahinter.
Frau Y.: Und, was wollten die?
Herr Y.: „Ihr Vater soll im Lager,
Damals, als es dieses Lager gab,
Als Arzt geholfen haben".
Na, ich hab‘ zuerst gedacht,
Die würden meinen, dass er selbst im
Lager
So als Lagerarzt und so.
Frau Y.: Was haben die gedacht?
Herr Y.: Die meinten wirklich,
Ob er mal behilflich war,
Bei einem Unfall oder so geholfen hat.
Ich hab‘ sie erst mal ausgefragt.
Die sind hier vom Gymnasium.
„Wir forschen alles nach.
Wir wollen einfach wissen, wie es war,
Woran man sich erinnern kann. Mehr
nicht“.
Frau Y.: Na, und?
Herr Y.: Die war‘n sehr nett am Telefon.
"Wir brauchen lhre Hilfe“.
Ob ich ihnen helfen könnte,
Ob ich ihnen bei der Arbeit helfen
wollte.
Frau Y.: So was.
Wer hat das nun wieder angezettelt.
Herr Y.: So was glaub‘ ich nicht.
Dahinter muss ja keiner stecken.
Frau Y.: Weiß man nicht.
Was hast du denn gesagt?
Herr Y.: Ich war so überrascht.
Ich hab‘ gesagt:
Ich kann mich nicht erinnern.
Nein, beim besten Willen nicht.
Ich kann mich überhaupt nicht
Irgendwie besinnen,
Dass mein Vater und ein Lager...
Der war immer freiberuflich tätig.
Ein Zusammenhang besteht da wirklich nicht.
Frau Y.: Und die? Was haben die gesagt?
Herr Y.: Die sagen,
Vater soll von allem sehr betroffen
Einer Frau berichtet haben.
Davon weiß ich nichts.
Ich hab‘ gesagt, dass ich als Junge
Dauernd im Gelände war.
Das Lager hätt‘ ich kennen müssen.
Vater sprach auch nie darüber.
Frau Y.: Meinst du, dass das klug war?
Herr Y.: Sicher werden die so nichts herausbekommen.
Das ist doch schon Ewigkeiten her.
Frau Y.: Mach das doch anders.
Ruf‘ sie wieder an. Du sagst...
Herr Y. nimmt das Telefon ab und wählt.
Dazwischen zu seiner Frau:
Herr Y.: Mir fällt was ein.
Herr Y. bekommt Verbindung.
Herr Y.: Hallo?
Doktor Y. am Apparat.
Habt ihr mich wegen eurer Arbeit
angerufen?
Die Geschichte mit dem Lager und so weiter?
Also. Wisst ihr, ich hab‘ meine Frau
gefragt.
Die Frauen wissen immer etwas mehr.
Ja, Ja.
Die hat das im Familienkreis
besprochen.
Viel ist es natürlich nicht.
Die könn‘n sich aber dran erinnern,
Dass da mal ein Unfall war.
Die Frauen aus dem Lager
Mussten schwere Loren schieben.
Eine muss dabei wohl überfahren worden
sein.
Es waren ihre Beine, meint man heute.
Also, was nun war im Einzelnen,
Das wusste keiner mehr.
Es war ein schwerer Unfall,
Und es stimmt, dass jemand Hilfe
leistete.
Das mag mein Vater schon gewesen sein.
Mir fällt dabei noch etwas andres ein,
Vielleicht hilft das ja weiter,
Früher hat mein Vater oft mit Doktor Z.
Zu tun gehabt.
Ja, ganz genau. Stammt auch aus Sasel.
Doktor Z.
Den fragt mal,
Der kann sicher weiterhelfen.
Gut. Doch, ganz gewiss.
Der Meinung sind wir auch.
Ja, meine Frau und ich
Vertreten auch den Standpunkt,
Dass man Licht ins Dunkel bringen soll.
Na, also dann. Viel Glück.
Nein, nein, bestimmt nicht.
Hilfeleistung hat mein Vater nie
verweigert.
Das ist alles.
Nein, wir beide wissen weiter nichts.
Auf Wiederhören.
Herr Y. legt auf.
Frau. Y.: Das ist gut. Und denen ist geholfen.
Und es stimmt ja beinah‘ alles,
Herr Doktor Z. kommt herein. Frau Y, Herr Y.
ab.
Es klingelt an der Tür. Doktor Z. macht auf.
1. und 2. Jugendlicher stehen in der Tür.
Beide Jug.: Guten Morgen,
Oder besser: Guten Tag. Sind Sie Herr Doktor
Z.?
Dr.Z. Das
bin ich.
Aber meine Praxis ist heut‘ zu.
Da müsst ihr morgen wiederkommen.
1.Jug.: Uns
tut gar nichts weh, Herr Doktor.
Alles, was wir möchten, ist nur
Etwas fragen, wenn wir dürfen.
2.Jug.: Das
geht schnell.
Wir kommen von Herrn Doktor Y.
Der meint, dass Sie uns helfen können.
Dr.Z. Doktor
Y.?
Na, meinetwegen kommt herein.
Der hat mich grade angerufen.
Seid ihr von der Oberschule?
Die den Stein errichten wollen, den
Gedenkstein?
Und nun geht ihr sammeln, oder?
Gut, ich gebe was dazu.
Was geben denn die anderen?
1.Jug.: Das
stimmt!
2.Jug.: Stimmt
nicht!
Wir kommen doch nicht sammeln!
1.Jug. ganz bestimmt.
1.Jug.: Stimmt
genau, wir sammeln für den Stein,
Und jede Spende ist willkommen.
Leider haben wir die Sammelliste nicht
dabei.
Wir müssen dafür noch mal extra kommen.
Alles muss in eine Liste eingetragen
werden.
Wissen Sie? Die haben wir jetzt nicht
dabei.
Wir hätten heute nur eine Frage.
Kleine Pause.
1.Jug.: Es
ist richtig, was Sie sagen,
Eine Frage, die Herrn Doktor Y.
betrifft.
Er sagt, dass Sie uns weiterhelfen
können.
Wissen Sie, in unsrer Klasse
Läuft grad ein Projekt.
Wir sammeln alles, was das Frauenlager
Sasel angeht,
Was man heut‘ noch zu berichten weiß.
Herr Doktor Z. lacht erleichtert auf.
Dr.Z.: Da
seid ihr ja nun völlig falsch bei mir.
Bestimmt.
Ich weiß nun wirklich nichts.
2.Jug.: Herr
Doktor Y. soll aber oft mit einem Doktor Z.
Gesprochen haben, oder so.
Wir dachten, das wär‘n Sie.
Ach, jetzt versteh' ich.
Ihr verwechselt mich.
Dr.Z.: Ihr
meint natürlich meinen Vater.
Wartet bitte hier.
Doktor Z. geht in einen Nebenraum, lässt aber
die Tür auf.
Man hört ein Gespräch.
Dr.Z.jr.: Da sind drei junge Leute.
Von der Oberschule. Machen ein Projekt.
Die forschen rum. In alten Sachen.
Woll‘n dich sprechen.
Dr.Z.sen.: Mich?
Dr.Z.jr.: Ja. Doktor Y. hat dich erwähnt.
Dr.Z.sen.: Der Idiot. Wie kommt der
denn dazu.
Kann der sich nicht um seine eignen
Sachen kümmern?
Frau Z.: Draußen scheint die Sonne.
Schick‘ sie wieder raus.
Die soll‘n spazieren gehen.
Das ist viel gesünder!
Dr.Z.jr.: Also, was ist jetzt. Willst du sie sprechen?
Frau Z.: Bloß nicht. Würd‘ ich überhaupt nicht tun.
An deiner Stelle solltest du dich gar
nicht zeigen.
Schnüffeln bloß herum.
Die könn‘n ja irgendwann mal
wiederkommen.
Schick sie fort.
Wir wollen einmal unsre Ruhe haben!
Doktor Z.jr. kommt heraus.
Dr.Z.jr.: Leider geht es heute nicht.
Ihr müsstet meinen Vater selber
sprechen.
Der ist aber jetzt nicht zu erreichen.
Kommt doch später noch mal wieder,
In zwei Wochen oder so. Ja?
Die Jugendlichen stehen ziemlich ratlos im
Zimmer.
Herr Doktor Z.sen. kommt herein.
Dr.Z.sen.: Lass man gut
sein, Junge.
Dr.Z.jr.: Also, Vater!
Dr.Z.sen.: Ist ja gut. Ich mach‘ das
schon.
Ich mach das schon.
Die jungen Leute haben schließlich
Irgendwo das Recht zu fragen.
Also schießt mal los.
Herr Dr.Z.jr. ab.
1.Jug.: Guten
Tag.
Wir war‘n bei Doktor Y. Der hat uns...
Dr.Z.sen.: Das ist doch der Sohn, nicht wahr?
Vom Sohn könnt ihr natürlich nichts
Genaues hören.
Der hat uns ja grade angerufen.
Ihr macht ein Projekt?
Die ganze Schule?
1.Jug.: Nur
die Klasse.
Dr.Z.sen.: Find ich toll. Ist auch
egal.
Der Sohn weiß nichts.
Sein Vater hat bei mir
Das eine oder andre Mal die Tasche
abgestellt.
Das war so ziemlich alles.
Zwischen uns Kollegen war das üblich.
Mehr war nicht.
Wir haben kaum ein Wort gewechselt.
„Guten Tag“ und „Guten Weg“, mehr
nicht.
1.Jug.: Gab‘s
irgendetwas über‘s Lager?
Hat er Ihnen etwas anvertraut?
Was er gesehen hat, zum Beispiel?
Aus dem Lager?
Dr.Z.sen.: Wisst ihr, so vertrauliche
Gespräche
Haben niemals existiert.
Ich sag‘ euch, wie es war:
Nicht mehr, als „Guten Tag“ und „Guten
Weg“.
Und überhaupt, vom Lager weiß ich
nichts, gar nichts.
Ich müsste wirklich lügen,
Wenn ich etwas wissen wollte.
Keine Kenntnis.
Nein, vom Lager hatte ich persönlich
Keine Kenntnis.
2.Jug.: Doktor
Y., der Sohn, sagt aber..
Dr.Z.sen.: Kann der gar nicht wissen,
wirklich nicht.
Der irrt sich. Muss sich irren.
Was ich weiß, weiß ich genau,
Und das ist über diese Sache nichts,
Rein gar nichts, tut mir leid.
1.Jug.: Das
ist sehr schade.
Dr.Z.sen.: Na, nun lasst man nicht die
Köpfe hängen.
Also, wenn ihr schreibt,
Dürft ihr natürlich niemals
Meinen Namen nennen. Niemals.
Geht doch mal zu…
Herr Dr.Z.sen. flüstert der 1.Jug. etwas ins
Ohr.
Dr.Z.sen.: Ja, da geht mal hin.
Und
sprecht mit...
Er flüstert wieder.
Dr.Z.sen.: Das weiß ich genau.
Der stand dem alten Y. sehr nahe.
Sehr, sehr nahe.
Da versucht es mal.
Mich lasst ihr aber raus.
Erwähnt mich nicht und meinen Namen
nicht!
Ihr dürft um Gottes Willen
Meinen Namen nicht erwähnen.
Das versprecht ihr mir?!
3. Akt, 3. Bild. Schiff der Hoffnung?
Die Küche. Mitten in der Küche steht ein
Schwarzhemd mit
einem Rutenbüschel im Arm. Das stellt er mit
der
Axt in eine große Bodenvase.
Schw.: Das
kann in die Vase.
Er nimmt sein Koppel ab. Er haucht darauf,
poliert es und liest, was auf dem Schloss
steht.
Schw.: Gott
mit uns!
Mit uns ist Gott.
Gott ist mit uns,
Weil er uns unsertwegen schuf.
Durch die Rückwand der Küche fährt nun ein
Segelschiff,
als Symbol der Hoffnung. Darauf steht ein
Offizier der
Besatzungsmacht.
Schwarzhemd und Offizier sehen sich
anscheinend nicht.
Off.: Wer
will uns Lügen strafen.
Wer will uns, die Retter, Lügen
strafen.
Wer behauptet denn,
Dass wir, die Rettungsmacht, zu wenig
wussten?
Schw.: Wir
entstanden aus uns selbst.
Wir sollen und wir wollen Rassen
trennen.
Juden, Polen, Russen und Zigeuner
Sind die Spreu im Weizen.
Off.: Im
Prozess war alles offen.
Jeder konnte alles sagen.
Über hundert Zeugen haben wir befragt.
Die stammten alle aus dem Lager.
Konnten die das nicht mehr wissen?
Gab es etwas Schreckliches,
Das die ganz einfach nicht mehr wissen
konnten?
Gibt es eine Norm des Schreckens?
Pause.
Off.: Wir
sind die Besatzungsmacht
Und haben die Befreiung ausgerufen
Und befreit.
Wir fragen die Befreiten nach der
Wahrheit,
Dass sie andere damit befreien,
Oder anderen die Schuld zuweisen.
Schw.: Die
und alle Sozis
Und die Kommunisten werden wir
vernichten.
Ihre Arbeitskraft soll nützen.
Uns! Uns soll sie nützen.
Wenn es nicht mehr geht,
Soll‘n sie sich selbst nicht stützen
können!
Wir zertreten sie.
Off.: Wir
sind im Schiff der Hoffnung angekommen.
Jede Einzelheit ist von uns
Aufgenommen worden.
Unser Arm reicht bis nach Sasel,
Außenstelle Neuengamme.
Unsre Fragen geh‘n an hundert
Insassinnen.
Hundert Frauen, die hier waren, fragen
wir:
Wer starb in diesem Arbeitslager
Und warum, woran?
Schw.: Wir
sind das Herrenvolk.
Das ist der Grund. Wir Arier sind der
Grund.
Die anderen sind minder zu bewerten.
Wir bewerten. Wir sind Maßstab.
Nur die Juden haben Schuld am Krieg,
An der Zerstörung durch die Bomben.
Diesen Schaden haben sie uns wieder gut
zu machen.
Off.: Wir,
die Offiziere, haben alles aufgenommen.
Wir, die Offiziere führen Protokoll.
Wir Offiziere fassen jetzt zusammen,
Alles, was man uns berichtet hat.
Das ist, obwohl es schlimm ist,
Nicht sehr viel.
Schw.: Wir
sind am Leben, um zu siegen.
Siegen, selbst im Untergang,
Denn „Gott mit uns“
Mit uns ist Gott.
Das Volk versteht das nicht.
Das Volk muss man verstehen lehren,
Bis es schließlich so versteht,
Wie wir verstehen.
Volk muss man Vertrauen und Gehorsam zeigen,
Auch im Untergang.
Vertrauen heißt:
Vertrauen ins System,
Und das beherrschen wir.
Wir sind fürs Volk, Vertrauen und
System.
Das Volk versteht das nicht.
Dafür verstehen wir es.
Wir verstehen auch das Volk und seine
Angst
Und seine Abgestumpftheit.
Der Offizier liest jetzt aus seinem
Protokoll.
Off.: Dieses
Lager existierte.. äh,…äh...
In diesem Lager...
In den Monaten des Existenz des Lagers…
Frau I. kommt herein mit der Totenliste aus
Bergstedt in der Hand.
Off.: Starben
drei Personen.
Frau I.: Eine Liste!
Sehen Sie, ich hab‘ noch eine Liste.
Die lag unter einem Stein in Bergstedt.
Eine Totenliste! Das ist eine
Totenliste!
Hören Sie, die darf man nicht
vergessen.
Schw.: Gott
mit uns!
Mit uns ist Gott.
Gott sieht uns vor
Und sieht vor uns
Und ist uns Vorsehung.
Frau I. irrt hin und her.
Off.: Nach
diesen Protokoll
Starb die Insassin, Frau Helene D.
Es wurde ausgesagt,
Dass die Bewacherinnen L. und U.
Die Frau gequält, misshandelt haben.
Später haben sie sie aufs „Revier“
gebracht.
Herr Doktor K. ist dort als Sanitäter
Ausgewiesen.
Der kam nur routinemäßig über Sasel.
Mehr ist nicht bekannt.
Frau I.: Wir wissen heute mehr, viel mehr!
Die Liste, hier, die Liste!
Off.: Demnach
soll sie Morphium
Und Luminal bekommen haben.
Damit spritzte man die Frau vielleicht
zu Tode.
Nach zehn Tagen starb sie.
Frau I.: Meine Liste!
Ich komm‘ spät damit, ich weiß!
Off.: Zum
zweiten starb Adele E., die Polin.
Man schlug sie brutal zusammen.
Zwei der Wache sollen es gewesen sein.
Danach erlag sie ihren inneren
Verletzungen.
Sie starb genauso wie Helene D. auf dem
„Revier".
Zum Dritten und zum Letzten wissen wir
Vom Tod der Insassin Frau Sledzik.
Die litt unter TBC und starb auf dem
Transport
Von hier nach Bergen-Belsen,
Wohin man sie „evakuierte“.
Frau I.: Das sind längst nicht alle.
Meine Liste! Meine Liste!
Die ist neu, nein alt!
Die ist von jetzt, nein eben nicht.
Die ist noch aus der Zeit.
Die müssen Sie noch lesen.
Die gehört dazu.
Das sind noch längst nicht alle.
Off.: Damit
ist die Untersuchung abgeschlossen.
Schwarzhemd nimmt sein Rutenbüschel.
Schwarzhemd und Offizier mit dem Segelschiff
ab.
Frau I.: Der nimmt sie nicht.
Der gibt sich so zufrieden.
Und der andre ist mit sich zufrieden.
Gott im Himmel.
Diese Liste ist doch wahr.
Die reine Wahrheit steht auf ihr.
Wie soll er sie auch nehmen können.
Int‘ressiert nicht mehr. Vorbei.
Ich habe fünfunddreißig
Namen, Nummern, Unbekannte...
Alle tot.
Man kann kein Protokoll zurück
In die Verhandlung reichen.
Ist zu spät, vorbei!
Das musst du einseh‘n.
Alles abgeschlossen.
Zehnmal so viel Tote als der sagt, noch mehr.
Ein Dokument, nur noch ein Dokument?
Nicht einmal gut genug für einen
Nachtrag
In das Protokoll?
Vorbei? Für alle Zeiten?
3. Akt, 4. Bild. Ein langer Schlaf
In der Küche. Herr X kommt herein und geht
zum Telefon.
Er wählt und wartet.
Herr X.: Ja, hier X. Verwaltung Friedhof Bergstedt.
Bergstedt, Ja.
Verbinden Sie mich bitte mit dem
Außenlager Sasel.
Richtig, über Neuengamme.
Sasel bitte,
Ja, mit jemandem, der dort das „Sagen“
hat.
Ich warte, danke.
Kleine Pause.
Herr X.: Hören Sie, hier X vom Friedhof Bergstedt.
Heute ist der 21. April.
Sie haben Tote hergefahren. Ohne jeden
Zettel.
Ohne alles.
Das soll‘n sicher wieder
Wohlfahrtserdbestattungen…
Das weiß ich nicht.
Das dürfen wir auch nicht.
Wir brauchen die Papiere. Alles, was
dazu gehört.
Für jeden Toten.
Sind nur Frauen hab‘ ich festgestellt.
Und noch eins. Warten Sie.
Wie soll ich die begraben?
Und ich weiß nicht wo.
Trotzdem, auch wenn Sie die Papiere
schicken.
Nein, so geht das wirklich nicht.
Am Wagen? Eine Liste?
Ja, die hing daran.
Das soll doch wohl nicht alles sein.
Die sind noch auf dem Wagen.
Ja, gestapelt.
Weiter nichts.
Sie haben keine Särge mitgeschickt.
Und hören Sie.
Wir brauchen Leute, die die Gruben
graben.
Also, ich bin ganz allein. Ich kann das
nicht.
Ich kann da überhaupt nichts machen.
So? Das geht? Jetzt gleich?
Dann kommen Frauen rüber, die das
machen?
Gut. Wenn die das machen.
Nein. Woher soll ich wohl Särge nehmen.
Aus der Gegend?
Hier gibt‘s höchstens Stroh vom Bauern,
Weiter nichts.
In Ordnung. Nehm‘ ich Stroh.
Ist immer noch ein wenig besser,
Als die nackte Erde.
Ja, ich frag‘ die Bauern.
Kenne alle. Ja, die machen das.
Hinter Herrn X. geht die Tür auf. Es
erscheinen drei Frauen.
Ganz normal gekleidet, mit Schürzen. Auch die
Haare sind gepflegt.
Herr X.: Moment, ich leg‘ gleich auf.
1.Frau.: Wir sind von Lager,
Sind Sie nicht Herr X.?
Wir soll‘n uns melden.
Herr X.: lhre Frauen sind schon hier.
Das ging ja schnell, sehr schnell.
1.Frau.: Hier, die Bescheinigung vom Lagerarzt.
Die brauchen Sie für die Verstorbenen.
Herr X.: Ist gut, wir fangen an.
Auf Wiederhören.
Herr X. zu den Frauen:
Herr X.: Sie woll‘n helfen?
1.Frau.: Ja, warum denn nicht?
Herr X.: Ich dachte, man würd‘ Frauen aus dem Lager schicken.
Wissen Sie,
Da müssen Gräber ausgehoben werden.
2.Fr.: Wissen
wir.
Wir sind auch aus dem Lager.
Herr X.: So? Sie sind doch niemals aus dem Lager.
Gut frisiert und so.
Er riecht an ihnen
Herr X.: Und Seife habt ihr auch, verdammt noch mal.
1.Fr.: Wir
haben sie auch mitgebracht.
Wir müssen uns doch waschen können, oder?
Herr X.: Und die Kleider und die Schürzen...
Alles proper, alles proper, proper.
Er klopft einer auf den Hintern.
Herr X.: Proper, proper..
Mensch, ich müsste euer Lagervize sein.
Die Frauen lachen.
Herr X.: Na, soll mir auch egal sein.
1.Fr.: Und?
Wo steht denn das Klavier.
Herr X.: Ich komm mit raus.
Ich zeig‘ euch, wo ihr graben könnt.
In den Klamotten…
Viel zu schade..
Ach, wer hat denn die Bescheinigung?
Die muss ich erst mal lesen.
Nimmt den Zettel.
Herr X.: Wieder alles Nummern.
Gibt‘s denn keine Namen?
Hab‘n die keine Namen?
Sind die alle namenlos?
Was ist denn das für‘n Quatsch!
Der will mich wohl verscheißern?!
Was ist das...
Er greift zum Telefon und wählt.
Herr X.: Hier X noch mal.
Den Lagerarzt.
Dann wart‘ ich eben!
1.Frau drückt die Hand ganz sachte auf
die Gabel.
1.Fr.: Der
ist jetzt nicht da.
Er hat uns das erklärt.
Herr X.: Was hat er euch erklärt! Was denn!
1.Fr.: Den
Grund, warum, die tot sind.
Desweg‘n rufen Sie doch an.
Herr X.: Das hat er euch erklärt?
1.Fr.: Wir
war‘n dabei.
Sie werden‘s selber seh’n:
Die toten Frau‘n sind völlig
unverletzt.
Herr X.: Und tot.
1.Fr.: Der
Grund ist innerlich.
Wir war‘n dabei.
Wir sind schon länger in dem Lager,
Aber das hab‘n wir noch nicht erlebt.
Vor zwei, drei Tagen sind die
angekommen,
Wurden überführt.
Die haben uns erzählt,
Wie schlecht das Essen während ihrer
Überführung war,
2.Fr.: Die
wurden praktisch nicht ernährt.
1.Fr.: Die
sagten: sehr, sehr dürftig.
Als sie angekommen sind..
2.Fr.: Gleich
wie die Tiere auf das Essen..
1.Fr.: Wie
die Tiere.
Ich hab‘ das noch nie geseh‘n,
So sind die über‘s Essen hergefallen.
Alle Frauen: Ja, wir haben zugesehen: Wie die Tiere.
Mit den Händen haben sie sich
vollgestopft.
Nur immer rein, nur immer rein.
Mit beiden Händen!
Soviel Gier hab‘ ich noch nie erlebt.
Die hörten gar nicht wieder auf zu
fressen.
Wie im Fieber waren die.
Die hab‘n sich einfach überfressen
Alle Frauen: Überfressen.
Keine konnt‘ es glauben.
Denen ist der Magen überspannt.
Das hat der nicht vertragen.
Überspannt, sag‘ ich,
Und dann geplatzt. Bei allen.
So hat‘s uns der Lagerarzt erklärt.
Wir hätten uns das nicht erklären
können.
Herr X.: Kann doch gar nicht sein.
Das gibt‘s doch nicht.
1.Fr.: So
steht‘s doch auch auf der Bescheinigung,
Nicht wahr?
Herr X.: Ich kann‘s nicht glauben.
Also, dass es sowas geben soll.
Ich bin kein Arzt.
Das sag‘ ich euch:
Ich seh‘ mir jede von den Toten einzeln
an.
1.Fr.: Das
sollten Sie. Auf jeden Fall.
Herr X.: Nun kommt.
Ich zeig‘ euch,
Wo ihr sie begraben könnt.
Schön tief!
Und denkt ans Stroh.
Das bringt nachher ein Bauer.
Den ruf‘ ich noch an.
Alle ab. In selben Augenblick kommt ein alter
Mann herein.
Mit ihm die drei Jugendlichen. Es ist der Propst
H.P. (Pr.)
Er setzt sich auf einen Stuhl.
Pr.: Ich
bin jetzt über achtzig.
Wisst ihr, was das heißt?
Natürlich nicht. Natürlich nicht.
1.Jug.: Wir
würden gern ein Tonband laufen lassen,
Stört Sie das?
Pr.: Nein,
gar nicht. Läuft es schon?
2.Jug.: Ja,
alles drauf.
Pr.: Was
ich gesagt hab‘?
2.Jug.: Ja.
Pr.: Dann
lass‘ mal hören.
Spul mal ab.
Ich möchte meine Stimme hören,
2.Jug.: Gut.
Das ist zwar noch nicht viel.
Pr.: Das
macht doch nichts.
Tonband: Ich bin jetzt über achtzig.
Wisst ihr, was das heißt?
Natürlich nicht. Natürlich nicht.
Wir würden gern ein Tonband laufen lassen,
Stört Sie das?
Nein, gar nicht. Läuft es schon?
Ja, alles drauf.
2.Jug.: So,
jetzt geht‘s weiter.
Propst zum Tonband.
Pr.: Ich
bin der Propst H.P.
Ich bin schon über achtzig.
Alles drauf?
2.Jug.: Ja,
alles drauf.
Das geht ganz automatisch.
Pr.: Meine
Stimme klingt ganz gut.
1.Jug.: Doch.
Für Ihr Alter ist das sehr, sehr gut.
2.Jug.: Wie
woll‘n wir‘s halten.
Woll‘n Sie uns erzählen,
Oder dürfen, soll‘n wir fragen?
Pr.: Also,
meine Lieben, liebe Jugendliche.
Meine große Achtung gilt den
Jugendlichen,
Die sich den Besitz - Erinnerung -
Nicht rauben lassen wollen.
Meine große Achtung.
Kürzlich hörte ich jedoch auch einen
and‘ren Satz:
Erinnerung an diese Dinge
Ist der Tod für diese Dinge,
Weil das Wissen um sie leben muss.
Und das ist mehr, ist viel, viel mehr,
Als sich daran erinnern.
Leben muss das Wissen um die Dinge.
3.Jug.: Das
ist gut.
Pr.: Ihr
dürft mich nun nicht dauernd unterbrechen.
Also.
Daher bin ich davon überzeugt,
Dass das Bezeugen, wie es hier
Zum Tonband..
Pr.: Wie
es hier geschieht,
Mehr ist, als alle Fragen.
So kann man die Jugendlichen
In die Welt von damals führen.
Unter diesen fürchterlichen Leuten
Starb man damals schnell.
Na, ich bin nun schon über achtzig
Jahre alt,
Was will man mehr.
Gott hat mich nicht vergessen.
Also. Ich bin alt.
Gewiss, ich muss mich jener Zeiten
schämen.
Ja, ich muss mich schämen.
Und ich schäme mich der Zeiten,
Meine Zeit war auch dabei.
Ich bitte Gott, ich bitte jetzt mein Gott,
Bewahre mich davor,
Und ich, ich will mich selber hüten,
Nachträglich noch am Geschehen
Irgendwelche Korrekturen vorzunehmen,
Um vielleicht das Bild ein wenig
Aufzuhellen.
Gott bewahre mich davor.
Ich habe bis zum 21. April des Jahres
1945
Von Kommando Sasel nichts gewusst.
3.Jug.: Das
kann doch gar nicht sein.
1.Jug.: Nun
unterbrich ihn nicht.
Wenn er das sagt,
Dann wird‘s wohl stimmen.
3.Jug. zur Seite.
3.Ju.: Achtzig
Jahre. Nur nichts korrigieren.
Pr.: Hängt
vielleicht damit zusammen,
Dass ich hauptamtlich in Volksdorf war,
Und die Gemeinden, Sasel, Bergstedt
Kannte ich nicht so genau.
Das hängt bestimmt damit zusammen.
3.Ju.: Sicher.
Pr.: Daher
kann ich über all die Menschen
Die ganz nah am Lager lebten,
Keine Auskunft geben.
Was ich meine, ist zum Beispiel,
Wie sie sich den Insassinnen gegenüber
Ausgenommen haben, wie sie sich
verhalten haben.
Ich sprech‘ nur von mir
Und was ich weiß.
1.Jug.: Sie
hatten damals die Verwaltung inne,
Stimmt das?
Pr.: Ja,
das stimmt.
Der Friedhof Bergstedt war in der
Verwaltung
Der Gemeinden Bergstedt, Ohlstedt,
Volksdorf, Poppenbüttel, die mir
unterstand.
Es ist ganz richtig, dass ich damals
die
Verwaltung dieses Friedhofs hatte.
Nun zurück zum 21. April.
Ein Wagen fuhr an diesem Tag
Ganz ohne Vorankündigung und
Ohne jede Voranmeldung auf den
Friedhof.
Darauf lagen Tote.
So, als Ladung auf der Fläche. Tote
Frauen.
2.Jug.: Wissen
Sie denn noch, wie viele?
Pr.: Ja. Es waren zwölf.
Das heißt, das weiß ich nicht.
Ich weiß es jetzt nicht mehr.
Das hab‘ ich eurem Brief entnommen.
Ja, es waren zwölf. Es waren Jüdinnen.
Die Anzahl ist ja im Register
nachzuprüfen.
Ins Register werden alle eingetragen,
wisst ihr?
Na, das könnt ihr noch nicht wissen.
Mir fiel auf,
Dass diese Wagenladung
Und die Weise ihrer Überstellung
Größte Unbarmherzigkeit,
Unmenschlichkeit,
Brutalität, ganz deutlich zeigte.
Ja, ich war schockiert.
Die Leichen waren nackt, gestapelt.
Wie man Vieh anschleppt
Das irgendwo verendet ist.
Mit diesen Toten kamen wenigsten
Noch ein paar Namen.
Später hat man nicht mal das gemacht.
Die danach kamen,
Hatten nur noch Häftlingsnummern.
1.Jug.: Und
was haben Sie gemacht?
Pr.: Ja,
was hab‘ ich gemacht.
Es hieß, sie seien auf dem Treck,
Auf dem Transport gestorben,
Und man gab auch Gründe an.
Erschöpfung.
Überanstrengt seien sie gewesen.
Kleine Pause,
Pr.: Nicht
vergessen:
Bis zum 21. April wusst‘ ich von Sasel nichts.
So hielten wir die Gründe
Wenigstens für möglich.
Überall sprach man von der Verlegung
Irgendeines Lagers aus dem
Kriegsgebiet.
Das kam natürlich auch in Frage.
Unsre Zweifel an der Wahrheit
Waren nur von kurzer Dauer.
Was wir später sahen, nahm uns jede
Illusion.
Die neuen Leichenüberführungen,
Die danach kamen...
Die belehrten uns schnell eines
anderen.
3.Jug.: Was
war denn nun mit denen auf dem Wagen.
War‘n die umgebracht,
Erschossen worden, oder was?
Pr.: Du
fragst zu Recht.
Wir haben uns das auch gefragt.
Wir waren aber keine Mediziner,
Und wir konnten das nicht klären.
Offensichtlich war jedoch
Unmenschlichkeit am Werk.
1.Jug.: Und
dann? Was wurde dann gemacht?
3.Jug.: Die
sind noch auf dem Wagen.
Pr.: Kinder,
seht mich an.
Ich bin ein alter Mann
Und heute schäm‘ ich mich.
Was war zu tun?
Mich überfiel beim Anblick dieser
Menschen
Eine ungeheure Traurigkeit.
Ja, Traurigkeit und Trauer.
Völlig hilflos stand ich vor den Toten.
Ich war derartig gelähmt,
Das ist mir leider oft in meinem Leben
so gegangen,
Dass ich gar nichts unternehmen konnte.
So bin ich als Mensch.
Ein Mensch, mehr nicht.
Ganz hilflos und ganz ratlos.
Was blieb mir zu tun.
Vor Gott sind wir doch alle
Schwestern, Brüder.
Was uns einig, ist die große
Brüderlichkeit.
Die entsteht am schnellsten in der Not.
Ich wollte brüderlich zu meinen
Schwestern sein.
Sie sollten nicht in einem
Massengrab verschwinden
Und nicht abseits ruhen.
2.Jug.: Wie
denn das.
Was
konnte man denn tun für sie.
Propst ganz schlau..
Pr.: Wir
betteten sie zwischen uns‘ren Reih‘n
In Einzelgräbern,
So, dass Einheimische und Gefang‘ne
Abwechselnd begraben waren.
Propst ganz schlaff.
Pr.: Das
war leider falsch.
Ein großer Fehler. Glaubt mir.
Ganz bestimmte Kreise leisteten mir
plötzlich
Ungeheuren Widerstand.
Sie protestierten, als sie das
erfuhren!
„Unsre Toten neben denen?
Neben, Jüdinnen? Niemals! Niemals“!
So schrien die rum und schlimmer.
3.Jug.: Und,
was nun?
Propst verfällt in Schläfrigkeit.
Pr.: Ach,
Kinder schaltet jetzt
Den Kasten bitte ab.
Ich bin sehr alt.
Ihr wisst doch, über achtzig.
Über achtzig.
Weiter weiß ich nichts.
Kann nichts mehr sagen.
Mein Erinnerungsvermögen hat sehr
abgenommen.
Pr. noch einmal zum Tonband:
Pr.: Schalt
das Ding doch noch mal an:
Den Jugendlichen...
Meine Grüße gelten nun der Jugend,
Dass sie wissend werden möge.
Der Propst schläft ein.
3. Akt, 5. Bild. Die Obrigkeit hat gratuliert
Küche. Die drei Jugendlichen zum
Publikum.
1.Jug.: Nur
allein in Hamburg gab es 13 oder 14
Außenstellen.
Der Bestand belief sich auf 10.000
Menschen.
Den erneuerte man unentwegt.
2.Jug.: Da
drüben, Ecke Aalkrautweg und...
Ach, ich weiß nicht, wie die Straße
heißt,
In Sasel,
Haben wir den Stein zum Schluss
errichtet.
3.Jug.: Wir,
die Oberschüler und die Schule.
Von der Obrigkeit natürlich keine Spur.
1.Jug.: Die
fand das aber gut.
3.Jug.: Wie
fein.
1.Jug.: Die
hat auch gratuliert.
3.Jug.: Fein,
fein.
Der Stein ist Mahnung.
Mahnung ist der Stein,
Und Mahnung ist Gedenken.
Doch Gedenken wird Versteinerung,
Wenn es nicht lebt.
1.Jug.: Und
Leben wird Versteinerung,
Verweigert es Gedenken.
2.Jug.: „Die
Würde des Menschen ist unantastbar“,
Heißt es.